AMI Leipzig: Renault Proprement

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Wir stellen einen dritten heißen Kandidaten für das Auto der Zukunft auf der Automobilmesse „Auto Mobil International“ (AMI) in Leipzig vor, diesmal mit Seifenkisten-Feeling.

Renault wird den Autoliebhaber in der Kompaktklasse mit dem preiswerten „Proprement“ überraschen, bei dem Karosserie und Antriebsenergie aus ein und demselben Werkstoff bestehen: Aus Seife. Drei Motoren in Frühlingsduft, Rosmarinöl und Kamille stehen zur Auswahl. Eine Variante mit ätherischen Ölen wartet noch auf die Straßenzulassung.

Nachdem der Renault-Motorenabteilung die Erlaubnis zur Kernspaltung verweigert wurde, experimentierte man in Boulogne-Billancourt mit umweltfreundlicher Kernseifenenergie. Der aus dem Auspuff kommende saubere Seifenschaum wird im Heckschaumspender aufgefangen.

Man sollte sich nicht davon irritieren lassen, dass das Werk nur kantige Fahrzeuge ausliefert. Mit einem serienmäßig beiliegenden Spachtel kann die Linie vom Fahrer in die individuell gewünschte Form gebracht werden. Autorisierte Dienstleister werben mit der Plakette: „Rein in jeder Form“. Renault spricht von einem Schönwetter-Auto.

Von Gastautor Manfred Ganswindt.

Rot-Grün: „Ich hatte da mal ein Lager…“

gruener_baerDie SPD setzt in NRW auf Rot-Grün. Die Begeisterung der Grünen über die Wiederbelegung des alten Projekts wirkt etwas pflichtschuldig, denn sie wissen: Es gibt keine Lager mehr.

In den 90er Jahren war die Welt noch scheinbar einfach: Die Grünen hatten, zumindest oberhalb der kommunalen Ebene, nur einen denkbaren Koalitionspartner: Die SPD. Man schwärmte vom Rot-Grünen-Projekt. Die Sozialdemokraten sahen dass etwas pragmatischer: Wenn es passte, koalierte man mit den Grünen, ging auch aber Verträge mit der Union und der FDP ein und kooperierte auch schon mal mit der PDS. Die SPD war in einem strategischen Paradies: Sie konnte mit allen. Von einem Rot-Grünen-Projekt war da nicht die Rede und Schröder hätte 1998 lieber mit der CDU als mit den Grünen regiert.

Heute ist das anders: Auf ihrem Parteitag in Dortmund beschworen sowohl Hannelore Kraft als auch SPD-Chef Sigmar Gabriel Rot-Grün.  Das soll zum einen Aufbruchstimmung erzeugen, aber auch  Diskussionen über die Zusammenarbeit mit der Linkspartei oder der Union verhindern. Beide Optionen wurden ja nicht ausgeschlossen, würden den Wahlkampf allerdings stören.

Und die Grünen? Die bekunden, dass sie auch am liebsten mit der SPD regieren wollen, wirken aber deutlich distanzierter, denn sie kennen die Probleme, die bei der Zusammenarbeit mit der SPD aufkommen würden.

Neben wir den Energiebereich: Die SPD will den Ausstieg aus der Kohleförderung rückgängig machen. Mit den Grünen wird das nicht gehen. Die SPD will, wie die Union, weitere Steinkohlekraftwerke. Die Grünen sind dagegen.
Die Grünen wollen Direktwahlen auch für das Ruhrparlament – bei der SPD taucht das Thema noch nicht einmal auf.

Da waren die Gemeinsamkeiten schon einmal größer – gegen Ende der rot-grünen Regierung, als man sich, nach schweren Krisen, 2003 auf das Düsseldorfer Signal einigte. Das liest sich auch heute, fast sieben Jahre nach seiner Formulierung, modern und undogmatisch. Von Bürokratieabbau und Strukturveränderungen ist da die Rede, einen Ruhrbezirk sollte es geben – und die SPD, die damals dieses Papier unterstützte, warf es nach der verlorenen Wahl sofort auf den Müllhaufen. Man wolle wieder SPD-Pur, sagte mir damals der SPD-Generalsekretär Michael Groschek.

Wenn nach der Wahl Rot-Grün möglich sein sollte, wird die SPD auf Grüne treffen, die sehr pragmatisch in die Koalitionsverhandlungen gehen werden. Die SPD wird einen hohen Preis zahlen müssen – die inhaltlichen Schnittmengen zur Union könnten sich in der Regierungspraxis für die Sozialdemokraten als größer erweisen.

Die Grünen werden hart Verhandeln und vielleicht feststellen, das mit einer angeschlagenen Union mehr geht als mit der SPD. Viele von Ihnen haben die SPD noch aus zehn Jahren gemeinsamer Regierung in schlechter Erinnerung. Rot-Grün in NRW – das war kein Projekt sondern ein ständiger Kampf der Grünen mit den Modernisierungsverhinderern der SPD. Noch das kleinste Zugeständnis musste den Sozialdemokraten hart abgerungen werden. Mehrmals stand das Bündnis vor dem Aus. Nur der Druck aus Bonn und später Berlin sorgte dafür, dass es sich ohne jede Strahlkraft über die Runden rettete, bis 2005 Schluss war. Rot-Grün in NRW war das Modell für den Bund – dort wird es aber von den Grünen nicht mehr gebraucht. Sie haben längst gezeigt dass sie regieren können. Die Grünen brauchen keine Modelle mehr. Sie wollen einfach ihre Politik umsetzen.

Es gibt keine Lage mehr. Es gibt einzelne Parteien und die sollen möglichst viele ihrer Ideen durchzusetzen versuchen. Es ist wie auf einem Markt. Man handelt miteinander. Passen die Programme? Passen die Personen? OK. Passt es nicht, geht es nicht. Alles andere ist Wahlkampf-Vodoo. Rot-Grün ist in NRW so wenig ein Projekt wie es Schwarz-Gelb im Bund ist. Lager – das ist dieses schale Bier mit wenig Alkohol. Ich trinke sowieso lieber Pils.

Foto: Grüne NRW

Waldorfschule: Curriculum und Karma – das anthroposophische Erziehungsmodell Rudolf Steiners

klaus_prangeDie anthroposophische Pädagogik ist eine Mogelpackung für Herrschaft. Sie beutet das vielfach anzutreffende Orientierungsbedürfnis aus, um die Herrschaft einer selbsterwählten Elite zu begründen. Von unserem Gastautor Klaus Prange.

Es gibt eine amüsante Anekdote, die mit dem großen dänischen Physiker Niels Bohr verbunden ist. Bohr hatte in den Bergen eine Hütte, und über der Tür zu dieser Hütte war ein Hufeisen angebracht, ein altes magisches Zeichen zur Abwehr böser Geister. Als nun Bohr einmal von Fachkollegen und Schülern besucht und gefragt wurde, ob er etwa an solchem Spuk und Aberglauben festhalte, hat er geantwortet, nein, natürlich nicht, er glaube nicht daran, dass das Hufeisen wirklich das Unglück vertreibe; aber sein Nachbar habe ihm gesagt, es wirke auch dann, wenn man nicht daran glaube. 

Diese Anekdote beleuchtet zunächst einmal, wie es sich für Anekdoten gehört, die Eigenart des Mannes, diese spezifisch dänische Mischung aus Verstandesklarheit und Verschmitztheit. Sie beleuchtet aber auch noch etwas anderes, viel Allgemeineres: Bei aller Rationalität und wissenschaftlichen Skepsis gegen Aberglauben, angebliche Volksweisheit und alte Weistümer bleibt doch ein Rest, der sich nicht auflösen lässt, eine Ungewissheit und Unsicherheit, der man mit Vernunft und Wissenschaft nicht beikommen kann. Die große Hoffnung der modernen Wissenschaft, die metaphysischen Gewissheiten durch einsehbare, nachprüfbare und distinkte Bestimmungen zu ersetzen, hat sich nicht erfüllt; vielmehr hat sich gezeigt, dass die Wissenschaft das Problem der praktischen Orientierung im Leben nicht bewältigen kann. Sie belehrt uns darüber, was wir wissen, und je genauer sie das tut, desto genauer wird auch die Grenze erkennbar, die dieses Wissen mit sich führt. Hans Blumenberg hat in seinem 1986 erschienenen Buch über Lebenszeit und Weltzeit überzeugend ausgeführt, dass jene Hoffnung der neuzeitlichen Reflexion illusorisch war, eine produktive, ergiebige Illusion, gewiss, aber doch mit dem Ergebnis, dass die Fragen des Lebens sich nicht in Reflexion ohne Rest und Bruch auflösen lassen. (1) Und genau dies ist ein Ergebnis des organisierten Wissens, auf das man nun unterschiedlich reagieren kann, nicht nur ironisch-verschmitzt wie Bohr, sondern auch resolut, indem man die Wissenschaft und ihre Ergebnisse umdeutet. In jedem Falle ist es so, dass gerade eine selbstkritisch sich bescheidende Reflexion dem “Glauben Platz schafft”, so das ausdrückliche Programm Kants, der dieses Problem scharf und deutlich gesehen und ausgesprochen hat. Aber dieser Platz wird nicht nur von dem gefüllt, was nach Kant allein übrig blieb, jenem spezifischen Vernunftglauben, der das Verfahren der Vernunft auf die Bestimmung der moralischen Handlungsgründe anwendet und eine menschliche Welt erzeugt, sondern auf diesem Platz tummeln sich auch ganz andere Konzepte. Die Philosophen interessieren sich in der Regel nicht allzusehr dafür, was es alles an metaphysischen Überlebseln gibt, aber der Pädagoge, der es ja nicht nur mit Akademikern zu tun hat, kann daran nicht vorbeigehen.

Was ich damit meine, lässt sich leicht illustrieren und aktualisieren. Man sieht es in den Buchhandlungen und an den Verlagen: Esoterisches kommt gegenwärtig gut an, Mystik und Mythisches zu herabgesetzten Preisen, ob es sich nun um die Apotheke des lieben Gottes handelt oder um computergestützte Astrologie oder eben auch um Anthroposophisches. Es gibt eine Renaissance vormoderner Weltweisheit, Totallösungen und gebrauchsfertige Sinnangebote, die der Nachfrage nach Orientierung und Sinn entsprechen. Offenbar besetzt die Nachhut der Vormoderne Positionen, die eine resignativ in sich selber verstrickte Rationalität freigegeben hat. Dabei gibt es durchaus Rangunterschiede: auf der oberen Etage wird die “Wahrheit des Mythos” restauriert, (2) und ganz unten haben die Jugendsekten, die indisch kostümierten Guru-Weisheiten, die Scientology-Bewegung u.a. ihren Markt. Man hat zwar gesehen, dass am Ende auch ein Bhagwan nur von dieser Welt ist, aber solche Desillusionierungen sind nicht von Dauer; es ist vielmehr damit zu rechnen, dass es eine Anfälligkeit für totale Sinnangebote gibt, für Schlüsselattitüden und vorreflexive Gewissheiten.

Genau das ist mein Thema. Ich möchte wie in einem klinischen Fall an der Anthroposophie und der anthroposophischen Pädagogik zeigen, dass sie dem Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Weltdeutung und Sinnorientierung entspricht, nach einem Weltbild, in dem sich auch sagen lässt, was es mit diesem menschlichen Leben auf sich hat. Dazu eine Bemerkung in eigener Sache. Ich werde des öfteren gefragt, weshalb ich mich mit der Waldorfpädagogik befasst habe und dann auch noch so “kritisch” und ausgesprochen negativ. (3) Die Leute hätten mir doch gar nichts getan und verdienten solche Unfreundlichkeit nicht. In einigen Waldorf-Rezensionen wird auch gleich Motivforschung getrieben: Welchen Defekt hat jemand, der den Sinn der Waldorfpädagogik in Frage stellt, die doch wirklich das Beste für die Kinder will, eigentlich viel mehr als die reglementierte und verkopfte Staatsschule. Meine Antwort dazu ist: ich betrachte die anthroposophische Pädagogik als Beispiel für eine absolute Pädagogik, keineswegs das einzige, aber eben ein guter Fall, so wie ein Kliniker oder Analytiker sich über eine reine Konversionshysterie freut, nicht weil er Neurosen gut findet, sondern weil er an ihr untersuchen kann, wie der Mechanismus dieser seelischen Krankheit zu verstehen ist. In der Tat halte ich die Waldorfpädagogik für einen Irrgang, und die ambivalente Rezeption und Behandlung dieses pädagogischen Konzepts durch die Erziehungswissenschaft wirft ein Licht auf die Anfälligkeit der Pädagogik für “absolute Metaphern” (Blumenberg) und theoretisch nicht ausweisbare Sinnantworten, auch: ihre Anfälligkeit und Schutzlosigkeit gegen politisch-totalitäre Zumutungen.

Soviel zum Hintergrund. Im Folgenden werden drei Punkte behandelt, die ich vorweg als Thesen formuliere:

These I: Die Anthroposophie ist eine Heilsbotschaft für Verlassene und Enttäuschte, für Sinnsucher und Heimatlose.

These II: Die Waldorfpädagogik und die Waldorfschule sind der Versuch, diese Heilsbotschaft über Erziehung auf Dauer zu stellen.

These III: Die anthroposophische Pädagogik ist eine Mogelpackung für Herrschaft. Sie beutet das vielfach anzutreffende Orientierungsbedürfnis aus, um die Herrschaft einer selbsterwählten Elite zu begründen.


Die Anthroposophie als Heilsbotschaft

Dazu nehme ich eine Überlegung auf, die Sigmund Freud vorgetragen hat. Freud hat die Frage gestellt, welche Zukunft die traditionellen Glaubenssysteme noch haben. Bisher haben sie dem Menschen geholfen, seine Hilflosigkeit zu meistern; sie geben Sicherheit und Gewissheit in einem Meer von Gefahr und Übermacht. Aber die Menschen ahnen, dass sie einer Illusion aufsitzen. Sie ahnen und wissen es deshalb, weil die modernen Wissenschaften ihnen drei schwere Enttäuschungen bereitet haben, drei schwere “Kränkungen”, wie Freud auch sagt. (4) Die erste, “kosmologische” Enttäuschung stammt aus der Astronomie, seit sich die Lehre des Kopernikus durchgesetzt hat, dass die Erde keineswegs der Mittelpunkt der Schöpfung, also der Mensch auch nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Galilei, der das ungeschminkt aussprach, wurde dafür verdammt und musste gegen seine Überzeugung widerrufen. Die zweite, “biologische” Enttäuschung hat uns Darwin beschert: der Mensch ist nicht fertig und einigermaßen mit Vernunft begabt geschaffen worden, sondern in einem sehr langen Naturprozess entstanden. Es gibt ihn ohne Zielbestimmungen und ohne Schöpfer, der sich den Menschen ausgedacht hat; das ist die revolutionäre Pointe der Evolutionstheorie. Und die dritte Enttäuschung besteht darin, so Freud, dass die analytische Psychologie zeigt, dass wir nicht einmal über uns selbst verfügen, uns mit uns selbst nicht auskennen und dass unsere Vernunft nur ein schwaches Rohr im Wind unserer vorrationalen Antriebe ist. Es gibt nach alledem keine Vorzugsstellung des Menschen, sei es als Zentralwesen des ganzen Kosmos, sei es als Krone der Schöpfung, sei es als Vernunftwesen mit absoluter Mitte in sich selbst. Man kann das in der Konsequenz auch so formulieren: alles könnte auch anders sein, unser Wissen sowieso, aber auch unser Handeln und Denken, unsere moralischen und ästhetischen Präferenzen, unser Charakter und das, was wir für unser Wesen halten. Dies sind Varianten des Satzes von Nietzsche: Gott ist tot. Das gegenwärtige Stichwort dafür lautet: Kontingenz. Alles könnte auch anders oder gar nicht sein. Wenn das so ist, wenn Gott tot ist, wenn die Entzauberung der Welt nicht rückgängig zu machen ist, so Max Weber, wie kann man dann mit diesem Tatbestand fertig werden? Ein Weg ist, und Freud hat es vorgemacht: Man kann tapfer sein, d. h. Schritt für Schritt versuchen, ein wenig und immer mehr Licht in die seelischen und intellektuellen Konstellationen zu bringen, theoretisch gesprochen: das Kontingente durch Relationierungen zu bewältigen, nicht endgültig und für immer, aber auf Zeit. Man kann aber auch die Augen schließen und Gott noch einmal einen guten Mann sein lassen, so tun, als ob alles irgendwie zusammenpasst. So verhalten sich die meisten, angesichts des Umstands, dass kein endliches Bewusstsein umfassen kann, was überhaupt relevant ist. Die Zeitschere von Lebenszeit und Weltzeit ist prinzipiell nicht zu schließen, schreibt Blumenberg. Man kann aber auch, und das ist der Weg Steiners, die Augen offen halten und doch träumen, um resolut darauf zu bestehen, alles sei vorgeordnet, nicht nur die Banalitäten hier, sondern auch der Sternenlauf, die Geschichte von Anbeginn und Ende, die Beziehung von allem und jedem, und zwar so, dass dann auch das kleine und nichtige, belanglos-zufällige Leben einen großen, unverzichtbaren Sinn hat, der sich dem erschließt, der Steiners Wachtraum mitträumt. Steiners Suggestion und offenbar nach wie vor anhaltende Wirkung beruhen auf dem ungestillten Sinnbedürfnis und darauf, dass er sich als einer präsentiert hat, der die Antwort und das Lösungswort weiß, die Antwort auf ein Rätsel, das in Wahrheit gar keines mehr ist.

Wie sieht Steiners Lösungsformel aus? Nun, Steiners Grundgedanke ist simpel und zugleich höchst abstrakt. Er hat ein archaisches uraltes Bild aus der Kindheit der Menschheit aufgenommen und modern inszeniert. Der einzelne Mensch ist ein Kosmos im Kleinen, der Kosmos ein Mensch im Großen. Das ist nicht als Bild gemeint, das auch anders sein könnte, sondern es ist wirklich so. Es gibt eine Grundbeziehung zwischen dem Endlichen und Irdischen hier und dem Ewigen und Kosmos dort. Man kann hin und her gehen. Wie wir uns als Menschen erkennen mit Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, so ist die Welt im Ganzen, und schauen wir auf Sonne, Mond und Sterne, auf Stein, Pflanze und Tier, dann erkennen wir uns selbst. In seiner Selbstdarstellung unter dem Titel Mein Lebensgang (5) hat Steiner geschildert, wie er zu seinen Ansichten gekommen ist oder besser: wie sich ihm das Weltgeheimnis erschlossen hat und zuteil geworden ist.

Die angegebene Grundbeziehung lässt sich endlos variieren und instrumentieren. Der Knochenbau des menschlichen Arms enthält nach Steiner die klassische Tonskala, der Zahnbestand deutet auf die intellektuelle Verfassung, die Geometrie ist aus dem Kosmos und aus dem Skelett des Menschen herausgeholt, die Elemente spiegeln die Temperamente, die Temperamente die Weltzeitalter, beides ist in die musikalischen Haltungen verwoben, so dass man einem Kinde das richtige Instrument zuordnen kann: alles hängt mit allem zusammen, ein Zaubergarten, wo eine kleine Bewegung hier eingreift in den großen Weltenplan, so wie sich ja auch die archaischen Völker vorstellen, dass sie mit der symbolischen Darstellung des Regens im Tanz auch wirklich den Regen herbeiführen können. Das Fernste und Entlegenste ist nah, das Nächste und Banalste abgrundtief bedeutsam, was auch immer es sein mag. Im letzten Band einer 1985 herausgekommenen Steiner-Ausgabe sagt das Kurt E. Becker so: “Den individuellen Mensch im Mittelpunkt entfaltet sie [die Anthroposophie, K.P.] – ganz ohne dogmatischen Impetus – ein allumfassendes Koordinatensystem vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Kleinsten zum Größten, vom Vergangenen zum Zukünftigen.” (6) Ganz ohne Dogma? Wohl kaum. Aber man kann schnell sehen, worin der ästhetische Reiz dieses Weltbildes liegt, dieser Harmonie von Mensch, Welt und Geschichte, vor allem dann, wenn der Eingeweihte als ein Visionär verstanden wird, “verbunden mit dem Urquell allen Seins”, wie es da weiter heißt. (7) In diesem Netz der Analogien und Korrespondenzen fehlt nichts, passt alles und hat eine tiefe, bleibende, den Menschen recht würdigende Bedeutung.

In der Tat: Wer hätte nicht gern ein solches Weltbild, das ihn in den Mittelpunkt stellt, wo alles, wie in der Kinderwelt, auf alles einen Reim gibt, wo sich alles um den Einzelnen dreht und nichts mehr zufällig, sondern alles schicksalsnotwendig ist, karmisch-kosmisch, eben anthroposophisch. Nichts geht verloren, keine Geste, kein Wort und kein Opfer, die Gesamtrechnung geht auf ohne Rest und Bruch, so wie Bilder fertig und umschlossen sind, während Verstand und Gedanke immer diskursiv unterwegs und relativ bleiben. Mit der Logik solcher Bilder mag es schlecht bestellt sein, aber ihre Psychologie ist machtvoll, weil sie einem tiefen Bedürfnis, der Sehnsucht nach Sinn, Bedeutung und Relevanz entsprechen. Man sieht hier auch, dass Steiner nicht einfach nur eine Erkenntnislehre und Kosmologie präsentiert hat, sondern eine Lebenslehre und einen Lern- und Erziehungsweg. Die Anthroposophie ist pädagogisch durch und durch. Ja, sie entspricht dem kindlichen Bewusstsein auf eine sublime Weise.

Als Kinder erleben wir unsere Umgebung als Agenten und Opfer; wo die Dinge leibhaft nah begegnen, erscheinen sie wie redende, fühlende Wesen. Das ist, wie es Jean Piaget genannt hat, der Egozentrismus des Kindes, nicht im moralischen Sinne, sondern als Form der Welterfassung. Zu den Enttäuschungen im fortgehenden Leben und Lernen gehört, dass diese Nähe falsch ist. Sonne, Mond und Sterne gehen ihren eigenen Gang, die Dinge sind herzlich unbekümmert und indifferent, durch Tränen nicht und nicht durch Zureden zu bewegen, und selbst die anderen Menschen, die bekannten und unbekannten, sind Fremde in ihren eigenen Welten. Wir möchten das nicht wahrhaben, und Steiner lehrt, dass wir das Weltbild des Kindes als Weltanschauung für Erwachsene bewahren können.

Aber kann man als Erwachsener ernsthaft und nicht nur im symbolischen Spiel solche Kindlichkeit wiederherstellen oder aufrechterhalten, ohne kindisch zu werden? Man kann, Steiner hat es vorgemacht. Natürlich geht das nicht direkt, nicht mehr mit den Gebärden alter Wahrsager und im Prophetenmantel, auch nicht mit wallender Künstlermähne, nein, man muss sich als Wissenschaftsmann im Laborkittel präsentieren, aber eben einer anderen Wissenschaft. Dass Steiner alles erlebt und gesehen hat, die nachtodlichen Lebensgänge von Freunden und Bekannten, auch von Goethe und Schiller, soll eben nicht nur seine Sache sein, sondern wissenschaftlich-methodisch gesichert werden, wie es der Zeitstil verlangt. Der abenteuerliche Gedanke einer kosmisch-biographischen Gesamtrechnung, wo jeder Posten bekannt ist, wird nicht als Glaube, sondern als Ergebnis ernster, bescheidener Sachforschung vorgetragen. Jeder kann es lernen, und die Waldorfschule ist die Vorschule zur Einstimmung in die Erkenntnis der höheren Welten und der Einweihung in die übersinnlichen Reiche. Man will nicht nur blind phantasieren, sondern methodisch phantasieren, dass der “ganze Mensch als kleinster Baustein einer Einheit der Welt und gleichzeitig als Abbild kosmischer Gesamtheiten gelten darf”. (8)

Dazu dienen nun die Schulungsschriften, zur Erlangung der “Erkenntnis höherer Welten”, (9) in denen Steiner seine Gedankenspiele allgemein präsentiert hat. Aber es steht seltsam mit diesem Curriculum fürs Okkulte: zuletzt muss man immer auf die Autorität ihres Erfinders vertrauen, “in devotioneller Haltung” und demutsvoll, und auch dann soll der Initiant immer nur soviel erfahren, wie ihm der Meister zutraut und wessen er würdig ist. Eine kuriose Schule, in der man erst versichern muss, recht brav zu sein, ehe man wissen darf. Aber zuletzt hat der Meister dann doch das Beste für sich behalten, nämlich welche Inkarnation er denn nun eigentlich gewesen sei – ein neuer Christus oder Buddha? Ein wiedererstandener Franziskanerspiritual oder nichts von alledem, sondern nur ein belesener Eidetiker mit dem zweiten Gesicht?

Die Anhänger und Glaubenswilligen kann dieser Schleier über dem Mysterium des Dr. Steiner nicht anfechten; im Gegenteil. Nicht wenige haben größere Sympathie mit dem, was sie nicht begreifen, als mit dem Verständlichen, von dem sie wissen, dass es wenig genug ist. In einer Lage, wo keiner weiß, was alle zusammen wissen, und alle zusammen nicht wissen, was noch erforscht und in Zukunft gewusst werden wird, erscheint für viele der Ausweg verlockend, gleich an der Stelle Halt zu machen, wo sie gerade sind und sich damit zu beruhigen, ein anderer habe alles gewusst, gesehen und geschaut.

Der Anfang als Ende und Erfüllung: es gibt keinen besseren Immunschutz gegen die immer neuen Zumutungen, Innovationen und wechselnden Perspektiven, gegen den Dauerstreit um Werte und Positionen und gegen die technischen Folgen eines losgelassenen Wissens. Probleme und Fragen gibt es genug und übergenug; bei Steiner ist Ankunft, Erfüllung und Ende – eben das Weltbild des Kindes als Weltanschauung für Erwachsene. Und es dürfte nicht nur die Gunst der gegenwärtig vielfach bemerkbaren Wende-Stimmung sein, die dem Rezept gegen Wandel, Neuerung, Unsicherheit einen wachsenden Markt verschafft. Sinn wird auch in Zukunft ein knappes Gut bleiben, und solange die falsche Erwartung besteht, man könne Sinn bei Institutionen oder Personen wie vorgefertigt abholen und sich bedienen lassen, dürfen auch die Propheten und die Missionare, die Bhagwans und ebenso die Dornacher Geisterforscher davon ausgehen, dass sie nicht auf ihrem Angebot sitzen bleiben.

Soviel zum Allgemeinen, jetzt zur Anthroposophie als Erziehungslehre.

Die Waldorfschule als Bekenntnisschule

Mit der zweiten These möchte ich zeigen, dass die Waldorfpädagogik den Einstieg in die Anthroposophie darstellt und dass die Waldorfschule eine Bekenntnisschule ist. Das ist aber etwas, was die Anthroposophen bestreiten. Sie stellen ihre Schularbeit als selbstlosen Dienst hin und weisen es weit von sich, dass sie ihren Nachwuchs über schulische Bildung rekrutieren. Anthroposophie werde nicht “gelehrt”. Das mag richtig sein, insoweit nämlich, als Anthroposophie überhaupt nicht gelehrt wird wie der Satz des Pythagoras oder die Hauptsätze der Thermodynamik. Sie wird eingeübt und der Schüler soll mitgehen und eintauchen, er soll die Grundbewegung und die Optik miterlebend nachvollziehen; das gilt für die höhere Schulung, und es gilt für die Vorschule der Anthroposophie, die Waldorfschule. Steiner hat das auch klar gesagt: Wer die Waldorfschule kennen lernen und verstehen wolle, der solle nicht hospitieren, um sich mal einen Eindruck zu verschaffen, das sei naiv; er würde das Eigentliche gar nicht bemerken. Das könne er erst, wenn er Anthroposophie gelernt und studiert habe. Darin ist Steiner beizupflichten; man muss den anthroposophischen Blick wenigstens probeweise übernehmen, sonst versteht man gar nicht, wie das gemeint ist, was man da zu sehen bekommt. Das gilt für die Waldorfschule, das gilt im Übrigen auch sonst für Hospitationen. Daraus folgt aber nicht, dass man nicht kritisch und distanziert beobachten könne und nur versteht, was einem von Herzen zusagt.

Was ist nun das Besondere des Waldorfunterrichts? Jeder Unterricht, egal ob in der Waldorfschule oder sonst, hat es mit drei Momenten zu tun. Es gibt immer etwas, was gelernt werden soll, das Thema, es gibt den oder die Lernenden und den Lehrer, der zwischen dem Thema und dem Schüler vermittelt. Man hat das auch das didaktische Dreieck genannt. Egal, ob ich jemandem beibringe, wie er ein Auto fährt oder Horaz übersetzt, wie man Gleichungen mit zwei Unbekannten löst oder wie man höhere Welten erkennt, immer geht es um das dreiseitige Verhältnis zwischen Lernthema, Schüler und Lehrer. Das Entscheidende ist, wie diese drei Momente jeweils aufeinander bezogen werden, wie sie relationiert werden. Wenn ich die Bergpredigt als göttliche Weisung behandle, bin ich Pastor und verkündige, die Schüler werden zu Hörern des Worts; betrachte ich die Bergpredigt als literarischen Text einer bestimmten Zeit und Autorenschaft, dann bin ich Lehrer im sokratischen Sinne, einer der klar macht und einordnet, und es dem Schüler überlässt, was er nimmt und daraus macht; und betrachte ich die Bergpredigt wie Franz Alt als Rezept zur Lösung der Weltfriedensfrage, dann präsentiere ich mich als Ratgeber für Klienten, die ein bisher ungelöstes, aber lösbares Problem haben.

In allen drei Varianten richtet sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis einerseits nach dem Verständnis des Themas; aber auch das Thema (der so genannte Lehrstoff) erscheint andererseits so, wie er präsentiert wird, das heißt: je nachdem, ob sich der Lehrende als Sprachrohr ewiger Wahrheiten oder als Informator über Sachverhalte oder als beratender Trainer für Lebensprobleme versteht und inszeniert. Wie bringt also der Waldorfunterricht Thema, Lehrer und Schüler zusammen? Wie werden die didaktischen Grundgrößen relationiert? Ich gehe von dem Thema aus. Anders als viele meinen, hat die Waldorfschule wie üblicherweise alle Schulen ein Curriculum, d. h. einen festen Themen- und Lehrplan mit wohldefinierten Fächern und spezifischen Themen in den Fächern. (10) Der alles entscheidende Punkt ist nun, wie die Themen eingeführt werden, weil dadurch eben auch bestimmt wird, ob wir es im Unterricht mit dem Verhältnis von Lehrer und Schüler wie bei Sokrates zu tun haben, oder um das Verhältnis von Meister und Jünger wie in einem Noviziat. Das Besondere der Waldorfschule ist, dass sie entschieden und einseitig das Weltbild und Menschenbild der Anthroposophie über den Sach- und Fachunterricht transportiert. Aber sie tut das nicht direkt, so dass man prüfen und wählen kann, sondern indirekt, sie tut es nicht ausdrücklich und offen, sondern gewissermaßen subversiv über die Methode des Unterrichts. Es ist die Methode der Ausbildung von Bildern, das Hineinbilden in das Weltbild der Anthroposophie, in ihren Grundgestus und ihre Haltung devotioneller Stimmungen. Steiner hat sich dazu auch ganz klar ausgesprochen. Wir müssen, sagt er, die späteren Gedanken und Urteile durch Bilder vorbereiten, er sagt dazu auch: “infiltrieren”. Es kommt für das Kind im Schulalter, also zwischen dem sechsten Lebensjahr und der Pubertät nicht darauf an, alles zu begreifen und begrifflich zu erfassen, sondern es muss mit Bildern ergriffen werden, die es übernimmt, weil es dem Lehrer glaubt. Wenn also z. B. die Raupe behandelt wird, dann geht es nicht allein um die Raupe, sondern in dem Bild, wie die Raupe aus dem Kokon herausschlüpft, gibt man ein Bild dafür, wie die Seele aus dem Körper entweicht und dann weiterlebt. (11) Das ist aber nicht nur ein Bild, das auch anders sein könnte, nicht nur ein beliebiges Gleichnis, sondern das ist wirklich so – natürlich nur für einen Anthroposophen. Und dem Kind soll nicht etwas suggeriert werden, was der Lehrer besser und anders weiß, sondern auch der Lehrer weiß, dass in der Raupe ein Analogon der Unsterblichkeit vorliegt; denn wir wissen ja schon: Alles Endliche, was wir sehen, ist eine Parallelaktion zu einem Unendlichen und Ewigen, das wir noch nicht sehen.

Die Grundform des Unterrichts in der Waldorfschule ist deshalb das “Charakterisieren”, das schärft Steiner immer wieder ein. Charakterisieren ist Darstellung einer Sache unter wertenden Gesichtspunkten. Es wird charakterisierend erzählt, und was erzählt wird, wird nachvollzogen, miterlebt, gestaltet und in Darstellung umgesetzt, sei es leibhaft-rhythmisch in der Eurhythmie, sei es im gestaltenden Malen oder Schnitzen oder Plastizieren. Man muss Bilder geben und Bilder erzeugen, nicht Begriffe und Urteile; denn Bilder motivieren, führen zusammen, sie geben Einheit, weil Bilder ein Ganzes sind, sinnlich erfahrbar und seelisch erlebbar. Später dann sind die Bilder Grundlage und Fundus der Gedanken und Urteile, aber zuerst bedarf es gleichsam einer Auffüllung mit inhaltlich und moralisch gehaltvollen Anschauungsbildern. Ich will auf diesen Punkt besonders eingehen. Er enthält eine wichtige Einsicht und erklärt die relativen Erfolge der Waldorfschule. Er enthält aber auch eine gefährliche Nuance. Davon gleich. Dass Bilder und auch Scheinbilder, sozusagen semantische und syntaktische Metaphern, motivieren, kann man sich leicht klarmachen. Wenn wir uns für allgemeine Zwecke begeistern oder begeistert werden sollen, dann können wir rufen: “Hoch lebe Kaiser Wilhelm!” oder im Fußball etwa: “Deutschland vor!” oder auch: “Rettet das Vaterland!”; wir würden es aber als ganz unnatürlich und ziemlich wirkungslos empfinden, wenn uns zugerufen würde: “Hoch lebe das kommunikative Apriori des herrschaftsfreien Diskurses” oder “Kämpft für die pluralistische, im Grundgesetz durch Konsens formulierte Gesellschaft nach den Regeln des demokratischen Verfassungsstaates”. Das sind rationale Nachträge und Erläuterungen, nicht Motive. Man schwört auf die Bibel oder eine Fahne, nicht auf Theoreme. Bilder motivieren, nicht Argumente, und wenn Argumente motivieren und etwas bewegen sollen, muss man sie in schlagkräftige Slogans und Bildkürzel umwandeln: “Nieder mit den Kapitalisten!” oder “Schlesien ist unser!” Die Frage ist, welche Bilder sollen gelten und wie soll man sich zu ihnen stellen? Das lässt sich unterschiedlich beantworten, und ich will das noch einmal vergleichend verdeutlichen, indem ich auf eine Quelle eingehe, die sowohl Steiner wie Freud benutzt haben. Beide sind schon in ihrer Schulzeit mit der Psychologie Johann Friedrich Herbarts bekannt geworden. Das lag an dem österreichischen Schulsystem und dem Lehrplan der Zeit. (12) Herbart hat eine Lehre von den Vorstellungen aufgestellt, die die Grundlage seiner Pädagogik ist. Der Kerngedanke ist: wir können uns nicht nichts vorstellen. Ich sage jetzt das Wort “Hund” oder “Baum”, und Sie haben ein Vorstellungsbild. Das nehme ich wenigstens an. Und wo ein Vorstellungsbild ist – Herbart sagt: wo Schein ist, denn das Bild ist ja nicht die Wirklichkeit –, da muss auch Sein gegeben sein. “Wieviel Schein soviel Hindeutung auf das Sein”, heißt es bei Herbart. (13) So wie es eine Fotografie von einem Menschen nur gibt, wenn es den Menschen gibt, so kann es Bilder nur mit einem Grund geben, dem Sein. Man kann auch volkstümlich sagen: Wo Rauch ist, muss auch Feuer sein. Fragt sich nur, welches Feuer – nämlich ein wirkliches oder nur ein eingebildetes Feuer. Das ist der entscheidende Punkt, wo Steiner und Freud auseinandergehen. Man kann den Bildern nicht einfach trauen; sie enthalten auch unerklärte, verworrene, destruktive Motive. Freud hat deshalb auch die Wahnbilder und Trugbilder untersucht und aufzulösen gesucht, die Verschiebungen und Verdeckungen, um ihrem Bann zu entgehen, Steiner bestärkt ihren Bann und führt so in sie ein, dass man ihnen nicht mehr entrinnen kann.

Dazu ein Beispiel ohne jeden Nimbus und weihevolles Tabu. Wir alle kennen die Rede vom Weihnachtsmann. Ich unterstelle einmal, dass es Weihnachtsmänner nicht gibt, aber es gibt das Bild des Weihnachtsmanns, und es ist für Kinder höchst wirkungsvoll, eingebunden in Geschichten, Träume und Erwartungen, nicht eigentlich wirklich, aber eben doch wirksam. Im Übrigen für manche Eltern auch pädagogisch praktisch; man kann damit drohen und locken, solange das Kind an den Weihnachtsmann glaubt, und man nimmt dem kleinen Kind auch etwas, wenn man die Weihnachtsmannfiktion nicht anbietet, weil es ihn ja nicht gibt, so wie man ihm etwas nimmt, wenn man ihm keine Märchen als Identifikationsobjekte anbietet, weil Märchen nur Märchen sind. Dann lernt das Kind aber, dass es Weihnachtsmänner nicht gibt, das Bild verliert seine Kraft, es motiviert nicht mehr direkt. Das ist Verlust und Gewinn, Verlust einer wohltätigen Illusion und Gewinn an Realitätssinn.

Die Pädagogik der Waldorfschule ist, mit Verlaub, eine Weihnachtsmannpädagogik. Sie führt ein in die Bilderwelt, als ob sie unmittelbar wahr seien, sozusagen Fotografien des Absoluten. Es wird wie in Steiners Erkenntnislehre laufend von der Wirklichkeit des Vorstellens auf die Wirklichkeit des Vorgestellten geschlossen. Das ist die Logik des eingebildeten Kranken, der zwar seine Schmerzen hat und unter Leidensdruck steht, aber nachprüfbar eben doch nicht krank ist. Um die Realität der Bilder tief einzuprägen, verfährt die Waldorfpädagogik ausdrücklich charakterisierend, bietet Bilder, vermeidet ihre Erklärung, das würde ihren Bann aufheben, und dazu braucht sie, wie jeder weiß, der erzählt und charakterisiert, auch eine spezifische Autorität des Lehrers, die so genannte geliebte Autorität; in Wahrheit, so wird es auch gesagt, ist es eine weihepriesterliche Stellung und Selbstauffassung des Lehrers, nicht das sokratische Vorbild des Gesprächsführers, sondern das religiöse Vorbild des Seelenführers. Aus diesem didaktischen Grundverhältnis ergibt sich alles Weitere: die Organisation der Schule, die Verachtung prozeduraler Sicherheiten und Revisionsmöglichkeiten, die tief gelagerte Verhaltenssicherheit, das Einlehrerprinzip, um die Einheitswirkung der Bilder und einer bestimmten Bilderreihe zu garantieren, daraus ergibt sich auch die Form der Zeugnisgebung.

Der Lehrer unterrichtet nicht nur und prüft, was gelernt ist, sondern er erfasst das Kind wesensmäßig und gibt ihm das Bild zurück, das er von ihm hat. So wie der Unterricht in Hinsicht auf die Themen und Stoffe charakterisierend verfährt, um Motivdepots zu installieren, so verfährt der Lehrer in Hinsicht auf das Kind, indem er ihm z. B. im Zeugnisspruch ein Wesen zuspricht, indem er sagt, wie es lernt, wie es teilnimmt, wie es einschwingt in Bezüge und wie es die Geschichten aufnimmt, die es zu hören hat. Das Kind wird nicht daran gemessen, wie es definierten Standards der Aneignung eines Lehrgutes entspricht, sondern wie es dem Lehrer entspricht und dem, wofür er einsteht. Das Waldorfzeugnis ist eine erweiterte und spezifizierte Form der Beurteilung des Verhaltens und des Betragens, der Beteiligung am Unterricht und der Form, wie der Lernende sich auf den Unterricht einlässt. Er wird am Lehrer gemessen, nicht daran, ob er Geometrie oder Geschichte erkennbar gelernt hat. Die neuere Forschung zur sozialen Interaktion hat gezeigt, wie solche Zuschreibungen oder Etikettierungen stabilisiert werden können, z. B. über Ritualisierung, über den Ausschluss alternativer Orientierungen, über die Androhung und Anwendung von Sanktionen. Aus Zuschreibungen, aus der Art, wie jemand gesehen und behandelt wird, werden Eigenschaften, die er sich selbst zurechnet. Er wird so, wie er gesehen wird, und so soll er ja auch werden. Und das umso mehr, als ja das Widerlager einer Kompetenz fehlt, die unabhängig von der persönlichen Beziehung zum Lehrer begründet ist.

In der Kritik an der gängigen Zensurengebung wird zu Recht vorgetragen, dass in die Zensur ein Übermaß an persönlicher Meinung, an Sympathie oder Antipathie eingeht; es gibt nicht genug Sicherungen gegen das subjektive Urteil und deshalb muss man sich bemühen, die Zensur auf das Prüfbare zu beschränken und Formen der objektiveren Beurteilung zu finden. Die Waldorfschule verfährt von vornherein subjektiv und spricht dem Lehrer in seiner weihepriesterlichen Stellung als Seelenführer von vornherein die Aufgabe und Fähigkeit zu, das Wesen des Kindes zu erfassen und formulieren zu können. Sie ist der üblichen Zensurengebung nicht überlegen und voraus; sie hat vielmehr einen Modus der Personenbeschreibung und charakterlichen Würdigung festgehalten, der vormodern ist; die Zensurengebung und Zeugnisgebung ist überschwänglich; so musste man sich in der Feudalzeit das Empfehlungsschreiben einer Reputationsgröße verschaffen.

Ich fasse diesen Punkt so zusammen: Die Pädagogik der Waldorfschule beruht auf der Technik der Indoktrination. Sie besteht darin, Lerninhalte, Verhalten und Gesinnungen fest zu verkoppeln. Sie wird gestützt durch Gewissheiten, die gläubig und Glauben fordernd vorgetragen werden; Gewissheiten, die einzig und allein auf der Annahme beruhen, der “Doktor” habe als Fotograf des Übersinnlichen etwas festgehalten, was die blinden Sinnenwesen irgendwann auch einmal sehen werden. Es gibt keine andere Pädagogik, die mit solcher Einseitigkeit auf die Behauptungen eines Einzelnen gestellt sind, darunter solche von höchster Bedenklichkeit, die im Herrschaftston überweltlicher Weisheit und Einsicht verkündet werden. Als Beleg und zur Illustration nur dieses Beispiel: Warum sind einige Menschen nicht “weiß”, wie die meisten Europäer, sondern dunkel bis schwarz? Die wissenschaftliche Antwort wird üblicherweise in der Physischen Anthropologie gesucht. Dr. Steiner jedoch weiß es besser und tiefer. Dass jemand dunkel auf die Welt kommt, liegt daran, dass er in seinem vorherigen Leben ein “dunkles”, verderbliches Leben geführt hat. (14) Mehr noch: Er könne jetzt schon bei einigen Zeitgenossen voraussagen, dass sie in der nächstfälligen Inkarnation als Schwarze auf die Welt kämen, zur Strafe für ihre Schandtaten. Das ist die feine anthroposophische Art des Rassismus. Ebenso werden Krankheiten, Missbildungen, Geistesstörungen als Ergebnis früherer moralischer Verfehlungen gedeutet.

Die Zukunft einer Illusionierung

Damit bin ich beim dritten und letzten Punkt, der sich kurz abhandeln lässt. Es ist nach allem klar, dass die Aufklärer und Kant, dass die furchtlosen Kritiker des Aberglaubens, die z. B. gegen den Wahnsinn der Verfolgungen und Gesinnungsschnüffelei Front gemacht haben, für die Waldorfpädagogik umsonst gelebt haben. Der Geist der Prüfung und offenen Erörterung, der Kritik und Selbstkritik ist nicht der Geist des Dr. Steiner und seiner Anhänger, auch nicht der Geist der Differenzierung und der weitergehenden Forschung. Das aber ist der Geist der Demokratie und einer “offenen Gesellschaft” (Karl Popper), um es kurz zu sagen. Er beruht nicht auf Offenbarungen und ewigen Ordnungen, sondern er rechnet mit der Fehlbarkeit und Irrtumsanfälligkeit eines jeden, so dass auch keiner ein für allemal das letzte Wort haben und kein Amt unwiderruflich und auf unbeschränkte Dauer vergeben werden darf. Wir handeln unter Bedingungen der Ungewissheit und Unsicherheit. Deshalb müssen wir uns vorher beraten und uns hinterher prüfen lassen, um uns korrigieren zu können.

Doch diese prinzipiell unaufhebbare Vorläufigkeit in allen Dingen, die unseren gemeinschaftlichen Umgang betreffen, erscheint vielen als unbefriedigend und als Störung ihres Wunsches, ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Sie erscheint aber vor allem dann als unliebsame Blockade, wenn man andere regieren und über sie herrschen will. Das erste betrifft Steiners Gefolgschaft, das zweite ihn selbst. Diejenigen, die nach letzter Sicherheit und Gewissheit streben, bringen die Chancen des Urteils und eigener Prüfung als Morgengabe ihrer Unterwerfung unter das Diktat derer, die diese Unsicherheit ausbeuten und im Namen des Dienstes, der Liebe und der huldreichen Zuwendung ihre Herrschaft aufrichten. Es verhält sich hier wie mit der tief verdächtigen Selbstbeschreibung der Papstautorität als servus servorum: Die gesteigerte Dienstfertigkeit ist die Maske des Unterwerfungsanspruchs. Man sollte meinen, dass das letzte Jahrhundert genug Machtmissbrauch, regellose Herrschaft und blanke Gewalt im Namen des wahren Fortschritts, der Freiheit und des allgemeinen Menschenglücks erlebt hat, als dass es noch erlaubt wäre, auf totale Antworten und letzte Lösungen zu setzen.

Das Problem heißt aber nicht Rudolf Steiner. Seine physikalischen, historischen, psychologischen Ansichten werden in der Wissenschaft nicht beachtet; das Problem ist die Folge- und Unterwerfungsbereitschaft derer, die im Namen von Wissenschaft ihre Aufhebung wollen und faktisch betreiben. Die Nutznießer sind die Gurus und Seelenführer, die Agenten des Okkultismus und – um dies mit aller Deutlichkeit zu sagen – auch diejenigen Pädagogen, die glauben, den Kindern zu helfen, das Leben zu bestehen, indem sie ihnen eine Welt präsentieren, die nur in ihrer Phantasie besteht. Der Lehrer bleibt in der Waldorfwelt, aber die Kinder und die Schüler müssen sie verlassen und haben in vielen Fällen schwer daran zu leiden, es sei denn, dass sie als Lehrer in den sicheren Hafen der Waldorfwelt zurückkehren.

Dennoch bleibt das Problem bestehen, mit dem ich begonnen habe: Wir finden uns nur schwer in einer sich wandelnden Welt zurecht, die keine bleibenden Sinnangebote bietet und dem Einzelnen zumutet, seine individuelle Gleichung von Fall zu Fall selber zu finden. Doch eben damit müssen wir wohl oder übel zurechtkommen und sei es mit dem Zwinkern der Auguren, an das die Bohr-Anekdote erinnern sollte. Es mag noch andere Formen der Kontingenzbewältigung geben, aber eines scheint mir sicher: Dr. Steiner und die Seinen haben dafür keine vertretbare Antwort.

Zum Autor: Prof. em. Dr. Klaus Prange, Jahrgang 1939, Emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Pädagogische Anthropologie als Anthropologie des Lernens und die Pädagogische Ethik.

Kontakt zu Klaus Prange: via Stefan Laurin, stefan.laurin(at)ruhrbarone.de

Zum Text: erschienen in „Mission Klassenzimmer. Zum Einfluss von Religion und Esoterik auf Bildung und Erziehung“, Alibri Verlag, Aschaffenburg, 2005, ISBN 3-932710-78-9

Fußnoten:

[1]              Vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M. 1986.

[2]              Vgl. Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. München 1985.

[3]              Vgl. Prange, Klaus: Erziehung zur Anthroposophie, Bad Heilbrunn 32000.

[4]              Freud, Sigmund: Die Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917), in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London 1947.

[5]              Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang [1923-1925]. Dornach 1962. (Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 28)

[6]              Becker, Kurt E.: Im Mittelpunkt: der Mensch, in: Rudolf Steiner: Ausgewählte Werke, Bd. 10. Hrsg. von K. E. Becker und H.-P. Schreiner, Frankfurt a.M. 1985, S. 17.

[7]              Ebd., S. 18.

[8]              Becker, Kurt E.: Im Mittelpunkt: der Mensch, S. 17.

[9]              Vgl. Steiner, Rudolf: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904), in: Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 10, Dornach 1975.

[10]              Vgl. Brügge, Peter: Die Anthroposophen. Hamburg 1984, S. 96.

[11]              Vgl. Steiner, Rudolf: Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches [1919], in: Steiner-Gesamtausgabe, Bd. 15, Dornach 1932.

[12]              Vgl. Prange, Klaus: Fermenta cognitionis – Zur Herbart-Rezeption in Kakanien, in: “Knaben müssen gewagt werden” – Johann Friedrich Herbart gestern und heute. Hrsg. von K. Klattenhoff, Oldenburg 1997.

[13]              Herbart, Johann Friedrich: Hauptpunkte der Metaphysik [1806], in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Aalen 1964, S. 187.

[14]              So nachzulesen in den “Konferenzgesprächen” (Bd. 300 c der Gesamtausgabe, Dornach 1975, S. 71).

Literatur

Becker, Kurt E.: Im Mittelpunkt: der Mensch, in: Rudolf Steiner: Ausgewählte Werke (10 Bände), Bd. 10, hrsg. von K. E. Becker und H.-P. Schreiner. Frankfurt 1985.

Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt 1986.

Brügge, Peter: Die Anthroposophen. Hamburg 1984.

Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917], in: Gesammelte Werke, Bd. 12, London 1947.

Herbart, Johann Friedrich: Hauptpunkte der Metaphysik [1806], in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Aalen 1964.

Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. München 1985.

Prange, Klaus: Erziehung zur Anthroposophie. Darstellung und Kritik der Waldorfpädagogik. Bad Heilbrunn 32000.

Prange, Klaus: Fermenta cognitionis – Zur Herbart-Rezeption in Kakanien, in: “Knaben müssen gewagt werden” – Johann Friedrich Herbart gestern und heute, hrsg. von K. Klattenhoff, Oldenburg 1997.

Steiner, Rudolf: Mein Lebensgang [1923-1925], Steiner-Gesamtausgabe (= GA), Bd. 28, Dornach 1962.

Steiner, Rudolf: Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches. Ein Vortragskurs bei der Begründung der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919, in: GA, Bd. 15, Dornach 1932.

Steiner, Rudolf: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? [1904], in: GA, Bd. 10, Dornach 1975.

Foto: Uni Oldenburg

Jetzt ist es raus. Nacktscanner-Petition gescheitert

nacktscannerDie Online-Petition gegen die Nacktscanner ist gescheitert. Jetzt ist es klar. Nur 17109 Leute haben gegen die Durchleuchtung der Unterwäsche an Flughäfen und so weiter unterschrieben. Damit die Nummer im Petitionsausschuss hätte verhandelt werden müssen, hätten 50.000 Leute unterschreiben müssen. Die Würde des einzelnen war wohl im Netz nicht sexy genug. Schade.

Jetzt wird die Petition zwar noch geprüft und vielleicht wird sie auch im Bundestag verhandelt, aber eben nur vielleicht. Jedem Politiker wurde klar, dass die Nacktscanner nicht DER Aufreger sind. Das ist die Realität. Ich finde es doof, wie ich hier erklärt habe. klack.
Hier der Text der Petition nochmal als Erinnerung:

Der Deutsche Bundestag möge sich dafür aussprechen keine Ganzkörperscanner (auch Nacktscanner genannt) an deutschen Flughäfen zuzulassen.

Begründung:

Der Einsatz von Nacktscanner ist ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Flugreisenden und ein Angriff auf die Menschenwürde die durch Artikel 1 des Grundgesetzes besonders geschützt ist.

Bildnachweis: Transportation Security Administration / WikiMedia Commons

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AMI Leipzig: BMW Tadaradaaadaa Tadaradaaadaa

SUV: Im Galopp zum Streetbanging. Von Gastautor Manfred Ganswindt.

Die Zukunft des Automobils: Im April öffnen sich die Leipziger Pforten für die Automobilmesse „Auto Mobil International“ (AMI). Wir greifen vor und stellen einen heißen Boliden der Zukunft vor. (Damit man weiß unter wessen Räder man kommt.)

BMW-Kunden bemängeln häufig, dass sich das auf der Autobahn einzigartige Überholprestige ihres Geländewagens im dichten Innenstadtverkehr, zwischen Horden von Fussgängern, verlieren würde.

BMWs innovative Ingenieure bauten kurzerhand die Walküre in das Fahrzeug ein. Wagners Oper wird über die Karosserie abgestrahlt, die aus dem selben schwingungsfreundlichen Aluminium besteht wie die Membranen der bekannten Bassboxen von Larry Hartke. Wie erwartet stellt sich der großzügige Fahrgastraum als idealer Resonanzkörper heraus. Narrensicher: Die Lautstärke wird über das Gaspedal geregelt. Tritt man das Gaspedal ganz durch, schaltet sich der Kickdown ein: Die Oper springt augenblicklich zum Walkürenritt.

Von Gastautor Manfred Ganswindt.

Ruhrunis noch nicht auf doppelte Abiturjahrgänge vorbereitet

Die Universitäten im Ruhrgebiet stehen vor dem größten Ansturm von Studienanfängern, den es je gegeben hat. Wenn in drei Jahren die doppelten Abiturjahrgänge in Nordrhein-Westfalen die Schulen verlassen, wird die Zahl der Studienanfänger im Vergleich zu 2005 um fast ein Drittel steigen und erstmals die 100.000-Grenze überschreiten. In den vergangenen Jahren sind schon zusätzliche Studienplätze geschaffen worden, doch das reicht bei weitem nicht aus. In diesen Tagen beginnt das NRW-Wissenschaftsministerium mit den Universitäten darüber zu verhandeln, wie viele zusätzliche Studienplätze möglich sind. Doch ob die Universitäten dem Ansturm gewachsen sind, ist fraglich. Schon jetzt hat zum Beispiel die Mensa der TU-Dortmund ihre Kapazität überschritten und die Hörsäle der Ruhr-Uni Bochum sind laut dem dortigen Asta gerade bei den Geisteswissenschaften dauernd überfüllt.

„Ich war ja auch mal Ersti, aber was hier im Oktober los war, ist schon extrem gewesen. S-Bahn, Mensa, Cafes und die Hörsäle, alles überfüllt – total nervig“, sagt Katja Weidlich, Studentin der Erziehungswissenschaften an der TU-Dortmund. 4.000 Abiturienten haben zum Wintersemester ein Studium an der TU begonnen, 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Mit den 8.000 Studenten der FH Dortmund, sind nun 30.000 Menschen auf dem Dortmunder Campus unterwegs. Ähnlich sieht es in Duisburg und Essen aus, wo die Zahl der Studienanfänger um gut 8 Prozent auf 5.000 anstieg. Und auch in Bochum werden es jedes Jahr mehr. In den letzten fünf Jahren hat sich dort die Zahl der Studierenden um 1.600 auf mehr als 32.000 erhöht.

Das alles ist nur ein Vorgeschmack, auf das was bis 2015 auf die Universitäten zukommt. Bis dahin werden neun Bundesländer ihr Abitur von 13 auf 12 Jahren verkürzen. Hamburg macht in diesem Jahr den Anfang, nächstes Jahr folgen Bayern und Niedersachen, 2012 dann Baden-Württemberg, Berlin, Bremen und Brandenburg, bevor 2013 Nordrhein-Westfalen und Hessen den Abschluss bilden. Die Kultusministerkonferenz rechnet bis 2015 deutschlandweit mit 275.000 zusätzlichen Studienanfängern. Um die Hochschulen darauf vorzubereiten, sollen in den nächsten zehn Jahren 18 Milliarden zusätzlich in die deutschen Hochschulen investiert werden.

Das Land NRW stellt zu seinen jährlichen Zuschüssen von drei Milliarden Euro noch mal 1,8 Milliarden Euro für die nächsten fünf Jahre bereit. Darüber wie dieser Batzen Geld verteilt werden soll, wird in diesen Tagen verhandelt. Die Hochschulen sollen verbindlich erklären, welchen Anteil sie leisten können, um gut 130.000 neue Studienplätze zu schaffen.

Beim NRW-Wissenschaftsministerium gibt man sich zuversichtlich. Sprecher André Zimmermann: „Wir werden mit den Hochschulen Zielvereinbarungen schließen, in denen wir ganz genau festhalten, wie viele zusätzliche Studienplätze jede Hochschule einrichtet. Damit haben wir schon gute Erfahrungen gemacht“. Und tatsächlich sind in den vergangenen fünf Jahren 26.000 neue Plätze an den Hochschulen in NRW entstanden. Finanziert über ein Prämiensystem. Für jeden zusätzlichen Studienanfänger gab es Geld. Wenn eine Hochschule Studenten über ihrer Kapazität aufnahm, wurde der Betrag durch eine Extraprämie sogar verdreifacht. Bis zu 20.000 Euro Prämie pro Studienanfänger wurde gezahlt. Nach dem gleichen System sollen jetzt die noch fehlenden 130.000 Studienplätze in NRW geschaffen werden. Martin Schmidt von der vom Asta der Ruhr-Uni Bochum hält von diesem System wenig: „Wir sehen das sehr kritisch und befürchten, dass sich gerade durch die Extraprämie die Studienbedingungen noch verschlechtern werden.“ Schmidt hat eh den Eindruck, dass die RUB auf die doppelten Abiturjahrgänge sehr schlecht vorbereitet ist: „Schon jetzt platzen die Gebäude aus allen Nähten, die Platzsituation ist desolat und da bringen auch neue Professorenstellen keine Verbesserung.“

Aber, ob überhaupt neue Professoren eingestellt werden, ist unklar. Drei Jahre vor dem großen Ansturm auf die Ruhrgebietsuniversitäten gibt man sich da noch recht wortkarg. Die Frage, wie viele zusätzliche Professuren geschaffen werden sollen, konnte uns nur die Universität Duisburg-Essen beantworten. Dort sollen 24 zusätzliche Professoren eingestellt werden, sagt Pressesprecherin Beate Kostka. Jetzt werde man in den Verhandlungen mit dem Wissenschaftsministerium aber in ersten Linie auf zusätzliche Hörsaal- und Seminarkapazitäten drängen.
Geld für Baumaßnahmen ist da. Acht Milliarden Euro will das Land den Hochschulen bis 2010 zur Verfügung stellen. 290 Millionen sind bei der Ruhr-Uni Bochum schon fest verplant. Dort werden als erstes Gebäude der Ingenieur- und Gesellschaftswissenschaften saniert. Doch Ministeriumssprecher Zimmermann macht auch klar, dass das die Milliarden nicht für Neubauten gedacht sind, die die zusätzlichen Studierenden Platz bieten sollen: „Es dürfen keine dauerhaften Kapazitäten aufgebaut werden, die nach 2020 nicht mehr benötigt werden. Daher geht es sowohl bei Personal als auch beim Raumbedarf um befristete Lösungen“. Konkret heißt das: Universitäten sollen Räume anmieten und schon einige Jahre bevor Professoren ausscheiden ihre Nachfolger einstellen. Denn schon nach 2013 rechnet das Ministerium wieder mit sinkenden Zahlen von Studienanfängern an den Universitäten.

Neben all diesen großen, offenen Fragen, bleiben auch noch viele praktische Probleme. Wie werden zum Beispiel die Mensen der Ruhruniversitäten den größeren Andrang bewältigen können? In Dortmund hat man sich dazu schon Gedanken gemacht aber die große Lösung nicht gefunden. Rainer Niebur, der Geschäftsführer des Studentenwerk Dortmund: „Unsere Mensa ist schon jetzt technisch am Anschlag. Wir spülen zum Beispiel 38 Tabletts pro Minute, obwohl die Maschinen nur für 30 ausgelegt sind.“ Geld für die dringende technische Aufrüstung der Mensa stellt das Land aber nicht zur Verfügung. Deshalb ist unklar, ob sich in den nächsten Jahren überhaupt etwas verbessern wird. Um nicht völlig unvorbereitet zu sein, will das Studentenwerk jetzt ein Fahrzeug anschaffen, aus dem warmes und kaltes Essen verkauft werden soll. Zu Stoßzeiten soll dieses Fahrzeug vor der Mensa stehen. Außerdem hofft Niebur auf den Anbau der Fachhochschule Dortmund. Dort soll ein Gastronomieangebot mit 190 Sitzplätzen geschaffen werden.

Auch die Verkehrsbetriebe haben sich noch nicht auf die zusätzlichen Studierenden eingestellt. Ob zum Beispiel die S1 die TU Dortmund öfter anfahren wird, konnte man mir beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr nicht sagen. Die Bogestra in Bochum sieht ebenfalls kaum Möglichkeiten, die U 35 öfter zur Ruhr-Uni fahren zu lassen. „Zu Stoßzeiten fahren wir schon im zweieinhalb-Minuten-Takt. Mehr geht nicht“ sagt Sprecher Christoph Kollmann.

Aber nicht nur auf dem Campus wird der Ansturm neuer Studierender für Probleme sorgen. Auch die Wohnheimplätze in Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund dürften knapp werden. Schon jetzt müssen Studierenden oft monatelang auf ein Zimmer warten. Das Studentenwerk Dortmund hat jetzt einen Arbeitskreis gegründet, um Lösungen für dieses Problem zu finden.

Das Jahr 2013 bringt also eine Menge Herausforderungen für die Universitäten und Fachhochschulen im Ruhrgebiet mit sich. Hier ist schnelles Handeln gefragt, damit das Versprechen von Wissenschaftsminister Pinkwart auch eingehalten werden kann. Im Landtag sagte er: „Jeder Studieninteressierte wird 2013 und 2014 einen Studienplatz finden.“

Dieser Text ist auch im Studierendenmagazin pflichtlektüre erschienen

Manchmal tun sie es noch immer

Um einige offene Streitfragen zu klären, sind Briten vor 65 Jahren in Richtung Deutschland geflogen. Seit dieser Zeit ist einiges geschehen, England hat den Streit für sich entschieden, wir sind demokratisch geworden und seit gestern senden ARD und ZDF endlich in HDTV (womit ich allerdings keine Prioritätenliste aufstellen möchte).

Und dennoch, es passiert heute noch, daß Briten in Richtung Deutschland fliegen, wenn es gilt, Meinungsverschiedenheiten aus der Welt zu schaffen,

z.B. wer die besseren Autos baut oder dieselben am besten bewegen kann, ist eine solche Frage, zu deren Beantwortung die Jungs schon mal ins Cockpit ihrer Spitfires steigen. Ob das nun wirklich „more style“ bedeutet oder ob die britische Ansicht zur Existenz Belgiens korrekt ist, das soll jeder für sich entscheiden.

Ach so, ja, wer die dargestellten Ereignisse lieber von der anderen Seite beobachten möchte, der kann das hier tun.

…und raus bist du! Kinderarmut im Revier.

Kinder haben mehr verdient! Das ist die klare Meinung der Verfassungsrichter in Karlsruhe, die heute deutlich gemacht haben: Die Hartz-IV Sätze für Kinder sind verfassungswidrig und entsprechen nicht der Lebenswirklichkeit. Wie knapp das Geld bei vielen Familien ist und wie sehr die Kinderarmut auch im Ruhrgebiet verbreitet ist, konnte ich erfahren, als ich die Arbeit der Bochumer Kindertafel einen Tag begleitet habe. Hier meine Eindrücke:

Die Frau weiß genau, wo die Tüte steht. Wenn sie ihre Tochter aus dem Kindergarten abholt, geht sie am Büro der Kita-Leiterin vorbei und nimmt sie unauffällig mit. Die Tüte ist gefüllt mit Lebensmitteln. Obst und Gemüse, zweiter Wahl. Sellerie, Kartoffeln, Bananen und Paprika. „Es gibt Kinder, die noch nie eine Paprika gesehen haben“ sagt Stefanie Rösen, die Leiterin der Kita. In dem Wattenscheider Kindergarten gibt es jeden Tag einen Korb mit frischem Obst und Gemüse.

Für einige Kinder der einzige Ort, an dem sie vitaminreiches Essen bekommen. Gefüllt wird der Korb von den Eltern. Doch nicht alle haben das Geld für Obst und Gemüse. Da hilft die Bochumer Kindertafel. „Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung der Tafel, vielen Familien fehlt es am Existenziellen“, sagt Rösen. 48 Tüten mit Lebensmitteln hat die Tafel gebracht, verteilt auf das Gemeindehaus, ein Altenheim und den Kindergarten. Am Morgen hatte die Tafel die Lebensmittel angeliefert, nachdem sie sie in Supermärkten im Ruhrgebiet eingesammelt hatte.

„Wir haben nur Frische im Kopf“ steht auf einem großen Werbeplakat. Es hängt über Regalen, die gefüllt sind mit Obst und Gemüse. Bananen ohne braune Flecken, strahlend grüne und rote Äpfel, knackige Gurken und Paprika. Eine Frau greift in die Kiste mit den Paprika, nimmt ein Dreierpack heraus, dreht es, begutachtet es, entdeckt einen Riss in der Plastikverpackung und legt es wieder hin. Diese Paprika ließen sich nicht mehr verkaufen, sagt die stellvertretende Marktleiterin Kerstin Kühnel: „Die Kunden wollen frische, schöne Ware. Wenn da ein Riss in der Packung ist, kauft das keiner mehr“. Kühlen legt sie in einen Karton, in dem schon Bananen mit leichten braunen Flecken und Äpfel mit Dellen liegen. Die sind für die Kindertafel bestimmt: „So kann sich noch jemand drüber freuen“. Täglich sortieren Kühnel und ihre Kollegen in diesem Bochumer Lidl-Markt Lebensmittel aus. Salat – zum Beispiel – dürfe nie länger als einen Tag im Regal liegen, sagt sie. Durch eine Stahltür wird der Karton mit Lebensmitteln auf einem Gitterwagen Richtung Anlieferungsrampe rausgeschoben.

Mit einem lauten Knarren rollt das Tor hoch. Auf der Laderampe stehen schwarze Säcke. Müll, der von Supermarktmitarbeitern aussortiert und hier zur Abholung bereit gestellt wurde. Daneben eine Palette, mit Lebensmitteln, wie Brot, Gurken, Grünkohl, Bananen und Paprika. Ein Wagen rollt rückwärts ans Tor. „Bochumer Kindertafel“ steht auf der Seite. Zwei Männer steigen aus. Heiko Kihl und Siegmund Hudzik.

Heiko Kihl ist vor vielen Jahren von Hamburg nach Bochum gezogen. Während er noch schnell an seiner Zigarette zieht, erzählt er vom Pech im Job und seinen Kindern, die er zu ernähren hat. Eines Tages war das Geld aufgebraucht und Kihl stand plötzlich in der Schlange für die Essensausgabe bei der Wattenscheider Tafel. Dann bot ihm die Arbeitsagentur einen Ein-Euro-Job an und Kihl nahm an. Seit fünf Wochen fährt er jeden Morgen Supermärkte in Bochum, Gelsenkirchen und Essen an, um das abzuholen, was andere nicht mehr wollen. „Es wird so viel weggeschmissen. Das ist leider unsere Konsumgesellschaft. Aber es ist schön, dass wir helfen können“.

Kihl und Hudzik wuchten grüne Kisten von der Ladefläche des Transporters auf die Laderampe des Lidl-Marktes stellt. Die beiden Männer packen die Lebensmittel direkt um, damit die Tafel nicht auf den Entsorgungskosten für die Kartons sitzen bleibt. Kihl und sein Kollege Hudzik packen die Lebensmittel um. Immerhin acht Kisten mit Obst und Gemüse sind zusammen gekommen.

Schnell laden die Beiden die Kisten in den Transporter, denn der Zeitplan für diese Tour ist eng gestrickt. Fünf Märkte sollen innerhalb von zwei Stunden angefahren werden. Wie viel es dort zu holen gibt, ist jeden Tag eine Überraschung. „Mal sind wir schon nach dreißig Minuten durch, mal reichen die zwei Stunden nicht, weil es so viel zu verladen gibt“, sagt Kihl, während er vom Hof des Lidl-Marktes fährt. Vorbei an den ersten Kunden, die in den Markt eilen um frisches Obst und Gemüse zu kaufen.

Für die Bochumer Kindertafel sind täglich 10 Transporter auf den Straßen des Ruhrgebiets unterwegs. Im Laufe des Vormittags fahren sie die Zentrale der Tafel auf einem ehemaligen Industriegelände in Wattenscheid an. Bochumer Kindertafel, Wattenscheider Tafel, Näherei und Sozialkaufhaus steht auf einem Schild, das den Weg auf den Hinterhof weist.

Der Initiator der Tafel ist Manfred Baasner. Seit mehr als 10 Jahren engagiert er sich in Bochum, nicht immer mit so viel Unterstützung wie heute. Auf einem Stuhl zurückgelehnt und etwas erschöpft erzählt er von den Zeiten, in denen die Politiker und die Stadtverwaltung von Kinderarmut nichts wissen wollten. „Was Sie da erzählen… so etwas gibt es in unserer Stadt nicht, waren damals die Reaktionen, als ich versucht habe die Kindertafel aufzubauen“, sagt Baasner. So kam es, dass er und sein Team zunächst im Verborgenen gegen Kinderarmut kämpften. Im Rahmen der Tafel, die Woche für Woche acht Tausend Menschen in Bochum mit Lebensmittel versorgt, wurden jahrelang auch Kindergärten und Schulen beliefert, vorbei an den Behörden, ja so, dass es keiner mitbekommt. Lehrer, Schulleiter und Erzieherinnen haben das Wohl der Kinder über die Regeln gestellt und heimlich Essen entgegengenommen und weiterverteilt. In der Zeit konnte Baasner Großspender akquirieren, Kühlschränke und Kühllaster kaufen und so dem Argument der Stadtverwaltung entgegentreten, er halte die Kühlkette nicht ein. Nach vielen Gesprächen, unter anderem mit Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich an der Blockadehaltung der Stadtverwaltung etwas geändert. Seit mittlerweile einem Jahr gibt es die Bochumer Kindertafel offiziell und ihr Bedarf wird zumindest nicht mehr geleugnet. 28 Schulen und 70 Kindergärten werden beliefert. Namen werden nicht genannt. Keiner bei der Stadt und kein Schul- oder Kindergartenleiter will, dass seine Schule oder sein Kindergarten mit Armut in Verbindung gebracht wird. Die Armut soll möglichst lautlos bekämpft werden und möglichst kostenlos. Finanzielle Zuschüsse von der Stadt gibt es nicht.

Deshalb ist Baasner über das große ehrenamtliche Engagement froh. Von früh morgens bis spät in die Nacht hinein arbeiten 420 ehrenamtliche Helfer und 1-Euro-Jobber für die Tafel. Es ist ein eingespieltes, aber doch hektisch wirkendes Hin- und Her in der Halle der Tafel. Ein Gabelstapler bringt große Kanister mit Öl zur Rampe. Daneben wird gerade ein Transporter ausgeladen. Kisten von der morgendlichen Supermarkttour werden auf dem Boden ausgebreitet und eine Frau macht sich direkt daran, die Lebensmittel zu sortieren. Es ist Barbara Kleiner. „Manchmal wundere ich mich schon, was alles weggeschmissen wird“, sagt sie und legt eine Paprika in eine der vielen grünen Gemüsekisten. Die arbeitslose Kleiner ist sechs Tage die Woche von halb sieben morgens bis zwei Uhr nachmittags bei der Tafel: „Ich habe Spaß an der Arbeit und es ist was Tolles, wenn man damit auch noch Kindern hilft“.

Und die Hilfe kommt an, ist sich Tafel-Chef Baasner sicher: „Viele Kinder gehen ohne Frühstück aus dem Haus, bekommen vielleicht einen Euro auf den Tisch gelegt, kommen nach Hause und kriegen nichts zu essen und Abendessen gibt’s auch nicht“. Baasner sieht in vielen Fällen die Eltern als Verursacher der Kinderarmut. Dadurch, dass die Tafel Schulen und Kindergärten beliefert, lernen viele Kinder das erste Mal in der Schule ein familiäres Verhalten kennen. Zum Beispiel bei einem gemeinsamen Frühstück, und das Ganze hat laut Baasner noch einen positiven Effekt: „Es hat sich herausgestellt dass Kinder, die morgens ein vitaminreiches Frühstück bekommen aufnahmefähiger sind und in der Schule nicht einschlafen.“

Der nächste Transporter fährt an die Rampe der Tafel. 60 Tüten mit Lebensmitteln werden eingeladen. Sie sind für Kindergärten bestimmt. Neben dem LKW vor der Rampe, stehen 6 Kinder und eine Frau. Die Kinder tragen Tornister. „Das ist unsere Schule, die jeden Montag und Donnerstag kommt. Die holen jetzt Lebensmittel ab und frühstücken gleich zusammen“, sagt Baasner.

Die Kinder und ihre Lehrerin packen sich Tüten mit Lebensmitteln und verlassen den Hof. Hinter sich lassen sie auch ein Plakat, das in der Halle der Tafel hängt. Darauf zu sehen ist eine Gruppe Schüler, die ein Mädchen ausgrenzt. 2,5 Millionen Kinder leben in Armut, steht unter dem Bild und darüber ist zu lesen: „…. und raus bist du!“

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Doppelt gute Fotos für Haiti

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Martin Steffen ist ein guter Fotograf. Ich habe erlebt, wie er mit Linse und Blitzlicht aus ostdeutschen Innenverteidigern Charakterköpfe machte. Martin hat das gelernt, war in Berlin bei Jim Rakete, in Paris. Kam wieder zurück nach Bochum, arbeitete für Werbung, für Prinz, Unicum, Playboy, Hattrick. Für Schauspieler, Musiker, Sportler. Seit ein paar Jahren ist Martin viel unterwegs. Er reist für Hilfsorganisationen wie Adveniat in Essen, macht Reportageaufnahmen in Lateinamerika, in Indien, Afrika. Fängt Bilder ein in Slums, Knästen, Armenhäusern, auf der Straße.

Ein paarmal war er in Haiti, zuletzt im Dezember 2009.  Haiti hat es ihm angetan, die härtesteten Erfahrungen, die schönsten Bilder, vor allem die Begegnung mit einem verstörenden Phänomen, den so genannten Restavecs – was sich vielleicht am besten wie ein Befehl liest: „Du bleibst hier!“ Es soll in Haiti hundertausende Kinder geben, die aus dem Hinterland von armen Eltern in genauso arme aber städtische Familien weggegeben werden. Karibische Aschenputtelkinder rechtlos, perspektivlos, oft schikaniert, misshandelt, immer ausgebeutet, Sklaven, Kinder. In Haiti, wo die Sklavenhalter zuallererst verjagt wurden, die erste karibische Republik ausgerufen wurde, gehören enteignete Kinder zum Alltag.

Martin Steffen hat das berührt, ihr Schicksal und der Einsatz für die Kinder durch ein kleines  Hilfsprojekt, eine betagte katholische Schwester. Und er hat sich vorgenommen, selbst zu helfen. Seit dem vergangenen Jahr spendet er seine Arbeitskraft, lässt sich – ganz gegen seine Art – für private Hochzeiten buchen und überweist das Geld nach Haiti. Nach dem furchtbaren Erdbeben ist die Lage für alle noch grausamer geworden – und für die Restavecs nicht besser. Überdurchschnittlich viele werden unter den Opfern vermutet, sie müssen stets am Haus bleiben, arbeiten, in den Armenvierteln, wo Berghänge abrutschten, Siedlungen unter Stein, Geröll begraben wurden. Martin will 2010 deshalb mindestens fünf Hochzeiten ablichten, einen ganzen Tag arbeiten, dafür einen stattlichebn Preis kassieren; spenden. Deshalb – wer 2010 heiraten möchte und sich das etwas kosten lassen kann, der wende sich an ihn oder besuche die von oktober.de und www.trafo2.de eindrucksvoll und kostenlos gestaltete Website.

Ach ja, einige der Aufnahmen aus Haiti hatte Martin im Dezember groß abziehen lassen, um sie für das Restavec-Projekt zu verkaufen. Wir haben neben diesen Prints ausgelassen Sylvester gefeiert, aber die Bilder sagten etwas, das verschreckte Mädchen, wie es sich an einem Besen festhält, … –  zwanzig Tage vor dem Beben.

Auschwitz – oft verglichen, doch unvergleichbar

Gut drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer fand in der Bundesrepublik Deutschland eine heftige Debatte statt, die unter dem Namen „Historikerstreit“ Eingang (nicht nur) in die deutschen Geschichtsbücher finden sollte. Gestritten wurde über die Frage, ob es sich bei „Auschwitz“ – der Ortsname der Vernichtungsfabrik steht hier symbolisch für die millionenfache Ermordung europäischer Juden – um einen Völkermord handelt, der sich von den mannigfachen anderen Genoziden in der Menschheitsgeschichte im Grunde nicht nennenswert unterscheidet – „mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung“ (Ernst Nolte). Oder ob der Holocaust bzw. die Schoah als ein historisch einzigartiges Verbrechen zu betrachten, „Auschwitz“ also mit nichts Anderem vergleichbar sei. Jürgen Habermas prägte das Wort von der „Singularität“ der Nazi-Verbrechen. Von unserem Gastautor Werner Jurga

Diese Sicht der Dinge scheint sich im damaligen Historikerstreit durchgesetzt zu haben. Und so gilt bis heute ein Vergleich von „Auschwitz“ bzw. des Naziterrors insgesamt mit anderen historischen Ereignissen gemeinhin als ein Versuch, den Holocaust zu historisieren, zu relativieren und dadurch zu verharmlosen.

Dagegen wird die stetige Warnung vor jedwedem Extremismus, egal ob von links oder rechts, selten beanstandet. „Unsere Historie hat bewiesen, dass Radikalismus von links oder rechts in den Abgrund führt“, heißt es jetzt bspw. in einem Kommentar hier bei den Ruhrbaronen, in dem der Verfasser („Junge Union Dortmund“) vor „linken Bedrohung“ warnt, die sich seines Erachtens aus rot-rot-grünen Koalitionen ergeben könnte.

Der Publizist Henryk M. Broder, um ein ganz anderes Beispiel zu nennen, führt seit einiger Zeit einen erbitterten Streit gegen Wolfgang Benz, den Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. Broder nimmt Anstoß daran, dass Benz den Antisemitismus mit der Islamophobie vergleicht.

Die „Singularität von Auschwitz“ wird von Broder instrumentalisiert, um dem führenden deutschen Antisemitismusforscher nicht nur Ahnungslosigkeit zu unterstellen, sondern implizit auch Antisemitismus. Der Antisemitismus-Experte als Antisemit.

Dabei ist sich Broder durchaus darüber im Klaren, dass das Tabu, Auschwitz nicht mit anderen Phänomenen vergleichen zu dürfen, weil der Holocaust und wie auch  der Antisemitismus überhaupt einzigartige Abscheulichkeiten sind, in sich nicht schlüssig ist. Denn um zu dem Urteil zu gelangen, dass sich das Ereignis A substanziell von den Ereignissen B,C,D usw. unterscheidet, muss A vorher mit B,C,D usw. verglichen worden sein. Anders formuliert: Unvergleichlichkeit lässt sich erst nach dem Vergleich attestieren.

So nimmt denn Broder auch – z.B. in seinem in der „Welt“ erschienenen Essay „Sind Muslime die Juden von heute?“ – zur Kenntnis, dass Benz und Kollegen „aufrichtig versichern, sie würden das eine mit dem anderen nicht gleichsetzen, sondern nur vergleichen. Und Vergleiche anzustellen sei eine wissenschaftlich bewährte und zulässige Methode.“

Doch diese Kenntnisnahme bleibt ziemlich konsequenzlos, wie der folgende Satz deutlich macht: „Das stimmt. Grundsätzlich kann man alles mit allem vergleichen. Die Wehrmacht mit der Heilsarmee, einen Bikini mit einer Burka und die GEZ mit der Camorra.“

Oder – an anderer Stelle, weil Broders Polemiken so viel Spaß machen: „Praktisch läuft der Vergleich – ausgesprochen oder insinuiert – darauf hinaus, dass die Moslems die Juden von heute sind und die so genannte Islamophobie ’strukturell‘ dem Antisemitismus verwandt ist. Was auch nicht ganz falsch ist, wenn man bedenkt, dass ein Nilpferd mit einem Menschen einiges gemeinsam hat: Es isst, schläft, verdaut und pflanzt sich heterosexuell fort.“

Doch wie sehr auch Broder gegen das Vergleichen polemisiert: entkleidet man seine Sprüche der blanken – wenn auch unterhaltsamen – Polemik, bleibt inhaltlich kein Ertrag übrig. „Vergleiche anzustellen sei eine wissenschaftlich bewährte und zulässige Methode“, zitiert er seine Gegner, wobei er offen lässt, ob der Konjunktiv („sei“) ausschließlich der indirekten Rede geschuldet ist, oder ob er selbst diese Feststellung in Zweifel zieht. Wie auch immer: der Vergleich ist nicht irgend eine, sondern die entscheidende wissenschaftliche Methode herauszufinden, was A von B,C,D usw. unterscheidet, und was eben nicht.

Derselbe Broder weist – allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang – darauf hin, dass wenn man den Holocaust als Maßstab nehme, jedes andere Unrecht zwangsläufig verblassen muss. Gemessen an Auschwitz ist die Berliner Mauer nicht der Rede wert. Gemessen an Auschwitz erscheint überhaupt alles Jammern und Klagen, alles Protestieren und Sich-Wehren als weinerlich bis hysterisch. Auschwitz kann nicht der Maßstab sein; die Meßlatte hinge in diesem Fall zu hoch.

Ich halte an der Auffassung fest, dass der Holocaust ein beispielloses Verbrechen, wenn Sie so wollen: ein singuläres Ereignis, darstellt. Ich erlaube mir diese Meinung, weil ich „Auschwitz“ gedanklich mit anderen schrecklichen Verbrechen verglichen habe und meine, dessen Unvergleichlichkeit an einer Reihe von Punkten festmachen zu können. Was immer man auch von den Studien über Antisemitismus und Islamophobie von Benz und anderen halten mag: es ist prinzipiell geboten zu vergleichen. Denn Vergleichen ist das Gegenteil von Gleichsetzen. Gleiches ist nicht miteinander zu vergleichen.

Manche Vergleiche sind freilich – die beiden von Broder konstruierten Beispiele machen es offenkundig – von vornherein absurd. Der gestern hier, ansonsten immer und überall bemühte Vergleich zwischen Faschismus und Kommunismus gehört nicht dazu. Es macht durchaus Sinn, die Parallelen, Ähnlichkeiten und Unterschiede von Rechts- und Linksextremismus ganz genau zu untersuchen. Die Gleichsetzung des „Radikalismus von links oder rechts“, wie sie von der  Jungen Union Dortmund hier zum Besten gegeben wurde, ist unzulässig, jedoch keineswegs unüblich. Der Kalte Krieg ist beendet, die Totalitarismus-Theorie lebt weiter.

Dass die jungen Bengel von der CDU sie für Wahlkampf-Mätzchen nutzen, muss einen nicht sonderlich kümmern. Auch dass zu vermuten ist, dass sie diesen Unsinn selbst glauben, ist an und für sich nicht zu beanstanden. Ich frage mich allerdings schon, was in den Köpfen vorgeht, die so arglos über die „Abgründe in unserer Historie“ plappern, in die uns der „Radikalismus von links oder rechts“ geführt habe. Sie wissen doch, was in Auschwitz passiert ist. Sind sie wirklich so unsensibel?

Die Jung-Unionisten dürften annehmen, der Holocaust sei Vergangenheit, und so etwas werde sich niemals wiederholen. Wer weiß? Aber dass sich auf dieser Welt noch auf unabsehbare Zeit Völkermorde ereignen werden, darf als sicher gelten. Und was die Gegenwart betrifft: Ruanda ist nicht der einzige Schauplatz.

Man darf Auschwitz mit anderen Gräueln vergleichen; man sollte es sogar tun. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Daniel Goldhagen, der mit seiner Studie „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ für weltweite Debatten sorgte, hat es in seinem jüngsten Buch gemacht. Es heißt „Schlimmer als Krieg: Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist“ und ist äußerst lesenswert.

Foto: Wikipedia/Bundesarchiv