Atheisten und Katholiken, Juden und Sunniten, Protestanten und Agnostiker, Aleviten und Jesiden, Schiiten und orthodoxe Christen, die alle mal Lehrer sind und mal Cafébesucher, die Fußballfans sind und Journalisten, LKW-Fahrer und Rockfan, Küster und Biker, Priester und Passant, Clubgänger und die Oma nebenan: Islamisten morden extrem wahllos. Wer nicht ist, wie sie selber sind, ist haram, die ganze Gesellschaft häretisch, der Westen eine einzige Blasphemie. Dass offenbar jedermensch zum Abschlachten freigegeben sei, ist allerdings eine Erfahrung, die verbindet. Sie tut dies auf paradoxe Weise, fast so, als hätten die Terroristen recht: Wir sind tatsächlich alle häretisch. Von unserem Gastautor Thomas Wessel
Beispiel: „Er will alle Welt zwingen, seiner Lehre zu glauben, und lehrt doch nichts als eitel Abgötterei.“ Martin Luther über den Papst, der seinerseits Luther zum Ketzer und also für vogelfrei erklärt hat. Dabei war beiden gemeinsam, dass auch der Kern ihres Glaubens – das Kreuz, an dem der Nazarener hing – sich reiner Blasphemie verdankt, sie war der Rechtsgrund der Hinrichtung, die Römer hatten ihn eigens verschriftet: I.N.R.I., also „Jesus von Nazareth, König der Juden“ bedeutete, dieser Mensch habe die Majestät des gottgleichen Kaisers beleidigt.
Dass jetzt über diesem Kreuz Je suis Charlie steht – das Foto stammt aus der Christuskirche Bochum, Januar 2015 nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo – erklärt sich einerseits von selbst: Charlie Hebdo agiert ähnlich wie der Nazarener, also wehrlos mit viel Vertrauen in den Geist. Das Je suis Charlie überm Kreuz kann andererseits auch als Blasphemie gelesen werden: Im Johannesevangelium finden sich sog. „Ich bin“-Worte Jesu, denen eine herausragende Bedeutung zugesprochen wird: Ich bin der Weg, die Wahrheit und … Charlie? Charlie Hebdo? Ja. Anderes Beispiel:
„‘Man darf die Welt nicht als ein metaphysisches Gefühls-Bordell ansehn. Das ist das erste Gebot der Ethik für unseresgleichen. Mitleid, Gewissen, Ekel, Verzweiflung, Büßertum sind für unseresgleichen widerliche Ausschweifungen, transzendentaler Bordellzauber.“
Ein Auszug aus Arthur Koestlers Sonnenfinsternis. Moskau in den 30er Jahren, Bürger Iwanoff verhört Bürger Rubaschow, der konterrevolutionären Denkens angeklagt ist. Um dem Gesetz der Geschichte zu genügen, soll Rubaschow gestehen, was er nie getan hat. Iwanoff weiter:
„‘Die größte Versuchung für unsereins heißt: der Gewalt abschwören, Buße tun, den Frieden mit sich selbst erlangen. Die meisten großen Revolutionäre sind dieser Versuchung erlegen, von Spartacus bis Danton und Dostojewsky; sie ist die klassische Form des Verrates an der Sache. (…) Wenn die verfluchte innere Stimme in dir zu reden beginnt, halte dir die Ohren zu (…) Die objektiv größten Verbrecher der Geschichte‘, fuhr Iwanoff fort, ‚sind nicht die vom Typus Nero oder Fouché, sondern die vom Typus Gandhi oder Tolstoj (…) wer sich dem eigenen Gewissen und seiner inneren Stimme verkauft, gibt die Menschheit verloren.‘“
Rubaschow gibt sich verloren, er gesteht und wird liquidiert. So weit die Beispiele aus dem eigenen Beritt, der Häresievorwurf zieht sich quer durch die Geschichte des Denkens und der Politik. Entscheidend der Unterschied, der sich nach und nach herausgebildet hat im Westen: ob Apostasie, der Abfall vom wahren Glauben, mit dem leiblichen Tod quittiert wird oder dem sozialen. Was sich erst in letzter Zeit herausbildet: die Frage, ob und wie sich Häresie auch produktiv wenden lässt. Jede pluralistische Gesellschaft – hat der Religionssoziologie Peter L. Berger 1980 formuliert – produziert einen „Zwang zur Häresie“, genauer: Sie setzt diesen Zwang frei.
Was lässt sich anstellen mit einer Freiheit, in die man sich selber zwingt? Nach jedem Terrorakt werden Statements des Mitgefühls veröffentlicht, das ist gut, werden Feststellungen wie „ein Anschlag auf uns alle“ abgegeben, das nutzt sich ab, und werden Appelle an das friedliche Zusammenleben gerichtet so wie jetzt vom Ratsvorsitzenden der Evang. Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm:
„Mein Mitgefühl und mein Gebet gelten den Opfern und ihren Angehörigen. Es scheint ein islamistischer Hintergrund vorzuliegen. Der feige Anschlag in einer Kirche trifft alle Religionen ins Mark, die sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen. Er darf die Normalität des friedlichen Miteinanders von Millionen Christen und Muslimen nicht überdecken. Wir werden uns als Religionen nicht auseinanderbringen lassen, sondern unsere Botschaft der Liebe und Versöhnung noch kräftiger ausstrahlen.“
Und jetzt, auf dieser Basis von Normalität, Liebe und Versöhnung, ein Gedankenspiel: Was würde geschehen, hielte man hier in Bochum oder sonstwo in Deutschland einen großen Blasphemie-Kongress ab? Titel … warum nicht ein Zitat von Emanuel Macron: „Wir haben das Recht auf Gotteslästerung“, Untertitel: „Chancen und Risiken der Blasphemie für eine Gesellschaft von morgen“. Das Ganze international und interreligiös, interdisziplinär und interpolitisch besetzt, alle bringen wir unsere Erfahrungen und Verletzungen mit, Je suis Charlie und Je suis Père, wir schauen genau hin und uns in die Augen und finden heraus, warum was geht und was warum nicht.
Im Grunde das, was Samuel Paty und seine Jugendlichen getan haben. Was würde passieren? Der Eintritt wäre frei, die Presse kriegte Karikaturen zur freien Verwendung vorab.