Die selten gewordene leise Überwältigung durch Kunst erwartet dieser Tage Kunstsinnige im K20. Chaïm Soutine hat auf 48 Gemälden das Unsichtbare im Sichtbaren gebannt. Der Künstler porträtierte das subalterne Personal der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Orientierungslose Randgestalten, Hungerleider, Schwermütige wie er. Nicht in der selbstbewussten Haltung fotografischer Erinnerungsbilder jener Jahre, sondern als ihre eigenen Mumienbilder blicken uns Dienstmädchen, Page, Konditor aus tiefen Augen an. Sie tragen ihre Uniform, die abgenutzt wirkt, verknittert und an ihren hageren Körpern verrutscht. Quer durch ihre ausgemergelten Gesichter geht jener Riss, der die Welt zerfetzt. Ihre knochigen Hände übergroß. Diese Menschenbilder erscheinen wie Spiegelsplitter seiner selbst. Stehen wir also in einer Gedenkhalle für jene Elenden, die längst namenlos vergangen sind, oder mitten im Genius Soutine selbst?
Dass der Künstler sich in einer heillos zerstörten Welt sieht, wird auch deutlich angesichts seiner ver-rückten Landschaften und Dörfer. Sie drehen durch, ja werden verschlungen von einer Riesenzerstörung. Eruptiv, explosiv fährt die Verzweiflung in die seine Pinselbewegungen, die außer Kontrolle zu geraten drohen. Soutine malt zwischen innerer und äußerer Wahrheit.
Sein Mitgefühl erstreckte sich auch auf Tiere. Die Fisch-Mahlzeit auf dem Teller verwandelt er mit sensiblem Pinsel zurück in tote Lebewesen, die schönrednerisch «Stillleben» genannten Darstellungen von Gans- und Fasanenkadavern, die in der Kunstgeschichte eine lange Tradition haben, preisen nicht länger die Schönheit in der Vielfalt der Welt, sondern offenbaren des Künstlers eigene Wunde angesichts menschlicher Brutalität – nicht nur gegen Tiere. Absurd, dass diesem Maler sein monumentales Gemälde eines Schlachtochsens den Titel Fleisch-Maler eingetragen hat.
Als eigensinniger Künstler, der von seiner Kunst überzeugt war, sagten ihm die surrealistischen und kubistischen Werke der Pariser Avantgarde wenig; aber er ging auch nie ästhetische Kompromisse ein. Befreundet war er nur mit Amedeo Modigliani. Da der erhoffte Austausch mit Malerkollegen nicht stattfand, studierte er jahrelang die Kunstwerke im Louvre und malte vor sich hin, bis der amerikanische Sammler und Kunstexperte Albert C. Barnes Gefallen an Soutines Bildern fand und ihm auf einen Schlag 52 Gemälde abkaufte. Die Not hatte ein Ende, aber es blieben ihm nur wenige Jahre, ehe er 1943 in Paris starb.
Heute gilt Chaïm Soutine als Künstler, der seiner Zeit voraus war und wird als Vorläufer des Abstrakten Expressionismus und der Neuen Figuration gefeiert. Seine Kunst ist der Zeit enthoben und berührt in ihrer erstaunlichen Aktualität.
In der Ausstellung wird ein von Louisiana Channel produzierter Interviewfilm gezeigt, der der Frage nachgeht, was die ungebrochene Faszination an den Werken und der Person dieses besonderen Künstlers bis heute ausmacht. Dana Schutz (1972, US), Amy Sillman (1955, US), Emma Talbot (1969, GB), Leidy Churchman (1979, US), Jutta Koether (1958, DE/US), Thomas Hirschhorn (1957, CH/FR), Chantal Joffe (1969, US) und Imran Qureshi (1972, PK) erzählen, welchen Einfluss Soutine auf ihren Werdegang hatte.