Die Niederlage der Hamburger FDP ist insbesondere auch eine Niederlage des Parteivorsitzenden.
Es ist gerade 20 Tage her, dass Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen gewählt wurde. Was folgte, waren die für die deutsche Demokratie vermutlich unwürdigsten Tage ihrer Geschichte. Aus den vielen Verlierern werden zwei in der historischen Betrachtung besonders herausstechen: Thomas Kemmerich und der FDP-Vorsitzende Christian Lindner.
Rückblende:
Dezember 2013. Die FDP ist am Boden, nicht mehr im Bundestag vertreten und kaum noch würdig, Gegenstand des medialen Spottes zu sein. Am 07.12.2013 übernimmt Christian Lindner, gerade 34 Jahre alt, den Vorsitz der 1948 gegründeten Partei. Was folgte, war ein beispielloses Comeback, an dessen Ende 2017 der fulminante Wiedereinzug in den deutschen Bundestag sowie zahlreiche Regierungsbeteiligungen auf Länderebene standen. Bei allem Respekt vor der Standhaftigkeit und Ausdauer Lindners: Wirklich beweisen musste er dabei nicht viel. Nur, wer die deutsche Demokratie sowie die Wählerinnen und Wähler verachtet, kann ernsthaft behaupten, eine liberale Stimme gehöre nicht in den deutschen Bundestag. Selbiges gilt, als persönliche Anmerkung und trotz intensiver inhaltlicher Befremdung, ebenso für die Linke oder die Grünen. Menschen verdienen es, dass ihre Stimmen gehört werden. Das ist der Sinn von Demokratie.
Auch auf Landesebene konnte Lindner niedrig hängende Früchte sammeln. Gerade in Ländern wie NRW hat die SPD ein derartig desaströses Schlachtfeld hinterlassen, dass jede geordnete Regierung besser werden musste, als den Status Quo fortzuführen.
Den Beleg, dass die FDP unter Lindner staatstragend agieren und hierbei die oft festgefahrenen Strukturen aufbrechen kann, blieb die Partei schuldig. Frisch, strukturiert und mit einer klaren politischen Idee hat sich die FDP seither zu positionieren versucht, ohne dabei ihren Markenkern als Partei der Mitte zu verlieren. Gefragt, wie Lindner vorschlage, mit der AfD umzugehen, antwortete dieser vor gut drei Jahren konsistent:
„Ich empfehle cool.“
Februar 2020:
Nachdem Bodo Ramelow in zwei Wahlgängen gescheitert war und seitens der Linken kein Interesse daran signalisiert wurde, einen konsensfähigen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten aufzustellen, gelang es Thomas Kemmerich, eine Stimmenmehrheit auf sich zu vereinen. Schnell war klar: mit Stimmen der AfD.
Genauso schnell war klar: Das konnte niemanden überraschen, am wenigsten den kühlen Taktiker Lindner. Zu leicht war es für die AfD, eine weitere Grenze zu überschreiten und das zu tun, was die Partei immer getan hat: sich völlig inhaltslos einmischen und am Ende die Debatte dominieren, wohl wissend, dass alle übrigen Parteien sowie nahezu die gesamte Presse willig anbeißen werden.
„Ist die Wahl von Thüringen ein Tabubruch, gar ein Skandal? Nein – das ist Demokratie“ titelte taggleich die NZZ.
Ganz so einfach gestaltete sich die Situation nicht, warf sie doch eine elementare Frage auf: Wie geht man mit Stimmen von politischen Extremisten um, deren Hauptziel es ist, die Demokratie zu defektieren? Muss jeder Antrag abgelehnt werden, sofern die AfD zustimmt? Ist jedes Amt abzulehnen, wenn die AfD ebenfalls unterstützt hat? Müssen wir die Demokratie ändern, wenn Populisten anfangen, demokratische Spielregeln auszunutzen?
Und: Wie kann es sein, dass eine wenigstens in Teilen rechtsextreme Randpartei so den Diskurs dominieren darf?
Es ist ein absurdes Schauspiel, angesichts der Tatsache, dass die AfD, wäre heute Bundestagswahl, gerade einmal 12-14% der Stimmen bekäme. Bezogen auf die mediale Repräsentanz müsste man meinen, die AfD stünde bei wenigstens 95%. Völlig mit Recht hat Christian Lindner eben diese Disbalance wieder und wieder angemerkt. Absolut zutreffend hat er formuliert, dass die AfD eine solche Aufmerksamkeit nicht verdient hat.
Es wäre die Stunde der FDP und insbesondere Christian Lindners gewesen, hätte sie hierauf die passenden, demokratischen Antworten geliefert. Immerhin war es Lindner, der über Jahre hinweg immer wieder um das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler geworben hatte, denen das unisone „Wir sind gegen Rechts!“ der übrigen Parteien nicht ausreichte, die politische Alternativen und Strategien erwarteten.
Es gab eigentlich nur zwei Alternativen:
Entweder, die Wahl annehmen und eine Strategie vorlegen, die die AfD abstraft, wie auch immer das genau ausgesehen hätte, eine Regierungserklärung, nach der der AfD der Angstschweiß auf dem Gesicht steht, ein politisches Modell, dessen Genialität selbst die Opposition hätte überzeugen müssen, ein Fahrplan für Neuwahlen als Regierungserklärung, oder aber die direkte Distanzierung der Parteiführung gegenüber dem Vorgehen Kemmerichs und die klare Aussage: Das, was dort geschehen ist, hat nichts mit der übrigen FDP zu tun.
Statt Coolness und Entschlossenheit offenbarte sich aber das völlige Führungsversagen auf nahezu allen parteilichen Ebenen, und sämtliche Protagonisten lieferten ein verheerendes Bild ab. Thomas Kemmerich, der dem AfDler Höcke im Landtag völlig selbstverständlich die Hand reichte, Joachim Stamp, der stellvertretend für alle, die ganz offenbar ohne jede Ab- und Rücksprache ihre Social Media – Kanäle mit Missgunst gegenüber Kemmerich fluteten, und allen voran Christian Lindner, dem das Heft des Handelns so entglitten war, dass er, zunächst völlig überrascht von der Entwicklung, innerhalb von nur 24 Stunden einen Stellungswechsel hinlegte, für den ihn jeder Militärstratege nur beneiden konnte.
Schnell war ein passendes Framing gefunden: Kemmerich, der von seinen Gefühlen übermannte Landespolitiktölpel, der blindlings in die Falle der AfD getappt ist, und passen dazu Christian Lindner, der den reuigen Sünder gab und als gefallener Engel der liberalen Demokratie um Wiedereinlass ins demokratische Himmelreich der übrigen Parteien bettelte.
Als Liberaler konnte man sich nur noch schämen. Denn wer sich entschuldigt, klagt sich an. Im Moment der Prüfung ist Lindner an seinen eigenen Grundsätzen gescheitert. Er hat die Partie innerhalb kürzester Zeit derartig in die Defensive manövriert, dass sie als Zielscheibe unfassbare Entwicklungen medial absorbierte. Alles, was in Folge der Wahl Kemmerichs geschah, wurde auf die FDP fokussiert. Dass FDPler beschimpft und angefeindet, Wahlkampfstände angegangen, jüdische FDP-Politiker öffentlich als Nazis denunziert wurden, war alles keinen Aufschrei wert. Auch, dass die Familie Kemmerichs nur unter Polizeischutz auf die Straße konnte, dass die Bundeskanzlerin im Wortlaut forderte, die Wahl sei rückgängig zu machen und die Fraktionsvorsitzende der Linken im Thüringer Landtag ankündigte, nur bei dokumentierten Stimmen könne sich Ramelow eine erneute Kandidatur vorstellen, fand kaum Berücksichtigung. Überstrahlt wurden all diese Vergehen an der Demokratie von Christian Lindner, der das stete Mantra der Buße rezitierte und zu allem Überfluss auch noch erklärte, die FDP habe das Chaos innerhalb von 24 Stunden bereinigt.
Es bedarf wirklich viel Fantasie, um im verfassungsrechtlichen Chaos nach der Wahl, dem überhasteten Rücktritt Kemmerichs und dem hieraus folgenden Schwebezustand irgendeine Form von Ordnung zu erkennen. Auch innerparteilich muss ein derartiger Strukturmangel herrschen, dass nahezu jedes führende Parteimitglied eine eigene Stellungnahme veröffentlichen musste, völlig unabhängig davon, ob diese in Übereinstimmung mit der Parteiführung stand oder diese sogar zu konterkarieren drohte.
Vorläufiger Höhepunk ist das Ausscheiden der FDP aus der Hamburger Bürgerschaft. Bis Februar hätte wohl niemand vermutet, dass die Hamburger FDP scheitern könnte. 2014 gelang ihr unter Katja Suding der erste Erfolg seit dem Ausscheiden aus dem Bundestag, seither lag die Partei in Umfragen stabil über 5%. Am Ende wurden es 4,96%. Mit der Politik in Thüringen, mit Kemmerich und dem Verhalten der Bundes-FDP hat die Arbeit der Hamburger FDP-Fraktion eigentlich gar nichts zu tun.
Aber auch das hat die FDP in den vergangenen Wochen nicht sauber kommunizieren können. Und Christian Lindner muss sich dringend fragen, welche Verantwortung er an der Irrfahrt der vergangenen Wochen und dem Ergebnis in Hamburg trägt.
"seither lag die Partei in Umfragen stabil über 5%."
Stimmt nicht ganz, am 6. Februar hatte Infratest dimap die FDP bei 5%. Befragt wurde hierfür im Zeitraum 30.1. bis 4.2 (Kemmerich wurde am 5.2. Ministerpräsident). Ich würde daher den Gedanken einbringen wollen, dass die Bedeutung von "Thüringen" für Hamburg vielleicht auch überschätzt wird… bei Umfragen 5% zu kriegen kann immer "knapp drin" oder "knapp nicht drin" bedeuten.
"Thüringen" wird sicher eine Auswirkung gehabt haben, aber möglicherweise nicht in dem Maße, wie viele glauben.