Darf ich mich zu Wort melden? In diesen aufgeregten identitätspolitischen Zeiten muss erst die Checkliste stimmen, ob Frau selbst hinreichend Marker zum Gegenstand liefert. Bocca chiusa, heisst es im italienischen Film „C’è ancora domani“ über häusliche Gewalt. Delia, die Hauptdarstellerin, soll den Mund halten und der Familie dienen. Kaum ein anderer Begriff ist stärker mit Italien verbunden als jene so oft verklärte Keimzelle von Liebe und Geborgenheit, wo Mann noch unabhängig von staatlicher Kontrolle durchregieren kann. Bei meinem Nachnamen (und der sozialen Herkunft) ist klar: Ich hab was zu sagen. Vedi ragazzi!
Noch bevor die ersten fünf Sekunden des Filmes laufen, als gerade mal die ersten drei Wörter der Hauptprotagonistin Delia gesagt werden, paff, klatscht es die erste Backpfeife – vom eigenen Ehemann.
Willkommen in Deiner Ehe, liebe Delia.
Willkommen in der Realität, liebes Publikum.
Nicht damals im Rom des Jahres 1946, sondern heute ist jede vierte Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren nach polizeilicher Kriminalstatistik von Partnerschaftsgewalt betroffen, mitten in Deutschland. Die Dunkelziffer ist unweit größer. Lustig ist eigentlich was anderes. Die Gewaltszenen lassen sich nur als Tragikomödie von der Regisseurin Paola Cortellesi, die auch die Hauptrolle spielt, als unerträgliche Wahrheiten aushalten.
Ja aber warum verlässt sie dieses Ekelpaket denn nicht, fragt sich ein gutbürgerliches Publikum, sobald der angetrunkene Ivano seiner Ehefrau ein paar Lektionen erteilt. Leichter gefragt als getan. Delia steckt mitten in einer Gewaltspirale, die in der Sozialpsychologie ritualisierende Demütigungen meint, womit sich der Aggressor sein Opfer gefügig und abhängig macht. Statt Lösungsstrategien zu sehen geraten Frauen wehrlos noch tiefer in ihr eigenes Dilemma.
Delia ist ein beeindruckendes und zugleich bemitleidenswertes Multitalent, das sich Wege ihrer finanziellen Unabhängigkeit und zurück zur Selbstbestimmung sucht. Der wunderbar in jeder Szene wie eine nostalgische Postkarte inszenierte Schwarzweiß-Film ist dringend im Originalton mit Untertiteln zu empfehlen. Der Klang des bildungsfernen Dialekts und das Geschnatter der Waschweiber auf der Piazza des Wohnblocks strömt den Duft der Caffettiera in jede Pore von Italienliebhabern. Italien ist und bleibt eindeutig auch im kleinsten Hinterhof der schönste Fleck der Welt; ok, vielleicht lässt mich meine DNA kurz von der professionellen Distanz zum Drehbuch abweichen.
Folgende drei Spoiler gesprochen als Widerworte gegenüber sicher geglaubtem Wissen müssen zu diesem sozialgesellschaftlichen Phänomen des Filmthemas gesagt werden:
- Häusliche Gewalt findet unabhängig von Einkommen, Bildungsgrad und Herkunft der Betroffenen statt.
- Jeden dritten Tag stirbt eine Frau in Deutschland durch die Gewalt ihres (Ex-)Partners.
- Auch ein Tabuthema: Genauso können Männer Opfer in Partnergewalt werden.
Im Finale des Films wird die eigene Tochter, die ihrer Mutter den Spiegel vorhält, sich bitte auf ihre eigene Würde zu besinnen, eine kleine Schlüsselrolle übernehmen. Die Mutter-Tochter-Beziehung leuchtet die Gefahr einer transgenerationalen Traumatisierung aus. Unverarbeitete Gewalterfahrungen und systematisch miterlebte häusliche Gewalt werden an die folgende Generation weitergegeben. Am Ende sieht man Delia zwar mit Bocca chiusa, aber mit einem kleinen Stück rechtlicher Teilhabe in der Hand. In der Heimat knackte „Morgen ist auch noch ein Tag“ sogar den Zuschauerrekord des Blockbusters „Barbie“. Mehr sag ich nicht!
Trailer zum Film „Morgen ist auch noch ein Tag“ (Kinostart 2024, Deutschland)
Für Betroffene von häuslicher Gewalt – Hilfestellen: