Heute haben wir die Relevanz der klinischen Versorgung, die dort derzeit offensichtlich gewordenen Probleme und die Rolle der Seniorenbetreuung zur Krisenbewältigung in den Blick genommen, da wir in unseren Gesprächen seit März bereits häufig auf die Probleme hingewiesen haben, die durch Nichteinbeziehung von Katastrophenschutzstrukturen oder durch behördliche Fehlleistungen entstanden sind. Die Links zu den früheren Interviews sind unten zu finden.
Ruhrbarone: Bevor wir heute die momentane Situation in der gesundheitlichen Daseinsvorsorge betrachten, kurz zur letzten Woche. Die Befürchtungen der letzten Woche scheinen sich zu bestätigen. Wie sieht die Lage aktuell aus?
Memmeler: Leider bewahrheiten sich alle unsere Prognosen und die Befürchtungen zahlreicher Virologen und Epidemiologen. Zwischen 3% und 5% aller Reiserückkehrer, die sich testen lassen, werden positiv getestet. Diesen freiwilligen Tests unterziehen sich jedoch lediglich zwischen 40% und 55% der Reiserückkehrer (je nach erfasstem Flughafen). Das heißt, wir haben eine extrem hohe Dunkelziffer an potentiell infizierten Reiserückkehrern, die sich zum Teil bewusst den Tests entziehen, da sie um ihr Freizeitverhalten an zum Beispiel den Partyregionen des Goldstrandes wissen oder schlicht vermeiden wollen, einer Quarantäne zu unterliegen, die bei der Rückkehr aus Risikogebieten angeordnet würde.
Also verschweigen zahlreiche Reiserückkehrer einfach, wo sie den Sommerurlaub verbracht haben. Dieses Verhalten gefährdet die Rückkehrer selbst, ihre Familien und natürlich auch alle Sozialkontakte und führt zu Infektionsketten, die den Gesundheitsbehörden eine Nachverfolgbarkeit fast unmöglich machen. Ich möchte fast sagen, dass es sich bei diesem Verhalten um fahrlässige Körperverletzung handeln könnte. Das müssen dann die Staatsanwaltschaften klären. Zusätzlich entstehen bundesweit neue Hotspots nach Familienfesten, Beerdigungen oder anderen privaten Festivitäten, da die Lockerungen der letzten Wochen besonders unter Alkoholeinfluss völlig fahrlässig interpretiert werden.
Gesundheitsämter nicht auf die 2. Welle vorbereitet
All diese Geschehnisse in den vergangenen Tagen haben dazu geführt, dass sich nun zahlreiche Gesundheitsämter zu der gemeinsamen Aussage veranlasst sahen, die Gesundheitsämter seien nicht im ausreichenden Maße auf die Bewältigung einer zweiten Infektionswelle vorbereitet. Begleitet wird dies von einem vor sich hin schwelenden Konflikt zwischen Gesundheitsämtern und KV, bei dem es darum geht, wem den die Verpflichtung zur Einrichtung von ausreichenden Testkapazitäten zukommt. Besonders deutlich wird dies bei Aussagen von Gesundheitsbehörden, wenn diese klar zu verstehen geben, dass sie nicht bereit sind, die Rufbereitschaft der KV zu spielen, um Testmöglichkeiten an Wochenenden und zu späterer Stunde sicherzustellen, weil die KV Testzentren abgebaut hat und nun ausschließlich auf die Möglichkeit von Tests während der Sprechstunden in Arztpraxen verweist.
Die am Freitag veröffentlichte Zahl von über 900 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden sollte auch dem Letzten klar gemacht haben, dass für solche Differenzen und Zuständigkeitsschiebereien momentan keine Zeit ist, wenn wir wieder etwas vor die Lage kommen wollen. Die Medizin-Ethikerin Christiane Woopen hat in dieser Woche die recht eindeutige Aussage getätigt, dass gute Chancen bestünden, die Lage zu beherrschen, wenn weltweit und regelmäßig über einige Wochen intensiv getestet würde und dies durch Quarantänemaßnahmen begleitet würde. Einige Wissenschaftler bestätigen diese Einschätzung und ergänzen, dass diese konsequente Anwendung von Tests, in Kombination mit Quarantänemaßnahmen, sogar günstiger wäre, als all das, was derzeit getan wird.
Offensichtlich fehlt hierzu aber der ausreichende politische Wille. Das von uns vor einigen Wochen beschriebene Vorgehen des OB von Rostock scheint Frau Woopen und den unterstützenden Wissenschaftlern Recht zu geben. Das zögerliche Handeln bei der Umsetzung von regelmäßigen und flächigen Tests für Angehörige von medizinischen Berufen zeigt jedoch, dass sich die Politik extrem schwer damit tut, offensichtliche Risiken anzuerkennen, da dadurch die Kritik aller im Gesundheitswesen Beschäftigten anerkannt würde, dass sie quasi als Kanonenfutter verheizt werden. In keinem Berufszweig ist das Infektionsrisiko momentan größer, als dies im Gesundheitswesen der Fall ist. Dies wurde unlängst auch durch eine AOK Studie unter ihren Versicherten bestätigt.
Neue Infektions Hot-Spots, wie z.B. in Kleve, bei Erntehelfern in Bayern und nach einer Trauerfeier in Hessen, setzen nicht nur die Gesundheitsämter in Alarmbereitschaft, sondern sind auch Signal an das Krankenhauspersonal, welches sich bereits damit auseinandersetzt, sehr zeitnah wieder zahlreiche COVID 19 Patienten behandeln zu müssen.
Ruhrbarone: Da wir heute über die Situation in Kliniken, der Altenpflege und im Gesundheitssystem sprechen und der beste Katastrophenschutz nichts nützt, wenn die nachfolgenden Strukturen kollabieren. Wie kommen die Kliniken und das Gesundheitswesen gerade durch die Corona-Krise?
Memmeler: Hier gibt es momentan leider zwei Betrachtungsweisen. Häufig wird nur gesagt, dass das Gesundheitssystem noch nicht an seine Belastungsgrenze geraten sei, da immer noch sehr viele Intensivbetten zur Verfügung stünden, um COVID 19 Patienten beatmen zu können. Das widerspricht aber der Gesamtbetrachtung. Wenn man unterstellt, dass dies das einzige zu lösende Problem im Gesundheitswesen ist, kommt man mit dieser völlig verkürzten und unzureichenden Betrachtung gut klar und kann diese beispielsweise als Gesundheitsminister auch gut kommunizieren.
Mehr als 410.000 Beschäftigte in Kurzarbeit
Zur Wahrheit der vergangenen Monate gehört aber auch, dass Ärzte und Kliniken mehr als 410.000 Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt haben. Mehr als 1.200 Kliniken haben für ihre Beschäftigte Kurzarbeit angemeldet. Wie das ins Bild passt, wenn es doch gilt, eine pandemische Lage zu bewältigen, erklärt sich so. Es wird vergessen, dass in den letzten Monaten, vorwiegend Vorhaltung von Reserven und tatsächliche Notfallversorgung zum Klinikalltag gehörten. Dieser Umstand wird begleitet von den wirtschaftlichen Interessen der Kliniken, die Teil eines zu 100% profitorientierten Systems sind, welches sich in den zurückliegenden 25 Jahren hervorragend auf sich stetig verändernde Gesetzesgrundlagen und Somit Abrechnungsmodelle eingestellt hat. Deshalb hat es auch nur einen kurzen Moment der Schockstarre in den Verwaltungstrakten der Kliniken gegeben, bis erkannt wurde, dass man zur Sicherstellung von vorzuhaltenden Betten zur Behandlung von COVID 19 Patienten idealerweise Stationen stilllegt, mit denen sich ohnehin nur recht aufwendig eine schwarze Null generieren lässt und die „Prämie“ für den Leerstand, in Kombination mit Kurzarbeit nun hervorragend dazu geeignet ist, diesen Bettenleerstand zu einer profitablen Einnahmequelle umzugestalten. Dies wirkt sich aber sodann negativ auf die erforderliche gesundheitliche Versorgung von zum Beispiel Diabetikern aus, da spezialisierte Versorgungszentren bereits vor Corona extrem ausgedünnt vorgehalten wurden, weil diese Versorgungszentren für viele Kliniken ein Zuschussgeschäft darstellen. Derlei Beispiele gibt es leider viele.
In der bundesdeutschen Kliniklandschaft gibt es aber nicht nur Krisengewinner, sondern auch die Kliniken, die unter einem jahrelang andauernden Investitionsstau leiden und sich der in den Regionen erforderlichen Grundversorgung verpflichtet fühlten und keine gut dotierten Orthopädieabteilungen oder Herzkathederlabore vorhielten. Da diese in den sogenannten Schwerpunktkliniken angesiedelt sind, was auch Sinn macht, weil in hochspezialisierten Bereichen Expertise, Training und Effizienz gefordert ist, um eine hohe Behandlungsqualität garantieren zu können.
Die Kliniken der Grundversorgung stellen meist die ortsnahe Versorgung in ländlichen Regionen sicher und leiden derzeit extrem unter drohenden Insolvenzen, da in den vergangenen Monaten eine Vielzahl an planbaren Behandlungen verschoben wurden und zahlreiche Patienten, aus Angst vor Infektionen, den Gang zum Arzt vermieden haben. Die Zukunft dieser Kliniken beschäftigte quasi unmittelbar vor der Corona-Krise Medien und Politik. Eine Bertelsmannstudie kam zu dem Schluss, dass 2/3 dieser Kliniken schließen könnten, ohne dass es zu einer Reduzierung der medizinischen Versorgungsqualität kommen würde. Hierdurch bestünde die Chance, Patienten gezielt spezialisierten Schwerpunktkliniken zuzuführen, um komplizierte Behandlungen mit einer hohen Versorgungsqualität zu garantieren.
Die Wege, die Patienten auf sich nehmen müssten, um eine medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen zu können, würden sich hierdurch jedoch erheblich verlängern, was insbesondere für ältere Mitbürger schwierig werden könnte. Da wir bislang sehr gut durch die Corona-Krise gekommen sind, zahlreiche Klinken von Insolvenzen bedroht sind und die gesetzlichen Krankenkassen auf Kostenreduzierung drängen, flammt die Diskussion um Reduzierung von Klinikstandorten erneut auf, was zu wenigen und kaum beachteten Protesten führt, die sich gegen übertriebene Schließungsphantasien aussprechen.
13.000 zusätzliche Pflegekräfte
Vergessen werden derzeit jedoch diejenigen, die das Gesundheitswesen, einen der größten Wirtschaftsfaktoren und Beschäftigungsgeber am Laufen halten – das Praxis- und Pflegepersonal und die Ärzteschaft. Herr Spahn hatte zugesagt, mit großangelegten und von weiteren Ministerien mitgetragenen Aktionen 13.000 zusätzliche Pflegekräfte generieren zu wollen, die den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen und der Altenpflege mildern sollen.
Bislang ist es lediglich gelungen 3.000 zusätzliche Kräfte begeistern zu können, sich in diesem nicht mehr am Menschen und der Gesundheit, sondern dem am Profit orientierten System engagieren zu wollen. Pikant daran ist, dass das Spahn – Ministerium die folgenden Faktoren identifiziert hat, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen:
Höhere Bezahlung, Wertschätzung durch Politik und Gesellschaft, verbesserte Vereinbarkeit von Job und Familie und Fortbildungsmöglichkeiten zur Qualifikation für administrative Tätigkeiten, die eine Berufsausübung bis ins Rentenalter ermöglichen, wenn die berufliche Beanspruchung der Pflege körperlich nicht mehr zu leisten ist.
Ein allgemeinverbindlicher Tarif für Pflegekräfte wurde nicht erreicht. Statt dessen rühmt sich die Politik mit einem nur unzureichend gestiegenen Pflegemindestlohn, der regelmäßig einer aufwendigen Neuanpassung durch den Gesetzgeber bedarf, da im Gegensatz zu Tarifverträgen keine automatischen Verhandlungen und den damit verbundenen Anpassungen zwischen Tarifpartnern stattfinden, sondern der Politik stetig und aufwendig die Notwendigkeit zur Anpassung nahegebracht werden muss.
Durch persönliche Gespräche mit Hubertus Heil weiß ich, dass er und sein Ministerium diesen erbärmlichen Umstand gerne beenden würden. Leider erscheint die erforderliche 2/3 Mehrheit der Arbeitgebenden im Pflegesegment unerreichbar, da unter anderem eine große deutsche Hilfsorganisation dies blockiert und auch andere Interessenverbände die wirtschaftsliberalen Mitglieder der Koalition davon überzeugt haben, dass ein Flächentarif gleichbedeutend mit dem Untergang der „sozialen Marktwirtschaft“ wäre.
Hier wäre es wünschenswert, wenn sich eine große Koalition der „Tarifwilligen“ in der Pflege gründen würde, in der sich Sozialverbände, Klinikverbünde und private Anbieter öffentlich zur Tarifbindung bekennen, um so die derzeitigen Verweigerer bloß zu stellen, damit der Handlungsdruck erhöht wird, eine Tarifbindung in der Pflege zu erreichen.
Beim Thema Wertschätzung für Gesundheitsberufe scheint dem Bund der Applaus zu Beginn der Corona-Krise zu reichen. Die großzügig in Aussicht gestellte Pflegeprämie gibt es nun nur für die Altenpflege, was mit der Begründung versehen wird, dass die Beschäftigten in der Altenpflege schlechter vergütet werden. Diese Backpfeife an alle im Gesundheitswesen Beschäftigten, steht selbstredend im absoluten Widerspruch zu dem, was Herr Spahn von zahlreichen Experten als notwendig zur Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe hat erarbeiten lassen. Die in den Sozialen Medien sehr bekannte Anästhesistin, Intensivmedizinerin und Notärztin „Doc Caro“ hat in einem aktuellen Post sehr gut die Stimmungslage von Klinikärzten, Pflegepersonal und Rettungsdienstmitarbeitenden auf den Punkt gebracht.
Offensichtlich muss das Schweigen der Lämmer im Gesundheitswesen beendet werden, um nachhaltige Veränderungen zu erwirken. Schön wäre es, wenn nun zahlreiche Beschäftigte im Gesundheitswesen die Sommerpause des Bundestages nutzen würden, um ihre lokalen Vertreter (MdB) im Bundestag über die aus ihrer Sicht notwendigen Veränderungen aufzuklären, damit die Attraktivität von Berufen im Gesundheitswesen merklich gesteigert wird.
Keine mittelfristige Planungssicherheit
Klinik- und Praxisalltage sind derzeit von den beiden Extremen Kurzarbeit oder Maximalbelastung, welche mit erhöhtem Infektionsrisiko verbunden ist geprägt. Über die in Teilen mangelhafte Ausstattung mit erforderlicher Schutzausstattung haben wir bereits mehrfach berichtet. Übersetzt heißt dies, dass ohnehin nicht optimale Vergütung auf 60% abgesenkt wird oder die ohnehin schon hohe Beanspruchung im Arbeitsalltag zusätzlich erschwert wird, da man monatelang unter Quarantänebedingungen lebt, um Infektionsverschleppungen in Kliniken oder Pflegeheime zu vermeiden. Die von vielen empfohlenen und durch das Personal gewünschten regelmäßigen Tests werden dem Beschäftigten im Gesundheitswesen jedoch weiterhin vorenthalten, was neben der mangelnden Wertschätzung gegenüber Ärzten und Pflegekräften auch noch zu einer vermeidbaren Gefährdung von Patienten führt, was sich derzeit auch in den aktuellen Meldungen zu Neuinfektionen in Kliniken und Senioreneinrichtungen widerspiegelt.
Das derzeitige politische Handeln ist nicht dazu geeignet, eine zumindest mittelfristige Planungssicherheit zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung oder der Seniorenbetreuung zu erreichen. Wenn wir die erforderlichen Versorgungsstrukturen erhalten wollen, die gesundheitliche Daseinsvorsorge bedeuten, müssen wir es schaffen, mindestens mittelfristige Planungs- und Handlungssicherheit bei allen an der Sicherstellung beteiligten Partner zu erreichen. Besonders deutlich wird diese Planungsunsicherheit, neben der Klinikversorgung, derzeit in der Seniorenbetreuung, deren Zukunft im Abstand von wenigen Wochen immer wieder am seidenen Faden hängt. Das sich die Sicherung der vorhandenen Strukturen auf die zukünftigen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auswirken wird, ist bereits jetzt klar. Eventuell könnte diese Erkenntnis ja auch dazu genutzt werden, dass derzeitige Finanzierungsmodell auf den Prüfstand zu stellen.
Ruhrbarone: Warum hängt die Versorgungssicherheit in der Seniorenbetreuung aus Ihrer Sicht regelmäßig am sprichwörtlich seidenen Faden? Landes- und Bundespolitik bekennen sich doch regelmäßig zum Erhalt der Seniorenbetreuung und haben sehr schnell unkomplizierte Kompensationsmöglichkeiten geschaffen und den sogenannten Rettungsschirm der gesetzlichen Kostenträger ermöglicht.
Memmeler: Ja, es wurde sehr schnell ein Rettungsprogramm aufgelegt, als klar wurde, dass innerhalb kürzester Zeit alle Versorgungsangebote zur Seniorenbetreuung und Altenpflege kollabieren würden, wenn die COVID 19 bedingten Defizite nicht unmittelbar kompensiert würden. Beantragung und Erstattung funktionieren sogar erfreulich problemlos, was natürlich von allen Sozialverbänden und übrigen Anbietern begrüßt wird. Es gibt aber auch einige aktuelle Probleme, die noch gelöst werden müssen, und absolut keine mittelfristige Planungssicherheit.
Wie auch bei den Corona-Schutzbestimmungen, die den Lebensalltag aller Bürger beeinflussen, kommt es auch im Bereich der Seniorenbetreuung zu ständigen Veränderungen bei den Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt und die sich auf die Alltagswirklichkeit von Pflegeeinrichtungen, Senioren und deren Angehörigen auswirken. Hierzu will ich einige Beispiele nennen.
Beispielsweise in der Tagespflege galt relativ schnell ein Stopp für Neuaufnahmen, außer für Angehörige von Menschen, die in systemrelevanten Berufen tätig sind oder von Betroffenen, die ohne dieses Angebot im häuslichen Umfeld nicht ausreichend betreut und versorgt werden können. Dies führte dazu, dass die Tagespflegen, die im Lockdown ihr Angebot aufrechterhalten haben, um die erforderliche Betreuung sicherzustellen, bis zu 75% ihrer Gästeplätze belegen konnten. Relativ unbemerkt führten Veränderungen in der Coronaschutzverordnung NRW (CoronaSchVO) dazu, dass erforderliche Mindestabstände im Betreuungsbetrieb und neue Zugangsregelungen nur noch Belegungen von 50% der Gästeplätze ermöglichten und somit das erforderliche Betreuungsangebot weder für Angehörige von Menschen mit systemrelevanten Berufen, noch für Menschen, deren Betreuung und Versorgung im heimischen Umfeld nicht sichergestellt werden kann, im erforderlichen Maße erbracht werden konnte, was für die Einrichtungen einen erheblichen Mehraufwand bei der Organisation der Einrichtung bedeutet und bei den Betroffenen zu teilweise erheblichen Verschlechterungen des Allgemeinzustandes durch fehlende Betreuung und Versorgung führte.
Nicht als Mehraufwand anerkannt
Durch den Rettungsschirm soll sichergestellt werden, dass der erforderliche Hygienemehraufwand als Kostenaufwand geltend gemacht werden kann, der durch die Kassen erstattet werden kann. Die erforderlichen Hygieneeinweisungen des Personals und die Erstellung von sich immer wieder ändernden Hygienekonzepten für die Einrichtungen, werden, wie erst später bekannt wurde, jedoch nicht als Mehraufwand anerkannt, da die Mitarbeitenden ja ohnehin einer Fortbildungsverpflichtung unterliegen. Diese sollte eigentlich aber dazu ausgerichtet sein, die Betreuungsqualität zu verbessern.
Im Jahr 2020 soll das aus Kassensicht zu Gunsten der Hygiene entfallen. Ob die zuständigen Wohn- und Teilhabe-Behörden dies bei den späteren Überprüfungen ähnlich sehen werden, bleibt abzuwarten. Zusätzlich erfasst der Rettungsschirm derzeit keinerlei Erstattung von Investitionskosten, die sonst in Abhängigkeit von der betreuten Gästezahl erstattet wurden. Weniger Gäste in Tagespflegen führen jedoch zu weniger Erstattung im Bereich der Investitionskosten.
Hier wird zwar seit Monaten eine Regelung durch das Gesundheitsministerium angekündigt, doch zum Beispiel in NRW fehlt hierzu seit dem 14. Juni die erforderliche gesetzliche Grundlage, um eine unkomplizierte Kompensation durch das Land zu ermöglichen, weil der Landtag am 14 Juni festgestellt hat, dass sich NRW nicht mehr in einer pandemischen Lage befindet. Dass wir weit davon entfernt sind, die pandemische Lage für beendet oder auch nur für langfristig beherrschbar zu erklären, wissen wir, mit Ausnahme der ewigen Pandemieleugner, nun alle, weshalb der Landtagsbeschluss nicht nur unproblematische Regelungen zur Kompensation von Minderumsetzen in der Seniorenbetreuung erschwert, sondern auch zur allgemeinen Verwirrung beiträgt.
Obwohl das Bundesgesundheitsministerium bereits im Juni in einem Schreiben des Hauses klargestellt hat, wer dafür zuständig ist, Bedürftigen den Zugang zur Seniorenbetreuung zu ermöglichen, besteht aktuell ein Problem darin, dass Neuaufnahmen, auch in Tagespflegen, über einen negativen Testbefund beibringen müssen, um Gäste und Bewohner von Einrichtungen der Seniorenbetreuung vor Infektionsverschleppungen zu schützen.
Das BMG, namentlich Frau Nase, hat klargestellt, dass die Pflegekassen alle Kosten zu tragen haben, die mit der Betreuung in zum Beispiel Tagespflegen einhergehen oder den Zugang zu solchen Angeboten ermöglichen. Aus Sicht aller Betreiber gehört hierzu auch die Kostenübernahme der obligatorischen Testung vor einer Neuaufnahme in die Versorgungsstrukturen der Seniorenbetreuung. Trotz dieser eigentlichen Klarheit, scheitern viele mögliche Versorgungen daran, dass Kassenärzte die Tests als Igel-Leistungen abrechnen wollen, die sich diese mit bis zu 200,00 € pro Test vergüten lassen wollen, was für viele Senioren leider nicht finanzierbar ist.
Im Rettungsdienst war es für mich damals normal, die sog. nachfolgenden Pflichten, welche aus einer Behandlung resultieren zu beachten. Das heißt, sich auf mögliche begleitende Effekte bei einer medikamentösen Behandlung oder Umlagerung vorzubereiten, um auf Veränderungen der Vitalwerte reagieren zu können. Im Falle der Finanzierung der Tests, die zur Neuaufnahme in Versorgungssysteme der Seniorenbetreuung erforderlich sind, wurde aber bewusst oder unbewusst versäumt, die KV zu informieren, dass die Ärzteschaft diese Tests, zu deutlich geringeren Vergütungssätzen, mit der Pflegekasse abrechnen kann. Auch hierdurch werden aktuell verbesserte Auslastungen in der ambulanten Seniorenbetreuung erschwert und vielen Bedürftigen der Zugang zu notwendiger Betreuung und Versorgung verwehrt.
Die größte Sorge aller Träger im Bereich der Seniorenbetreuung und ambulanten Pflege besteht jedoch darin, dass der Rettungsschirm nur noch für den Monat September zugesichert ist. Was danach kommt, weiß derzeit niemand. Sollte der Schutz des Rettungsschirms Ende September enden, müssen wir uns vom derzeitigen Versorgungsstandard in der ambulanten Versorgung von Senioren verabschieden, was kurzfristig zu erheblichen Mehrbelastungen in Kliniken und einer Kostenexplosion durch ausschließlich stationäre Versorgung führen würde.
Keine mittelfristige Planungssicherheit
Diese zusätzlichen Kosten müssten sodann größtenteils durch die Kommunen getragen werden, die derzeit bereits unter extremen Mehrbelastungen und Mindereinnahmen leiden. Vor diesem Hintergrund fordern Leistungsanbieter und Kommunen schnellstmöglich eine mittelfristige Planungssicherheit ein, da der in manchen Regionen erforderliche Ausbau von Betreuungsangeboten, wegen der aktuell ungeregelten Finanzierung, vollständig zum Erliegen gekommen ist. Wenn wir die Möglichkeit von selbstbestimmten und sicheren Leben im Alter erhalten wollen, indem wir ambulante Versorgungsangebote sicherstellen, muss Planungssicherheit hergestellt und der derzeitige Zickzackkurs bei den Coronaschutzbestimmungen muss beendet werden.
Sie sehen, um nachhaltige Daseinsvorsorge, auch in Krisenzeiten, sicherzustellen, ist es mit der singulären Betrachtung der Notfallversorgung nicht getan, da wir nachgelagerte Strukturen zur weiteren Versorgung benötigen und deren Schutz dazu beiträgt, dass die Belastung innerhalb der Notfallversorgung nicht noch weiter zunimmt, weshalb derzeit viele Kommunen, Länder, Klinikverbünde und Rettungsdienste versuchen, das Schlimmste bei der anstehenden Neugestaltung der Notfallversorgung zu vermeiden, da ein stabiles System der Notfallversorgung erforderlich ist, um auf spürbare Versorgungsprobleme, zum Beispiel in der Seniorenbetreuung, reagieren zu können.
Ruhrbarone: Vielen Dank für die interessanten Hintergründe.
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Interessanter und vielschichtiger Artikel!
Ich finde mich in meiner Ansicht, dass KV und öffentlicher Gesundheitsdienst nicht optimal integriert sind bestätigt. Da müsste die Politik effektiver steuern. Die Finanzierung der Tests für Reiserückkehrer ist durchaus ein Schritt in die richtige Richtung. Test sind wichtig und eine gute Investition. Es wäre toll rasch Klarheit zu haben.
Ich denke aber, dass man nicht alle strukturellen Probleme im Gesundheitswesen an der Corona-Pandemie festmachen sollte.
Wünschenswert wäre es, das der Föderalismus besser zentral integriert wird.
Der aktuelle Anstieg der Pandemie-Aktivität ist durchaus beunruhigend. Neben einer optimalen Teststrategie hilft meiner Meinung u.a. eine Ausweitung der Maskenpflicht faktisch wie symbolisch. Einfach, klar und gut kontrollierbar – wider Infektion und neuerlichem Lockdown.
Ich bin ein Leser von außerhalb des Ruhrgebiets, aber wissen Sie, was ich nicht verstehe, warum muss es immer Pommes und Currywurst bis zum abwinken sein, obwohl ein Apfel, Obst oder Salat doch viel gesünder sind.
Interessanter und komplexer Beitrag. Irgendwie will einfach niemand kapieren, dass diese Corona-Scheiße nicht durch Scheuklappen in den Griff zu bekommen ist und nicht durch Maulheldentum verschwindet.
Die poststationäre Versorgung, die stationäre Versorgung in Senioreneinrichtungen mutiert inzwischen zu einer katastrophalen tickenden Zeitbombe. Kliniken die Patienten trotz negativem Abstrich nicht entlassen wollen wenn der Pflegedienst keine Haftungsfreistellung unterschreibt auf der einen Seite, Kliniken die positiv getestete die (fast) kein Pflegedienst freiwillig versorgen will ohne Mitteilung entlässt und wenige Tage später mehrere Pflegekräfte an Covid 19 erkrankt sind, etliche Hochrisikopatienten (ohne Tests) in häuslicher Quarantäne auf der anderen Seite.
Fehlende massive Tests beim Pflegepersonal.
Einkaufspreise für persönliche Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel die je nach Produkt auf das 14 bis meist 50fache explodiert sind fressen die erwirtschafteten Überschüsse schneller auf, als neue Erträge erwirtschaftet werden können. Wenn sie denn überhaupt erwerbbar sind.
Zu glauben für einen Pflegedienst sei es irrelevant ob die Kosten für PSA 1000 – 1300 Euro oder plötzlich 14.000 – 25.000 Euro per mensem betragen sei irrelevant zeugt von totaler Verblödung der verantwortlichen Politiker. Rücklagen aufgebraucht: Insolvenz.
Egal ob Tagespflege, Betreuung, Hauswirtschaft, SGB V oder SGB VI Leistungen, Feuerwehr oder Rettungsdienst: Die Mitarbeiter müssen geschützt werden. Und da kaum ein Pflegedienst in NRW über Schutzausrüstung verfügt, erst recht nicht über partikelfiltrierende Atemschutzmasken der Klassen N95/FFP3 ohne Ventil, hätte die Mehrheit der Pflegedienste rein rechtlich bereits den Betrieb einstellen müssen. Taten sie aber bisher nicht, wer will schon einen ganzen Patientenstamm unversorgt lassen.
Schon arbeitsschutzrechtlich ist das wohl eher nicht zulässig, dass das Personal mit Putzlappen oder Papier-MNS bei (Hochrisiko) Patienten arbeitet. Schon zwei Pflegedienstunternehmer sprachen neulich davon, wenn im Oktober/November betriebliche Rücklagen und privates Erspartes aufgebraucht sind und dann nicht mal mehr eigentlich ungeeignete OP-Masken für den 21,42fachen Preis gekauft werden können, gehen sie geordnet in Insolvenz. Prost! Fast 200 Arbeitsplätze geschrottet. Weil Raubritter sich an Arbeitsschutzausrüstung goldene Wasserhähne für ihre Jachten verdienen müssen.
Corona-PCR Test für 200 Euro als IGEL-Leistung sind eine Frechheit. Die Krankenkassen erstatten Hausärzten 39,90 für den PCR-Test zzgl. 10,00 Euro für den Abstrich. Warum sollte überhaupt jemand einen Corona Test aus eigener Tasche bezahlen? Das ist elementarer Bestandteil der Seuchenbekämpfung. Das sind Solidarkosten.
Die Politik faselt mit stolzgeschwellter Brust über massive Ausweitungen der Testkapazitäten, wo normale Menschen sich den Test nicht leisten können. Und Test verweigert werden. Statt mit Hochdruck an einer Zulassung der mit hinreichend Genauigkeit arbeitenden PCR-LampORE Tests zu arbeiten, bei denen ein dusseliges mobiles Gerät im Kleinstlabor 15.000 Test pro 24 Stunden verarbeiten kann. So eine Maschine gehört in jeden Pflegedienst, jede Arztpraxis (leihweise vom Staat überlassen) und mehrere in jede Klinik, um Personal täglich für Kosten von 5,00 Euro / Test (die von den KV’s getragen werden müssten) zu testen. Damit nicht weiter Pflegekräfte und Ärzte mit asymptomatischer Infektion unfreiwillig reihenweise Patienten umbringen. Oder wie aktuell im Kreis Unna reihenweise Pflegekräfte von Patienten angesteckt werden, bevor das mal bemerkt wird.