„Als ich das am Freitag zum ersten Mal gesehen habe, konnte ich nicht glauben, dass das die Realität war“, sagt die in Deutschland lebende Japanerin im TV. Von unserem Gastautor Andreas Lichte
Immer wieder rollt die Welle über den Bildschirm. Nimmt alles mit. Es gibt kein Entrinnen. Wenn mir das jemand nur erzählen würde, ich würde es nicht glauben. So wie damals, als ich im Auto sitze, und aus dem Radio kommt: „Ein Flugzeug ist ins World Trade Center geflogen“, und ich denke: „Das ist aber ein eindrucksvolles Remake von Orson Welles’ „Krieg der Welten“! Zu Hause dann die Bilder, und ich versuche panisch einen Freund in New York anzurufen.
Den Bildern muss man doch glauben, oder? Ich tue es. Zum Tsunami fällt mir nur Shakespeare ein:
„Das Leben ist ein Märchen, erzählt von einem Idioten, voller Klang und Wut und es bedeutet: Nichts!“
Trauer. Ein Vorhang wird zugezogen, alles liegt plötzlich hinter einem dunklen Schleier.
Wenn ich Arzt wäre, würde ich mir jetzt vielleicht Anti-Depressiva verordnen. Oder mich gleich in psychiatrische Behandlung schicken: Warum geht mir das so zu Herzen? Das sind doch Fremde, die da gestorben sind, ich kenne niemanden, der unmittelbar betroffen ist. So ähnlich ist es mir schon einmal gegangen: Damals, nach Kobe, als ich nach dem Erdbeben zum ersten Mal wieder bei „meinem Japaner“ bin, und ganz zaghaft frage …
Kobe, das war 1995. Seitdem ist mir mein Japaner zu einem Stück „Heimat“ geworden, besser zu einer Zuflucht: Immer, wenn mir „gar nichts mehr einfällt“, gehe ich hin. Das hilft: Ich tauche ein in eine fremde Welt, die ich schätze, liebe. Neulich hab ich gedacht: „Ist das nicht ein wunderbares Spiel, dieses Japanische Essen – die Stäbchen?“ Hab mich bei der Bedienung erkundigt, ab wie viel Jahren Kinder damit umgehen können: „Meins kann es schon …“ Da hab ich überlegt, ob das nicht auch mal was für Lukas, 3 Jahre, wäre.
Das waren immer glückliche Momente, beim Japaner. In meinem Tagebuch steht: „o shia wa se ni!“ – „Viel Glück!“
Während der endlosen Wiederholung der Tsunami-Bilder wird knapp mitgeteilt, dass sich die im Katastrophengebiet befindlichen Atomkraftwerke wie vorgesehen abgeschaltet haben. Aber dann taucht der erste Experte auf, der erklärt, dass die Kühlung der Reaktorstäbe ausgefallen ist. Ich hatte vergessen, was das bedeutet – wozu sich erinnern, „das kann ja gar nicht passieren!“ – aber jetzt weiss ich sofort wieder, was die unweigerliche Folge ist, ich schreibe in mein Tagebuch: „Warten auf die Kernschmelze“.
Und schaue zum ersten Mal im Internet nach, welche Windrichtung es in Japan gibt.
Samstag. Ein Reaktorblock ist in die Luft geflogen. „Der Reaktorschutzbehälter ist intakt“, kommt gleich die Entwarnung. Ich denke: „Noch.“
Auf dem Weg zum Bäcker. Der schwarze Schleier, immer dichter. Die Leute auf der Strasse geniessen den Sonnenschein, fahren in ihren Cabriolets: „Haben die noch gar nicht verstanden, was in Japan passiert ist?“
Jetzt wird die Japanische Wetterkarte auch im Deutschen Fernsehen gezeigt.
Sonntag. Ich muss mit jemandem über die Katastrophe reden. Aber mit wem? M., meine beste Freundin, würde mich vielleicht verstehen. Ich glaube, da gibt es so was wie eine „Seelenverwandschaft“, man muss gar nicht alles sagen. Im Gegenteil: es fällt mir extrem schwer, ihr meine Gefühle zu verbergen, und meine düstere Stimmung will ich ihr nicht zumuten.