letzte Woche / diese Woche (kw8)

Letzte Woche war ich etwas sprachlos, auch wegen zweierlei: Sahen die Flüchtlinge auf dieser italienischen Insel nicht wie die pro-westliche Internet-Generation aus? Sie haben da mal jemandem hübsch „Revolution“ gemacht und müssen als Speerspitze der Pro-Westlichen nun nach Europa rüber und schicken irgendwann hoffentlich Geld zurück an ihre Familien. Und es ist nicht nur so, dass die herrschende Klasse hier sie nicht nur nicht zwingend in Europa will. Nein, sie braucht genau diese Leute als Stimmen im Nahen Osten. Und dann wurde hier bei den Ruhrbaronen auch noch über freedom of speech z.B. im Internet debattiert… Nun, ich habe letzte Woche viel The Clash gehört, und nicht nur „Rock the Casbah“. Das Wort geht also an Joe Strummer:

Know your rights all three of them

Number 1
You have the right not to be killed
Murder is a CRIME!
Unless it was done by a
Policeman or aristocrat
Know your rights

And Number 2
You have the right to food money
Providing of course you
Don’t mind a little
Investigation, humiliation
And if you cross your fingers
Rehabilitation

Know your rights
These are your rights
Wang

Know these rights

Number 3
You have the right to free
Speech as long as you’re not
Dumb enough to actually try it.

Know your rights
These are your rights
All three of ‚em
It has been suggested
In some quarters that this is not enough!
Well…………………………

Get off the streets
Get off the streets
Run
You don’t have a home to go to
Smush

Finally then I will read you your rights

You have the right to remain silent
You are warned that anything you say
Can and will be taken down
And used as evidence against you

Listen to this
Run

(Ich finde, die Presse deckt heutzutage mehr auf, was einzelne Leserinnen und Leser denken, als dass sie aufdeckt, was z.B. die gewählten Vertreter tun. Oder sie wählt genau dasjenige Tun aus, das für den Fortlauf der Dinge garantiert relativ unwichtig ist – außer für einzelne Politkarrieren höchstens.)

Foto: Jens Kobler (feat. u.a. „The Chelsea Girls“ von Andy Warhol)

„Sport und Politik sind zwei unterschiedliche Welten – wenn es um Israel geht, ist oft das Gegenteil der Fall“

Foto: Assaf Yekuel
Anlässlich des dieser Tage stattfindenden Dubaier Tennisturniers erhielt ich die Gelegenheit, mit der israelischen Spielerin Shahar Peer über ihre diesjährige Teilnahme in Dubai zu sprechen, die nicht nur von der politischen Eiszeit zwischen Israel und dem Emirat überschattet wird. Denn auch aus persönlichen Gründen ist dieses Turnier für die Weltranglistenelfte keineswegs wie jedes andere. 2009 verbot der Turnierveranstalter ihr die Einreise, weil man die arabischen Zuschauer nach dem Gaza-Krieg nicht mit einer israelischen Spielerin „reizen“ wollte. Im Jahr darauf durfte sie zwar wieder teilnehmen, musste aber rund um die Uhr von 25 Bodyguards bewacht werden. Man befürchtete einen antiisraelischen Racheakt wegen eines zuvor in Dubai, mutmaßlich vom Mossad, getöteten Hamas-Funktionärs.

Shahar Peer, Sie haben in den vergangenen Jahren mit dem WTA-Tennisturnier in Dubai alles andere als gute Erfahrungen gemacht. Mit welchen Gefühlen treten Sie dort an?

Dieses Turnier ist für mich angesichts der zurückliegenden Ereignisse durchaus negativ besetzt. Als Profi muss man aber in der Lage sein, alles Negative auszublenden. Ich bin überzeugt, dass mir dies gelingen wird. Deswegen freue ich mich darauf, hier wieder sportlich auf mich aufmerksam machen zu können.

Vor zwei Jahren wurde Ihnen vor dem Turnier die Einreise nach Dubai verweigert. Die Veranstalter sagten damals, man wolle mit Ihrer Teilnahme die arabischen Zuschauer nach dem Gaza-Krieg nicht reizen …

… das war wirklich eine sehr unschöne Geschichte. Sport und Politik sind zwei unterschiedliche Welten, sie sollten nicht miteinander vermengt werden. Wenn es um Israel geht, ist leider oft das Gegenteil der Fall.

Im Jahr darauf durften Sie auf internationalen Druck hin zwar wieder teilnehmen, mussten aber rund um die Uhr von 25 Bodyguards bewacht werden. Man befürchtete einen antiisraelischen Racheakt wegen eines zuvor in Dubai, mutmaßlich vom Mossad, getöteten Hamas-Funktionärs. Wie sind Sie damals mit der außergewöhnlichen Situation zurechtgekommen?

Ich rief mir immer wieder in Erinnerung, dass diese Stimmung gegen mich nicht die Mehrheit repräsentierte. Denn ich erhielt aus der ganzen Welt auch extrem viel Zuspruch. Zudem habe ich versucht, die Situation psychologisch ins Positive zu wenden.

Wie das?

Ich sagte mir: Du wirst vermutlich gerade besser beschützt als Präsident Obama – ideale Bedingungen, um sich einzig und allein aufs Spiel zu konzentrieren!

Es scheint geholfen zu haben. Sie haben hervorragendes Tennis gezeigt und das Finale nur knapp verpasst. Hat diese Ausnahmesituation Sie womöglich sogar stärker gemacht?

Ich möchte diese Umstände nicht noch einmal erleben, aber es stimmt: Die Bedingungen haben mich angespornt. Druck kann lähmen, für mich ist er eine starke Antriebsfeder und lässt mich in der Tat stärker spielen.

Im Unterschied zu anderen Spielerinnen stehen Sie stets vor einer besonderen Herausforderung: Zu Hause erwartet man von Ihnen Siege, im Ausland polarisieren Sie, weil Sie Israelin sind. Ist es zuweilen eine Last, nie nur sich selbst, sondern immer auch den jüdischen Staat und seine Politik zu repräsentieren?

Dass die Israelkritiker bei manchen Turnieren gegen mich demonstrieren, ist mir mittlerweile egal. Und dass sich viele Israelis mit meinen Erfolgen identifizieren, schmeichelt mir mehr, als dass es mich belastet. Ich liebe dieses Land und bin stolz, es auf der ganzen Welt vertreten zu dürfen. Wir sind eine Nation, in dem der Nahostkonflikt zwangsläufig eine große Rolle spielt. Da ist es nur allzu verständlich, dass man sich über jede positive Nachricht freut und am Erfolg des anderen teilhaben möchte.

Andere israelische Prominente wie das Topmodel Bar Refaeli haben sich um den Armeedienst gedrückt. Sie nicht. Darüber versteuern Sie Ihre Einkünfte ganz bewusst in Israel. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Wie fast alle dort möchte ich meinen Teil zum Erhalt dieses Landes beitragen. Man kann nicht nur in den Genuss der Vorteile kommen, man muss die Gesetze achten. Wenn jeder glaubte, für sich eine Ausnahme machen zu können, gäbe es Israel nicht mehr – und das wäre eine Katastrophe.

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst bei der „Jüdischen Allgemeinen“.

NRW-Piraten und Finanzen: „Fehler zu begehen ist kein Skandal – Fehler zu vertuschen schon“

In der vergangenen Woche berichtete die WAZ von Finanzproblemen der Piratenpartei in NRW.

Gestern Abend haben die NRW-Piraten zur WAZ-Berichterstattung Stellung bezogen:

Bei dem Papier welches dem Journalisten vorliegt handelt es sich um den offiziellen Kassenprüfer-Bericht des Landesverbandes NRW. Die Kassenprüfer haben ihre Aufgabe pflichtgemäß erfüllt und den Bericht auf dem Landesparteitag am 6. Februar in Gelsenkirchen veröffentlicht. Der alte und neue Landesvorstand dankten den Kassenprüfern für ihre Arbeit und befürworteten eine Neuwahl derselben.

Aus dem Bericht gehen Versäumnisse hervor die ärgerlich sind, aber keinen Anlass zu den in dem Artikel geäußerten Konsequenzen bieten.

Fehler zu begehen ist kein Skandal – Fehler zu vertuschen schon. Doch diesen Vorwurf von Intransparenz weist der Landesverband der Piratenpartei vehement zurück. Die sogenannten „Aufdeckungen“ der WAZ wurden während des Parteitages öffentlich verteilt. Fehler die darin beschrieben sind dienen dem Vorstand als Hilfe, etwaige Mißstände zu korrigieren. Der Kassenbericht für 2010 wird am 15.03.2011 erstellt. Der Vorstand rechnet dabei mit keinerlei Komplikationen. Dieser Kassenbericht steht danach wiederum allen Interessierten zum Download zur Verfügung.

Es ist wahr, dass ca. 80 Buchungen mit einer Summe von ca. 4.500 € in der vierjährigen Geschichte der Partei nicht mehr durch die Kassenprüfer zweifelsfrei nachvollzogen werden konnten. Solche Buchungen sind dann für die Berechnung der staatlichen Parteienfinanzierung nicht anrechenbar. Sie gehen also zu Lasten des Landesverbandes und tragen nicht etwa zur Bereicherung bei. Eine Gefahr für die Parteienfinanzierung besteht nicht! Auch gilt: Da es bisher keine Auszahlung aus der staatlichen Parteienfinanzierung gab, kann es zu keiner Rückzahlungsforderung kommen.

Durch eine doppelte Mitgliederverwaltung auf Landes- und Bundesebene kam es zu Fehlern in der Mitgliederdatenbank. Alle Fehler wurden inzwischen nahezu komplett behoben. Der neue Vorstand arbeitet weiterhin daran sämtliche Fehlerquellen zu beseitigen.

Unter dem Strich sind die Fehler nicht für die Parteienfinanzierung schädlich, sondern eher für die Partei, da diese Fehler zu weniger Parteienfinanzierung führten, als uns bei korrekter Arbeit zugestanden hätte.Eine Rückzahlung, geschweige denn eine Streichung der staatlichen Parteienfinanzierung, steht dabei nicht im Raum.

Zu den genauen Zahlen wird sich in Kürze auch der Bundesschatzmeister Bernd Schlömer äußern, der die Daten für die Jahre 2007-2009 vorliegen hat. Er kann qualifizierte Aussagen treffen, wie viele Buchungen noch „zu retten“ sind und in welcher Höhe der Piratenpartei finanzieller Schaden entstanden ist.

Der neue Vorstand hat der WAZ großzügig Auskunft erteilt und mehrfach erklärt, warum es sich bei den „aufgedeckten“ Zahlen nicht um einen Skandal handelt. Den Redakteuren der Zeitung war dies anscheinend egal und sie haben in unzulässiger Weise Tatsachen verdreht und Behauptungen aufstellt, die sich nicht verifizieren lassen. Ebenso wie die Angabe sechsstelliger Summen aus der Luft gegriffen ist, wird der Vorstand mehrfach falsch zitiert.

Der Artikel ist reisserisch und zielt darauf ab, den Piraten ein Problem anzudichten, wo keines zu finden ist. Daher haben wir uns entschieden, nicht weiter auf die vorgebrachte Kritik einzugehen. Wer an Tatsachen interessiert ist, den verweisen wir auf den Bericht der Kassenprüfer zu 2010, der in etwa einem Monat veröffentlicht wird und die Ausführungen von Bernd Schlömer, die in Kürze veröffentlicht werden.

Bis dahin bitten wir um Geduld, damit die Schatzmeisterin sich einarbeiten und den Rechnungsprüfern die Unterlagen korrekt übergeben kann.

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Gideon Levy: Israel muss Ägypten gratulieren

  
Gideon Levy

Die liberale israelische Tageszeitung Haaretz hat heute einen Artikel von Gideon Levy veröffentlicht, der den Titel trägt: „Israel muss Ägypten gratulieren“. Ich habe daraus einige Passagen ins Deutsche übersetzt. Den vollständigen Text in englischer Sprache finden Sie hier.   

Die Nachricht aus Ägypten ist eine gute Nachricht, nicht nur für dieses Land und die arabische Welt, sondern für die ganze Welt, einschließlich Israel. Es ist Zeit, mit dem ägyptischen Volk glücklich zu sein, und zu hoffen, dass diese erstaunliche Revolution nicht schief gehen wird. Lasst uns alle unsere Ängste beiseite legen – vor der Anarchie, der Muslimbruderschaft oder einem Militärregime – und lasst uns bei diesem großen Wagnis ein Wort mitreden! Lassen wir uns nicht von den Gefahren trüben! Jetzt ist die Zeit, im Licht, das aus dem Nil scheint, zu sonnen – nach 18 Tagen des demokratischen Volkskampfs. Ironischerweise war es unter allen Ländern Ägypten, das bewiesen hat: Ja, es kann! Dass es möglich ist, eine Diktatur niederzuringen, und zwar mit friedlichen Mitteln.   

Lasst uns in das halb volle Glas sehen. Viele der anfänglichen Befürchtungen haben sich als falsch erwiesen. Die von Israel und dem Westen gepflegten unvorteilhaften alten Stereotypen über Ägypten fielen – eines nach dem anderen – in sich zusammen. Abgesehen von einem einzigen Tag der Gewalt verlief diese Revolution friedlich. Das ägyptische Volk hat bewiesen, dass es von Grund auf unbewaffnet und gewaltfrei ist. Kairo ist nicht Bagdad oder gar Nablus. Das ist eine gute Nachricht. Auch die Armee hat gezeigt, dass sie die Grenzen ihrer Macht erkennt, und dass sie – im Gegensatz zu anderen Armeen in der Nachbarschaft – nicht schießwütig ist. Die ägyptische Armee hat bislang – klopf auf Holz – ihre Weisheit, Entschlossenheit und Sensibilität unter Beweis gestellt.   

Tausende junger Ägypter, die auf allen Fernsehschirmen der Welt zu sehen waren, haben ebenfalls bewiesen, dass Ägypten noch ein anderes Gesicht als das uns bekannte hat. Die jungen Leute sind nicht nur an Falafel, Filme und Bakschisch interessiert, sondern haben auch ein ernstes soziales und politisches Bewusstsein, das sie auch in englischer Sprache äußern. Sie haben auch bewiesen, dass entgegen dem, was wir ständig erzählt bekommen, Hass auf Israel nicht an der Spitze ihrer Agenda steht.   

Die Unkenrufe, denen zufolge jeder demokratische Wandel den Aufstieg des Islam bedeutet, sind ebenfalls weit davon entfernt, realisiert zu werden. Schauen Sie sich die Bilder vom Tahrir-Platz an: da sind relativ wenige offensichtlich religiöse Menschen. Sie beteten leise, umgeben von einer großen Anzahl von weltlichen Revolutionären. Es gab auch eine ganze Reihe ägyptischer Frauen auf dem Platz. Ägypten ist nicht das, was wir dachten.

Auch wenn es sehr spät ist, muss das offizielle Israel jetzt mutige und gute Wünsche von Jerusalem nach Kairo an den Westen schicken. Und wenn es das offizielle Israel nicht macht, dann wenigstens wir, die kleinen Leute. Von uns an Euch: Mabruk, herzliche Glückwünsche, Ägypten!

letzte Woche / diese Woche (kw7)

Diese Woche wollen wir mal ganz radikal vorgehen und die Welt auf zwei Zahlen verkürzen: 5 und 500. (So etwas ist doch immer recht griffig.) Denn bald naht die Woche der STUDIENGEBÜHREN! In NRW!! Ja, Mensch. Na, und die 5 bezieht sich natürlich auf die 5 Euro, von denen nicht mehr nur die BILD immer redet. Tja, wer gibt wem was in dieser Gesellschaft?

Haben wir eigentlich mehr HartzIV-Empfänger als Studierende in Deutschland? Oder hält sich das in etwa die Waage? Dann könnten die Studierenden doch quasi mal die Bedürftigen unterstützen, oder? Machen sie ja gerüchteweise später eh, wenn sie mal gutes Geld verdienen, haha. Nun gut. Jedenfalls sprach der Autor dieser Zeilen in der letzten Woche einmal mit einem frisch gebackenen Post-Doktoranden darüber, wie unsereins eigentlich wirken muss auf die jüngere Generation. Wir hatten noch Interdisziplinarität, Humboldtsches Bildungsideal, Langzeitstudium und generell die Einstellung, man könne ja durchaus experimentieren, bis man von der Arbeitsmarktrealität eingeholt wird. (Natürlich hat man auch versucht, sich zu qualifizieren, aber meist für Dinge, die die schnöde Arbeitswelt gar nicht haben will.) Wir also früher immer mehr oder weniger idealistisch voran – und dann sehen wir da plötzlich Generation Praktikum, Bachelor & Co. kommen und sind ganz betroffen: Bachelor ist doch nichts wert (obwohl schon mal was fertigstudieren im überschaubaren Rahmen ja nichts Verkehrtes sein muss – na, und die relative internationale Übertragbarkeit, etc.)! Die sind ja alle voll verschult und schon auf konkrete Jobs fixiert, bevor sie überhaupt wissen, was los ist auf der Welt! Die haben alle so Schiss, das sie schlecht aussehen irgendwann, dass sie mehr vorauseilenden Gehorsam als sonstwas im Gepäck haben! (Nun gut, diese typische Studierenden-Arroganz braucht man wohl schon auch noch, um sich diese unglaubliche Zeitinvestition in eine marginale gesellschaftliche Verbesserung schönzureden.)

Wir sind also die Schnösel von gestern, und die Schnösel von heute sind ja so anders dysfunktional. Haben wir ein schlechtes Gewissen? Kaum. Hätten wir für den Scheiß damals auch noch bezahlt, ohne den Profs jeden Tag zu sagen, dass sie da teilweise Mist lehren? Nein. Denn es ging nicht nur den Studierenden ziemlich gut, sondern den Profs erst recht. Fröhliche Wissenschaften nach der Revolution damals, yo! Und alles schön von Steuergeldern finanziert. Wir brauchen ja „Eliten“ für wasauchimmer werauchimmer bestimmt.

Schön also, dass da alle mit Fachabi oder Abi oder so mitspielen durften bei der großen Party nach der Studentenrevolution. Leider sind wir dann die folgenden 30 Jahre nie mehr zu den Gewerkschaften und ähnlichen Gruppen gegangen – das Leben war ja hart genug und es gab ja so viel auszufechten! Die Geschlechterfrage! Die Ernährung! Recht auf Rausch?! Semesterticket!! Und dann immer diese Kriege irgendwo. Na, und nun rächt sich das halt, und niemand kann mehr jemand so recht weismachen, die Studierenden müssten doch bezuschusst werden. Denn es gibt bedürftigere, die nicht so eigenständige Menschen sind wie unsere zukünftigen Eliten. Gab es diese Menschen nicht zu „unserer“ Zeit auch schon? Hm. Und das zeigt einmal mehr den Unterschied zwischen Demonstrationen, Umfragen und der Realität: Alle sehen immer gern, wenn Leute für ihre Interessen auf die Straße gehen. Das gibt auch gute Medienbilder, und alle drücken David gegen Goliath die Daumen, weil das ja zeigt: Wenn wir wollten – dann würden wir auch! Aber in Umfragen zeigt sich dann, dass die Mehrheit gar nicht auf der Straße war und im Grunde eine andere Meinung vertritt als die letzte „Ich! Mehr!“-Protestwelle. Und in der Realität schließlich verpufft die „Revolution“ dann gen Militär, gen neue Köpfe in alten Strukturen und natürlich zu permanenten Verteilungsdebatten. Vergleicht der Autor hier den Akademikerstand in Deutschland mit dem Militär in Ägypten? Kaum.

Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass die heutige Studierendengeneration bescheidener geworden ist. Sie haben bestimmt alle Peter Hein zugehört: „Im Leistungskurs Leben wird dir nicht beigebracht, dass du alles, was sie dir geben, später doppelt bezahlst.“ Schön war es, letzte Woche von der NRW-Ministerin für Kultur, Familie, Jugend, Sport und Kinder zu hören, sie habe eigentlich das Ministerium für Lebensbildung. Vielleicht hat die auch mal Family 5 gehört (und deshalb – oder trotzdem? – genau den Job)? Schönen Sonntag!

Foto: Jens Kobler (feat. u.a. „The Rules of Attraction“ nach Bret Easton Ellis)

„Thomas Bernhard war ein Scheusal sondergleichen“

Heute wäre Thomas Bernhard 80 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass zeigt der TV-Sender TW1 die Themenwoche „80 Jahre Thomas Bernhard“. Im Rahmen dieser Reihe kommt auch Bernhards langjähriger „Lebensmensch“ Karl Ignaz Hennetmair zu Wort, mit dem ich kürzlich über seine Freundschaft zu dem österreichischen Autor, dessen Wutausbrüche und den „Märchenonkel“ Marcel Reich-Ranicki sprach. Naturgemäß ist es ein nicht ganz gewöhnliches Gespräch geworden. Gleich zu Beginn fährt mir Hennetmair, ganz im Sinne des Übertreibungskünstler Thomas Bernhard, „in die Parade“ und lässt sich in unvergleichlicher Art und Weise über Österreich aus.

Herr Hennetmair, lassen Sie uns über Thomas Bernhard reden. Sie waren…

… verzeihen Sie, dass ich Ihnen gleich zu Beginn in die Parade fahre, aber es ist nichts weniger als eine unglaubliche Perversität, dass das österreichische Feuilleton, das sich angesichts seiner durch und durch primitiven Berichterstattung schämen sollte, sich als solches zu bezeichnen, heuer nur mehr über den grässlichen Peter Handke oder die anderen scheußlich einfallslosen, vom Staat gleichwohl hoch alimentierten sogenannten Schriftsteller berichtet, und nur alle paar Jahre, wenn denn mal ein runder Geburtstag ansteht, an einen Jahrhundertschriftsteller wie der Thomas es war, erinnert.

Nun, ehrlich gesagt habe ich mit dem österreichischen Feuilleton nicht das Geringste am Hut.

Seien Sie froh! Die Zeitungen in Österreich sind ganz und gar stumpfsinnig, ja geradezu gemeingefährlich. So etwas gibt es nur hier, nirgends sonst.

„Niemand ist perfekt, außer Thomas Bernhard wenn er schimpft“, schrieb Siegfried Unseld seinerzeit. Offenkundig hat er sich geirrt. Sie stehen Bernhards Schimpfkanonaden in nichts nach.

Das mag sein. Wenn man sich jahrzehntelang mit Thomas Bernhards Leben und Werk auseinandersetzt, hat das naturgemäß Folgen.

Man läuft Gefahr, seine von Misanthropie und Hass auf alles Österreichische geprägten Satzkaskaden zu übernehmen? Das klingt zugegebenermaßen beängstigend.

Das ist der Preis, den man für die Lektüre seiner Bücher zahlen muss. Und fürs Protokoll: Die österreichische Presse ist bekannt für ihre Niederträchtigkeit. Das wissen alle – mit Ausnahme der Österreicher!

Wagen wir einen zweiten Versuch, Herr Hennetmair. Sie waren einer der wenigen Menschen, deren Nähe Thomas Bernhard zuließ. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Schauen Sie, der Thomas hat die sogenannten Intellektuellen wegen ihres affektierten Auftretens gehasst. Die Landbewohner wiederum verachtete er wegen ihres Stumpfsinns. Ich hingegen war weder das eine noch das andere. Als früherer Ferkelhändler und später dann als Realitätenvermittler stand ich irgendwie dazwischen. Ich glaube, er hat schlicht und einfach meine ehrliche, unverstellte Art gemocht, die in seinem Milieu, dem Kunstbetrieb, nicht existierte.

Was schätzten Sie an dieser Freundschaft?

Wenn man in der tiefsten österreichischen Provinz einen Geistesmenschen wie ihn trifft, ist das ein Glücksfall. In ihm fand ich inmitten dieser ganzen Geschmacklosigkeit einen Gesprächspartner. Die Welt wäre ja eine ganz und gar sinnlose, wenn es nicht Menschen wie Thomas geben würde, die uns mit ihrem Geist von unserer lächerlichen Existenz ablenken.

In seinem Werk reflektierte Thomas Bernhard geradezu monomanisch Krankheit und Tod. Wie müssen wir uns vor diesem Hintergrund den privaten Bernhard vorstellen?

Wenn er arbeiten konnte, schrieb er sich die Verzweiflung vom Leib, so dass wir abends ganz entspannt Krimis oder Sportschau schauen konnten. Der Thomas war dann ein sehr heiterer Mensch. Ungemütlich wurde er nur, wenn er nichts zu Papier brachte.

Was genau bedeutet „ungemütlich“?

Er brauchte immer ein Ventil, um Druck abzulassen. Wenn er nicht schreiben konnte, gingen wir als Ausgleich kilometerlang spazieren; da hat er dann über den Tod monologisiert. Monologe, die er anschließend Wort für Wort in seinen Büchern wiederholt hat, wie ich später feststellte.

Haben Sie diese Spaziergänge mit der Zeit nicht gelangweilt?

Es heißt, er hätte immer wieder ein und dasselbe Buch geschrieben – ein Riesenschmarrn! Wie bei seinen Büchern geriet man unweigerlich in einen Sog, wenn der Thomas Vorträge hielt. Minetti hat mit Recht gesagt, dass er in Bernhards Sätzen zu Hause ist. So ist es auch bei mir.

In Ihrem 2001 publizierten Tagebuch „Ein Jahr mit Thomas Bernhard“ beschreiben Sie, wie schwierig es war, nicht seinen Zorn zu erregen. War es eine Freundschaft auf Augenhöhe?

Das war es uneingeschränkt. Ich habe ihm immer geradeheraus meine Meinung gesagt. Alles andere hätte er auch nicht akzeptiert. Dessen ungeachtet war die Freundschaft zu ihm eine ungeheure Herausforderung. Es glich meinerseits gelegentlich einem Tanz auf dem Vulkan.

Inwiefern?

An einem Tag war er der liebste Mensch auf Erden. Dann wiederum glich er dem Bruscon aus seinem „Theatermacher“ und ließ an nichts und niemanden ein gutes Haar. Diese Wut zu ertragen konnte anstrengend sein. Bei aller Liebe, Thomas war immer auch ein Scheusal sondergleichen.

1975 kam es zwischen Ihnen beiden zum Bruch. Haben Sie es jemals bereut, sich mit ihm eingelassen zu haben?

Niemals! Mir war immer klar, dass es schwieriger ist, mit einem Geistesmenschen befreundet zu sein als mit einem Idioten. Dem Idioten können Sie ja alles sagen, ohne dass er es versteht. Gegenüber dem Geistesmenschen muss man aber stets acht geben. Der Künstler ist naturgemäß feinfühliger als der Fleischhauer.

Warum sprechen Sie bis heute nicht über den Grund des Bruchs?

Na, weil ich finde, dass das nur den Thomas und mich etwas angeht. Er hat eben andere Menschen oft ohne jeden Grund beschuldigt. Und da habe ich ihm jedes Mal gesagt: „Ich schau dich lebenslänglich nicht mehr an, wenn du mich so beschuldigst.“ Ich habe nur Wort gehalten.

Um welche Beschuldigung handelte es sich genau?

Guter Versuch, aber schon allein dem Thomas zuliebe sage ich kein Sterbenswort. Das nehme ich mit ins Grab.

Bernhards Biographin Gitta Honegger schrieb, dass er homosexuell gewesen sei und dass das bei Ihrer Entzweiung womöglich eine Rolle spielte. Wie stehen Sie dazu?

Na, das ist doch wirklich ein ganz großer Schmarrn. Ich weiß von mindestens einem Fall, wo er mit einer Dame weggegangen ist und bei ihr übernachtet hat. Man darf halt nicht alles glauben, was die Leute zwischen Buchdeckel klatschen. Jedes Jahr ein neues infames Gerücht. Was die Honegger heute, war der Marcel Reich-Ranicki früher.

Sie spielen darauf an, dass Reich-Ranicki einmal schrieb, Bernhard sei infolge seines lebenslangen Lungenleidens impotent gewesen.

Ja, eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen. Jeder weiß, dass Reich-Ranicki gerne den Märchenonkel gibt und sich Geschichten ausdenkt, weil ihm die Wirklichkeit zu fad ist. Aber wie ich wird der ja bald enteignet, dann hat es sich ohnehin. Dann spielt es keine Rolle mehr, wer was sagt.

Enteignet? Wie meinen Sie das?

Na, Sie sind noch jung, bei Ihnen dauert es hoffentlich noch eine Weile. Aber früher oder später werden wir in dieses dunkle Nichts unter unser aller Füssen gestoßen. Das ist ja die eigentliche Gemeinheit im Leben. Dagegen werde ich wie Thomas Bernhard bis zum Schluss aufbegehren.

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

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Weizenpreis und ägyptische Revolution – kleiner Grundkurs, Teil 2

Fahren wir fort mit dem kleinen Grundkurs für Revolutionäre! Gestatten Sie bitte, dass ich einmal kurz mich selbst zitiere. Nur so als Einstieg: Eine revolutionäre Situation entsteht …, wenn nach einer langen Periode relativer Prosperität die tendenzielle ökonomische Aufwärtsentwicklung … abreißt. Und nun schauen Sie sich bitte einmal diese Grafik an! Sie zeigt das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Ägypten.

Grafik: Google; Daten: Weltbank

Okay, die Weltbank-Daten, die der Google-Grafik zugrunde liegen, sind nicht preisbereinigt. Und die Inflationsrate ist in Ägypten schon deutlich höher als bspw. bei uns. Sie liegt, oder besser: lag stets so zwischen 5 und 20 %. Genaueres hier – CIA-Zahlen, das sind eigentlich immer die besten. Denen können Sie wirklich vertrauen. Und hier finden wir auch Zahlen zum BIP. Klarer Fall: auch real lag das ägyptische Wachstum deutlich über dem in Deutschland, der EU oder den USA.

Jahr      1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
BIP (real) 6,3    5,1   3,5   3,2     3,0    4,1   5,1     5,5    5,8
Wachstum in Prozent

Selbstverständlich: diese Steigerungsraten werden auf einem wesentlich niedrigeren Niveau erzielt. Ägypten ist ein armes Land. Zum Beispiel auch viel ärmer als Tunesien, das BIP pro Kopf ist am Nil gerade mal halb so hoch. Ägypten liegt mit 1.739 US$  auf dem 118. Platz weltweit. Tunesien steht mit dem 96. nicht so deutlich weiter vorn, hat aber mit 3.398 US$ beinah das Doppelte zu verteilen. Ginge es also nach der absoluten Höhe des Volkseinkommens, hätte Tunesien nie und nimmer den Anfang im revolutionären Prozess Arabiens machen können.
Das Wohlstandsniveau ist – revolutionstheoretisch betrachtet – keine relevante Größe. Auch die beeindruckenden Wachstumsraten Ägyptens bieten keinerlei Erklärung für umstürzlerische Bestrebungen. Zumal sie zum Ende des letzten Jahrzehnts noch einmal deutlich zugelegt hatten. Allerdings hat am ägyptischen Wachstumstyp so einiges nicht gestimmt. So ist zum Beispiel aus der einstigen Kornkammer Afrikas und des Nahen Ostens über die Jahre der weltweit größte Importeur von Weizen geworden. Und der Weizenpreis steigt unaufhaltsam.

Seit dem Juni 2010 bis Ende Januar, also in sieben / acht Monaten, hat der Weltmarktpreis für Weizen um 70 Prozent zugelegt. Die Folgen sind hierzulande überschaubar, für Ägypten allerdings dramatisch. Wir werden uns darauf einstellen müssen, für jedes Brötchen zwei bis drei Eurocent mehr berappen zu müssen. Wie viel von den vier Prozent, die McDonalds mehr für den Einkauf seiner Lebensmittelrohstoffe hinblättern muss, wie viel der Fast-Food-Konzern auf jeden Burger wird umlegen können, kann ich Ihnen nicht sagen. Die kleinen Burger kosten den Endverbraucher gegenwärtig genau einen Euro. Was soll McDonalds da machen?!
Auch wenn revolutionstheoretisch die Höhe des BIPs zunächst einmal zu vernachlässigen ist, liegt es auf der Hand, dass ein Land wie Ägypten von der explosionsartigen Erhöhung des Weizenpreises in ganz anderer Weise getroffen wird. 1.739 US$ BIP pro Kopf und Jahr, d.h. jedem Ägypter stünden täglich gerade einmal fünf Dollar zur Verfügung – unter der Annahme, dass das Volkseinkommen gleich verteilt wäre. Das ist es bekanntlich nicht.
Die privaten Haushalte müssen noch etwas Anderes kaufen als Weizenprodukte, und die Preise für die anderen Lebensmittelrohstoffe schießen in vergleichbarer Weise in die Höhe. Außerdem müssen aus dem BIP auch die Staatsausgaben bestritten werden. Zwar zeigt sich der Westen bei der Finanzierung des staatlichen Unterdrückungsapparats „großzügig“; dennoch liegt der Pro-Kopf-Anteil für die Militär- und Polizeiausgaben deutlich höher als bspw. bei uns. Letztlich bleibt auch in Ägypten das Volk auf den Kosten für seine Unterdrücker sitzen.

Die exponentielle Steigerung der Rohstoffpreise wird freilich auch getrieben von der Spekulation an den Lebensmittelbörsen. Man mag darüber streiten, wie hoch der Anteil der Spekulation am Weizenpreis ist. Man kann nicht darüber streiten, dass Spekulanten nur dort spekulieren, wo es etwas zu spekulieren gibt. So liegt die tiefere Ursache für diese verheerende Preisentwicklung darin, dass in diesem Jahr – und absehbar auch in der weiteren Zukunft – die Nachfrage das Angebot, also die weltweite Weizenproduktion bei weitem übersteigt. Die FTD schreibt:
„Laut Prognosen der Uno-Landwirtschaftsorganisation FAO wird die weltweite Produktion von rund 680 Millionen Tonnen im Vorjahr auf rund 650 Millionen Tonnen in der Erntesaison 2010/11 sinken. Dagegen dürfte die Nachfrage von 659 auf 666 Millionen Tonnen zulegen. Verantwortlich für die Verknappung sind schlechte oder geringe Ernten. Diese sind Folge von Dürren in wichtigen Anbauländern wie Russland, anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und in China sowie von Überschwemmungen wie in Australien.“

Russland bspw. hat seine Weizenexporte vorläufig völlig gestoppt. Die Angebotsverknappung trifft auf eine sprunghaft angestiegene Nachfrage. Mehr als alle Spekulation fällt dabei ins Gewicht, dass (ausgerechnet) „die Regierungen nordafrikanischer Staaten aus Angst vor weiteren Protesten gegen die hohen Preise das Getreide auf(kaufen). Marktteilnehmer rechnen in der nahen Zukunft weiterhin mit starkem Kaufinteresse vor allem aus Nordafrika und dem Nahen Osten.“ Ein Teufelskreis. Wer die Anhäufung der Missernten in 2010 für ein singuläres Ereignis hält, mag prinzipiell Recht haben. Doch bislang sind entsprechende Katastrophenmeldungen aus aller Welt nicht weniger geworden.
Es scheint, dass bedingt durch den Klimawandel katastrophenbedingte Ernteausfälle tendenziell zunehmen. Eine angebotsdämpfende Wirkung hat zweifellos die Exportsubventionspolitik der großen Lebensmittelrohstoffexporteure, von der man mit einigem Recht sagen kann, dass hier der Imperialismus seine hässliche Fratze zeigt. Wie es möglich ist, dass ausgerechnet französische Bauern an der Spitze militanter Globalisierungsgegner mitmarschieren, bleibt unter diesen Umständen jedoch äußerst rätselhaft.

Zugegeben: letztlich bleibt die Entwicklung auf der Angebotsseite der Lebensmittelrohstoffmärkte spekulativ. Dagegen ist die Sachlage auf der Nachfrageseite ziemlich klar: das starke Bevölkerungswachstum ist – zumindest in den nächsten Jahrzehnten – ungebrochen. Es werden immer mehr Menschen zu ernähren sein – was prinzipiell gewiss möglich wäre, wenn sich ein ökonomischer Mechanismus etablierte, der zu einer Ausdehnung der Anbauflächen führte. Nach wie vor ist jedoch genau das Weltwirtschaftssystem vorzufinden, das aus der Kornkammer Ägypten den größten Weizenimporteur der Welt gemacht hat.
Niemand verhungert in Ägypten. Und dort, wo verhungert wird, machen die Menschen keine Revolution. Es revoltieren diejenigen, deren Entwicklungsperspektiven auf unabsehbare Zeit versperrt sind. Dies ist die ökonomische Erklärung für die gegenwärtige Situation in Ägypten wie in ganz Nordafrika. Freilich: die Ökonomie erklärt nicht alles. Doch ohne den sprunghaften – und nicht wieder rückgängig zu machenden – Anstieg der Lebensmittelpreise bleibt die revolutionäre Situation in Ägypten und den anderen Ländern unerklärlich.

Ägypten: Schöne Sachen und nicht so schöne Sachen

Es blieb friedlich, relativ friedlich, gestern am Freitag, am elften Tag des Aufstands in Kairo. Damit war nicht unbedingt zu rechnen am „Tag des Abgangs“, wie die Demokratiebewegung den 4. Februar nannte, weil ihr Rücktrittsultimatum an Mubarak gestern auslief. Und weil es am Donnerstag und in der Nacht zum Freitag Tote gab. Es wurde geschossen auf und um den Platz der Befreiung im Kairoer Stadtzentrum, die Schergen des Mubarak-Regimes ritten auf Pferden und Kamelen überfallartig in die demonstrierende Menge oder rasten in Tötungsabsicht mit Autos in Gruppen nichtsahnender Menschen. 

Am Freitag war in der FTD zu lesen, dass ein Reisebüro am Platz der Befreiung (Tahrir-Platz) zu einer Gefängniszelle umfunktioniert wurde, und was sich darin am Donnerstag ereignet hatte. Silke Mertins berichtete von drei Männern, denen mit Gewalt Pullover und Jacken ausgezogen wurden. Auf die nackten Oberkörper wurden ihre Namen geschrieben, dann wurden sie mit eilig herbeigeschafften Kabelbindern gefesselt.

Nun findet ein Verhör statt: „Entweder du sagst uns, wer Donnertagnacht auf uns geschossen hat und was ihr jetzt vorhabt, oder … – „Ich weiß nichts!“ schreit einer der Männer, der mit blutverklebter Stirn am Boden vor den Schreibtischen liegt. Es hagelt Ohrfeigen. Was aus diesen drei Männern geworden ist, konnte Silke Mertins nicht mehr in Erfahrung bringen. Auch nicht, was aus den etwa 400 weiteren Gefangenen geworden ist, denen es ähnlich ergangen ist. Auch die Antwort auf ihre Frage, wo sie sind, wurde ihr „aus Sicherheitsgründen“ verweigert. Wo? „Hier auf dem Platz, an einem geheimen Ort.“ In der Moschee? Im U-Bahn-Schacht? In einem Gebäude? „Das können wir aus Sicherheitsgründen nicht sagen.“

Die FTD-Reporterin zitierte Adel Abdulatif, einen Aktivisten der Demokratiebewegung. Bei den Gefangenen handelte es sich um Zivilpolizisten und / oder Geheimdienstleute des Mubarak-Regimes, die der Oppositionsbewegung in die Hände gefallen sind. Die Fernsehbilder der erbeuteten Dienstausweise – von den Demonstranten wie Trophäen präsentiert – gingen um die Welt. Jetzt haben wir eine zumindest grobe Vorstellung davon, was mit den Ausweisinhabern währenddessen geschehen ist. „Entweder du sagst uns, wer Donnertagnacht auf uns geschossen hat und was ihr jetzt vorhabt, oder …“ – Oder was? … „Oder wir werden euch der Menge draußen überlassen.“

In diesem Fall hätten die gefangenen Stasi-Leute, wie Mertins schrieb, „kaum auf Gnade hoffen“ können – gewiss zutreffenderweise, vielleicht verständlicherweise. Man bedenke, dass gleichzeitig ihre Kollegen damit beschäftigt waren, Anhänger der Demokratiebewegung auf und um den Tahrir-Platz zu töten. Am Donnerstag Abend herrschten dort bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Aber rechtfertigt dies das Foltern von Gefangenen? Nach unserem Rechtsverständnis gewiss nicht, nicht einmal dann, wenn wir den Folterern im Namen von „Freiheit, Demokratie und Frieden“ (Hamed Abdel-Samad) eine Notwehrsituation zubilligen. 

“Man kann nicht Demokratie predigen, aber mit Diktaturen ins Bett gehen”, sagt Abdel-Samad. Aber kann man Demokratie predigen, während man seine Feinde foltert? Gut, eine Revolution – wo gehobelt wird, fallen Späne. Schwamm drüber. Was aber, wenn das Folterverbot nicht nur einmal kurzfristig außer Kraft gewesen sein, sondern prinzipiell überhaupt kein Bestandteil in der Vorstellungswelt der ägyptischen Oppositionsbewegung sein sollte? Was, wenn „Freiheit, Demokratie und Frieden“ der Folter ebensowenig entgegenstehen wie der Todesstrafe, der Unterdrückung der Frau und vielen anderen im Westen an und für sich nicht gern gesehenen Herrschaftsinstrumenten, auf die in der arabischen Welt keineswegs die Muslimbrüder einen Monopolanspruch erheben können?

Während sich am Donnerstag Abend auf und um den Tahrir-Platz in Kairo all die zitierten grässlichen Dinge ereigneten, plauderte eine Handvoll Nahost-Experten in der ZDF-Sendung Illner über die Ereignisse. Akhtam Suliman, der Deutschland-Korrespondent von Al-Dschasira, erklärte dazu, dass die ägyptische Jugend jetzt keine – auch noch so gut gemeinten – Ratschläge aus dem Westen brauche, sondern verwies stattdessen auf das Selbstbestimmungsrecht des ägyptischen Volkes. Und der „Journalist und Israel-Kenner“ Henryk M. Broder, Abdel-Samad Reisegefährte in der ARD-Reihe „Entweder Broder“, kam sich vor wie 1989

Er sei „voller Bewunderung für die Menschen in Ägypten“, erzählte Broder, und hege „tiefe Verachtung“ für die Bedenkenträger auf Deutschlands Sofas, die, anstatt sich zu freuen, die Risiken der gegenwärtigen Entwicklung betonen. Ja, die Freiheit sei ein Risiko, so Broder. Recht hat er, und so bleibt mir nichts Anderes, als mit seiner tiefen Verachtung leben zu müssen. Allerdings: von Broder verachtet zu werden, ist immer noch leichter erträglich, als von einer Kanaille wie Jürgen Todenhöfer bescheinigt zu bekommen, „schöne Sachen“ zu sagen. Wer nicht einmal Bedenken bekommt, wenn er mit einem „bekennenden Kriegsgegner“ wie Todenhöfer, um die Metapher Abdel-Samads aufzugreifen, ins Bett geht, ist vor lauter Liebe blind geworden. 

Es wäre nicht der Rede wert, wenn Broder der einzige wäre, der hierzulande zwischen den Sympathien für den Muslimhasser Sarrazin und der Kumpanei mit dem Taliban-Begleiter Todenhöfer hin und hergerissen ist. Doch er ist nicht der einzige. Wenn in Deutschland irgendwo irgendwie die Humanität auf der Strecke bleibt, ist man des Beifalls der Massen sicher, wenn man erklärt, wie schön das doch ist.