Jeder von uns kennt so jemanden. Nette, freundliche Menschen, die allseits beliebt sind, viele Freunde haben und in einer glücklichen Beziehung leben. Da diese Menschen nicht dazu neigen, sich selbst all zu sehr in den Vordergrund zu stellen, kommt erst einige Zeit nach dem Kennenlernen zufällig die Rede darauf, wie sie aufgewachsen sind. Und auf einmal kommen wahre Horrorgeschichten ans Licht: Als Kind ungewollt, von der Mutter vernachlässigt, vom Vater geschlagen, ein Elternteil früh verstorben oder nie kennen gelernt, Alkoholprobleme in der Familie und ähnliches. Erstaunt reibt man sich die Augen und fragt sich: Wie hat es dieser Mensch unter diesen Bedingungen geschafft, zu einem für andere so angenehmen Zeitgenossen zu werden? Warum wurde er/sie nicht drogenabhängig, kriminell und langzeitarbeitslos und ist mehrfach geschieden, so wie andere unter vergleichbaren Bedingungen? Was haben diese Überlebenskünstler, was die Gescheiterten nicht haben? Von unserer Gastautorin Eva Neumann.
Die Psychologie kennt viele Antworten auf die Frage, was Menschen psychisch krank und beziehungsunfähig macht. Wenig umstritten war lange Zeit die Annahme, dass ein Kind, das von den Eltern wenig Liebe und Zuwendung bekommen hat, womöglich sogar Vernachlässigung und Misshandlung ausgesetzt war, im späteren Leben Schwierigkeiten in Beziehungen mit anderen haben wird. Wer als Kind nicht geliebt wurde, der kann als Erwachsener weder sich selbst noch andere lieben, das galt quasi als Naturgesetz. Vor allem in populärpsychologischen Veröffentlichungen wird diese These nach wie vor gern verbreitet.
In der wissenschaftlich fundierten Psychologie bekam dieses Bild in den vergangenen Jahren jedoch Risse. Aus der Bindungsforschung liegen mittlerweile mehrere Studien vor, in denen es nicht gelang zu belegen, dass Beziehungsmuster aus der frühen Kindheit im Erwachsenenalter unverändert fortgesetzt werden. In diesem Forschungsansatz wird zwischen sicheren, ängstlichen und vermeidenden Bindungen unterschieden. Sichere Bindungen sind durch Nähe und Vertrauen gekennzeichnet, ängstliche durch unrealistische Ängste in der Beziehung und das Gefühl eigener Minderwertigkeit, und vermeidende durch Kälte und Distanz. Die neueren Studien haben gezeigt, dass Menschen das Bindungsmuster, das in der Kindheit in der Beziehung zu den Eltern gelebt wurde, nicht unbedingt als Erwachsene fortsetzen. Eine sichere Bindung an die Eltern ist zwar eine gute Voraussetzung dafür, im Erwachsenenalter ebenfalls sichere Bindungen an den Partner und an eigene Kinder aufzubauen, und ängstliche und vermeidende Bindungen sind diesbezüglich eher von Nachteil, doch es gibt viele, die das Bindungsmuster der Kindheit im späteren Leben nicht beibehalten. Wer als Kind sicher an die Eltern gebunden war, hat als Erwachsener nicht immer glatt verlaufende, glückliche Partnerschaften, und umgekehrt gelingt es einem Teil derjenigen, deren Bindung an die Eltern ängstlich oder vermeidend war, die schlechten Erfahrungen abzuschütteln und als Erwachsener glückliche Beziehungen aufzubauen.
Faszinierend und rätselhaft sind die zuletzt genannten. Die Bindungsforschung nennt das Muster, das sie als Erwachsene aufweisen, erarbeitet sicher. Die Bezeichnung ist fast selbst erklärend: Diese Menschen haben das Gefühl von Sicherheit in engen Beziehungen nicht von den Eltern vermittelt bekommen, sondern sie haben es sich selbst erarbeitet. Unter denjenigen, die in der Kindheit eine schlechte Beziehung zu den Eltern hatten, sind sie eine Minderheit. Die meisten setzen leider das fort, was sie selbst als Kinder erlebt haben. Dennoch gibt es immer wieder Menschen, die dieses Schicksal durchbrechen, die als Erwachsene die Liebe suchen und finden, die sie als Kinder entbehren mussten. Zwei aktuelle Studien der Bindungsforschung konnten Antworten finden auf die Frage, was diese Menschen dazu befähigt, trotz widriger Bedingungen in der Kindheit zu psychisch gesunden Erwachsenen mit sicheren Bindungen an andere zu werden.
Saunders und ihre Mitautorinnen (2011) beschäftigten sich mit äußeren Faktoren, die zu erarbeiteter Sicherheit führen können. Sie fanden zwei Bedingungen, die im Leben dieser Menschen häufig erfüllt waren: Bei vielen gab es eine so genannte alternative Bindungsfigur. Das heißt, diese Menschen hatten zwar schlechte Beziehungen zu beiden Elternteilen, doch es gab eine andere Person, die dem Kind emotionale Wärme und Geborgenheit vermittelte. Meistens war dies jemand aus der Familie, zum Beispiel die Großmutter; es konnte aber auch eine andere Person sein, mit der das Kind häufig Kontakt hatte, zum Beispiel eine Lehrerin oder ein Trainer. Es scheint so zu sein, dass es für den Erwerb des Gefühls von Sicherheit in engen Beziehungen reicht, wenn eine Person da ist, die dem Kind dieses Gefühl vermittelt, und diese Person muss nicht die Mutter oder der Vater sein.
Eine weitere Bedingung, die im Leben der erarbeitet Sicheren häufig erfüllt war, bestand darin, dass sie sich psychotherapeutische Hilfe gesucht hatten. Die Psychotherapie war besonders wirksam, wenn es sich nicht nur um eine Kurzzeitberatung gehandelt hatte, sondern um eine Behandlung über einen längeren Zeitraum. Auch wenn die Wirksamkeit von Psychotherapie immer wieder kritisch hinterfragt wird: Diese Methode scheint zu wirken, wenn es darum geht, schlechte Erfahrungen mit den Eltern in der Kindheit aufzuarbeiten.
Erarbeitet Sichere heben sich aber nicht nur durch äußere Faktoren von denen ab, die schlechten Kindheitserfahrungen verhaftet bleiben. Sie haben auch eine andere Art des Fühlens und Denkens in engen Beziehungen. Mit inneren Prozessen, die zu erarbeiteter Sicherheit führen können, beschäftigten sich McCarthy und Maughan (2010). Sie stellten fest, dass Menschen, die schlechte Erfahrungen gut verarbeitet haben, in folgender Weise denken und fühlen: Sie erkennen an, dass es die schlechten Erfahrungen gegeben hat, und ordnen diese angemessen ein. Das heißt, sie sind sich darüber im Klaren, dass sie in der Kindheit eine schlechte Beziehung zu den Eltern hatten. Die Erinnerung daran verdrängen sie nicht, sie lassen sich aber auch nicht davon beherrschen. Sie haben im Umgang mit den Erinnerungen sozusagen einen guten Mittelweg gefunden. Sie erkennen weiterhin an, dass die Beziehungserfahrungen der Kindheit zu ihnen gehören, dass sie zu einem Teil ihres Selbst geworden sind. Schließlich haben sie trotz ihrer negativen Erinnerungen ein positives Bild von Beziehungen, das heißt sie halten enge Beziehungen in ihrem Leben für wichtig und glauben daran, dass sie dort Liebe und Geborgenheit finden können.
Die Botschaften der beiden zitierten Studien sind durchweg positiv. Die Befunde zeigen, dass eine schwierige Eltern-Kind-Beziehung nicht unvermeidbar zu Beziehungsstörungen im späteren Leben führen muss. Eine schwierige Kindheit ist kein Fluch, der nicht mehr abgeschüttelt werden kann. Es gibt vielmehr Wege, die zu glücklichen und erfüllten Beziehungen im Erwachsenenleben führen können. Einer dieser Wege besteht darin, Beziehungsangebote von Menschen, die anders als die Eltern zu Wertschätzung bereit und fähig sind, zu nutzen und auf diese Weise korrigierende, ausgleichende Erfahrungen machen zu können. Auch professionelle Hilfe im Rahmen einer Psychotherapie kann helfen. Schließlich ist es wichtig, sich des Gefühls des Ungeliebtseins in der Kindheit bewusst zu sein, dessen Bedeutung für die eigene Entwicklung anzuerkennen, es aber eindeutig der Vergangenheit zuzuordnen und im aktuellen Leben Vertrauen in nahe stehende Menschen zu haben.
Innovativ an den beiden Studien ist, dass nicht mehr das, was krank macht, im Vordergrund steht, sondern es wird aufgezeigt, wie Menschen unter widrigen Bedingungen Widerstandskraft entwickeln. Es gibt sie eben, die Menschen, die es in der Kindheit schwer hatten, aber weit davon entfernt sind, das, was sie selbst als Kinder erlebt haben, als Erwachsene an andere weiterzugeben. Sie sind vielmehr gute Freunde, liebevolle Partner und fürsorgliche Eltern. Sie setzen sich wohltuend von denen ab, die eigenes Fehlverhalten, wie zum Beispiel rücksichtsloses Verhalten dem Partner gegenüber oder Vernachlässigung von Kindern, mit in der Kindheit selbst erlittenen Traumata rechtfertigen wollen. Erarbeitet Sichere zeigen, dass es möglich ist, ungünstige Beziehungsmuster zu durchbrechen und als Erwachsene ein selbst bestimmtes, glückliches Leben zu führen. Schauen wir uns diese Menschen an. Sie sind stille Helden des Alltags. Von ihnen können wir lernen, was unsere Beziehungen glücklich macht.
Literatur:
McCarthy, G. & Maughan, B. (2010). Negative childhood experiences and adult love relationships: The role of internal working models of attachment. Attachment and Human Development, 12, 445-461.
Saunders, R., Jacobvitz, D., Zaccagnino, M., Beverung, L.M. & Hazen, N. (2011). Pathways to earned security: The role of alternative support figures. Attachment and Human Development, 13, 403-420.