Lenin-Ordensträger Lyssenkos Lehre lebt – in der Flora verworfen, in der Fauna bestätigt. Von unserem Gastautoren Ronald Milewski.
Am 20. November 1976 starb Trofim Denissowitsch Lyssenko, sowjetischer Agronom und Biologe, siebenfacher Träger des Leninordens, von Stalin gefördert, von Chruschtschow verjagt. Verjagt wegen zahlreicher Missernten, die ihm angelastet wurden, wegen Forschungsergebnissen, die der Fälschung bezichtigt wurden, und wegen seiner Lehre, des Lyssenkoismus, einer späten Form des Lamarckismus. Dieser zur Folge können Erbeigenschaften durch Umweltbedingungen bestimmt in der Lebenszeit erworbene Eigenschaften vererbt werden. Lyssenko, der einer ukrainischen Bauersfamilie entstammte und erfolglos antrat, die Ernährungsprobleme der frischgebackenen Sowjetrepubliken durch nachhaltige Zuchterfolge an Getreidesorten zu lösen, musste mit ansehen, wie 1934 ausgerechnet ein Kolchosbauer wegen der grassierenden Hungersnöte Schüsse auf den Leichnam Lenins abgab. Sein Forschungsansatz wurde später vor allen Dingen im Westen als ideologisch motiviert verurteilt. Für die Verbannung von Kritikern in Straflager soll er zumindest mitverantwortlich gewesen sein.
Aktuell stehen die Zeichen tief im Westen auf Rehabilitation des Stalingünstlings: Frühkindliche Erlebnisse von Vernachlässigung, körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch wirken laut Forschungsteams an der Universität Zürich und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich drei Generationen lang. Entsprechende Ergebnisse haben die Forscherteams unlängst in der Zeitschrift „Biological Psychiatry“ veröffentlicht. Die ForscherInnen behaupten, dass traumatische Erlebnisse in Kindheit und Jugend nicht nur zu Verhaltensauffälligkeiten bei der betroffenen Person sondern auch bei deren Nachkommen führen. Wirkmechanismus seien dabei nicht Mutationen auf den Genen sondern die durch Umwelteinflüsse erzeugte Methylierung, die die Aktivität von Genen beeinflusst bzw. Gene, günstigstenfalls solche mit ungünstigem Effekt, ganz abschaltet. Auf diesem Weg prägen den Forschungsergebnissen zur Folge soziale Faktoren aber auch körperliche Aktivität den Genpool . Karma, ein wenig anders als gewohnt, aber immerhin naturwissenschaftlich belegt.
Hatten Lamarck und Lyssenko somit doch Recht mit ihrer Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften? Immerhin werden die bahnbrechenden Forschungsergebnisse eines Cyril Burt, der mit seinen Untersuchungen an Zwillingspaaren parallel zu Lyssenko auf westlicher Seite eindrücklich die Vererblichkeit von Intelligenz und Persönlichkeitszügen belegte und dafür 1946 zu Beginn des Kalten Krieges in den Adelsstand erhoben wurde, spätestens seit seinem Tod 1971 gleichfalls der Fälschung bezichtigt. Alles Ideologie oder was – egal ob diesseits oder jenseits des Eisernen Vorhangs? Auf jeden Fall eine typische Auseinandersetzung in der Moderne, geprägt durch ein Denken, das nur entweder oder, schwarz oder weiß, hopp oder topp kennt.
Ganz anders geriert sich nun Forschung in der Postmoderne. Deren Credo prägt ein wohltuendes sowohl als auch: Gene beeinflussen und können vererblich beeinflusst werden. Dabei helfen schon frische Luft, körperliche Bewegung und eine veränderte Kost. Das Zauberwort heißt Epigenetik. Der SPIEGEL widmete diesem Forschungszweig in der Biologie immerhin seine Titelgeschichte in der Ausgabe 32/2010. Die Argumente folgen neuesten Forschungsergebnissen und lauten:
– Der Lebensstil verändert die Biologie.
– Äußere Einflüsse können Gene chemisch verändern.
– Neben dem Inhalt der Gene trägt das Erbgut eine übergeordnete Ebene von Informationen.
– Die epigenetischen (auf den Genen liegenden und durch Erfahrung beeinflussbaren) Mechanismen steuern das Verhalten der Gene.
– Babys, die von der Mutter (!) liebevoll gestreichelt wurden, sind als Erwachsene gegen Stress gefeit.
– Menschen, die meditieren, verändern die Architektur ihres Gehirns. Heimkinder, die in eine Adoptionsfamilie kommen, blühen auf.
– Eineiige Zwillinge können in ihrem Verhalten grundverschieden sein.
– Epigenetische Informationen werden von den Zellen sogar auf die Tochterzellen weitergegeben – der Körper hat ein Gedächtnis.
– Das Körpergedächtnis kann allerdings verblassen. Epigenetische Inschriften sind löschbar.
Während Lyssenko sich mehr für die Flora interessierte, beziehen sich diese Erkenntnisse auf die Fauna und könnten – ernst genommen – unmittelbar Auswirkungen auf Psychotherapie, Schul- und Bildungspolitik haben. Die Züricher Forschungsergebnisse wurden indes an Mäusen gewonnen. In typischer Weise traumatisierte, nämlich über einen definierten Zeitraum unvorhersehbar von ihrer Mutter (!) getrennte Jungmäuse entwickeln im Erwachsenenalter deutliche Verhaltensänderungen in Richtung depressiver Hilflosigkeit respektive Verlust der Impulskontrolle. Das eigentlich überraschende Ergebnis der Studie ist jedoch, dass die Tiere ihre Verhaltensstörungen an ihre Nachkommen vererben. Stress, so zeigen die Forschungsergebnisse verändern das so genannte Methylierungsprofil bestimmter Gene im Gehirn und in den Spermien männlicher Mäuse.
„Die Symptome, welche die gestörten Mäuse zeigten, sind auch in Borderline- und Depressions-Patienten sehr prominent vorhanden“, sagt Isabelle Mansuy, die Leiterin der Arbeitsgruppen an den Züricher Forschungsinstituten.
„Was tun?“ könnte man nun mit Lenin fragen. Isabelle Mansuy möchte die Untersuchung an Mäusen auf Menschen ausdehnen, um an Hand von „Gewebeproben von Personen und ihren Nachkommen mögliche Methylisierungskandidaten unter den Genen herauszufinden“. Sie ist sich sicher, auch im menschlichen Gewebe Methylierungen zu finden, Methylgruppen bestehend aus einem Kohlenstoff- und drei Wasserstoff-Atomen – angehängt an spezifische Gene.
Zu befürchten ist, dass sich auf dieses Forschungsvorhaben nun – komfortabel ausgestattet mit Forschungsgeldern – Heerscharen und Generationen von ForscherInnen stürzen, die alsbald den Ausgangspunkt in der Erkenntnis der Herstellbarkeit von Methylierung durch Umwelteinflüsse vergessen und in herkömmlicher Interpunktion des gewohnten Denkens in Ursache und Wirkung ebendiese methylierten Gene zum Verursacher von Depression, Borderline-Störung und Intelligenz-Defiziten erklären – also einmal mehr beim physiologischen Pol andocken.
„Was tun!“ könnte dagegen frei nach Sloterdijk und seiner aktuellen Programmatik vom sich übenden Menschen ein Forschungs-Credo lauten, das seinen Schwerpunkt auf die Erforschung derjenigen Lebensweisen legt, die die ungünstige Programmierung wieder aufheben oder gar nicht erst aufkommen lassen. In Anlehnung an eine Marxsche Feuerbach-These könnte die Maxime lauten: „Die Physiologen haben die (Mikro-)Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an,
sie zu verändern.“