Seit dem 15. März 2020 unterhalten sich die Ruhrbarone mit Magnus Memmeler. Bis heute sind 30 Interviews entstanden, die den Katastrophenschutz ins Visier nehmen und auch die Corona-Krise nachzeichnen. Im 31. Interview geht es u.a. um Mahnung und Planung, den Solinger Schulalltag, die dramatische Situation auf den Intensivstationen und den Katastrophenschutz im Gesetzgebungsverfahren zum Infektionsschutzgesetz .
Ruhrbarone: Fast eine Woche „Lockdown light“ liegt hinter uns. Durch die Wahlberichterstattung in den USA sind die Corona-Meldungen in den Hintergrund gerückt. Das soll uns nicht schrecken, also wie sieht es aus im Land?
Memmeler: Die Antwort ist eigentlich recht simpel. Wenn wir nicht alle unsere Kontakte reduzieren, reduziert das Virus unsere Kontakte. 23.399 gemeldete Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden am Samstag und über 170 Todesfälle innerhalb von 24 Stunden sprechen eine deutliche Sprache. Im Beitrag „Wir sind momentan in einer ungebremsten Wachstumsphase“ haben die Ruhrbarone die aktuelle Infektionsdynamik bereits gut beleuchtet.
In dieser Woche hat Melanie Brinkmann, Virologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, was auch wir hier bereits mehrfach angemahnt haben:
„Ich bin es ehrlich gesagt etwas leid. Wir haben den Sommer damit verschwendet, darüber zu diskutieren, wie gefährlich das Virus eigentlich ist.“ Und weiter: „Ich erzähl doch auch dem Automechaniker nicht, wo der Motor am Auto ist.“
Wir alle und die Bundes- und Landespolitik hätten viel früher auf die Mahnungen von führenden Virologen reagieren müssen, statt die berechtigten Risikohinweise von Karl Lauterbach und unserer Kanzlerin als überzogen zu bezeichnen. Die Kanzlerin hat vor 19.000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden zu Weihnachten gewarnt. Stand heute muss diese Risikoeinschätzung als eher zurückhaltende Mahnung betrachtet werden. Karl Lauterbach hat vor den Risiken in den Herbst und Wintermonaten gewarnt und sich hierbei stets auf fundierte Forschungen und Aussagen anerkannter Virologen bezogen. Angesichts recht überschaubarer Infektionszahlen, die uns bis September begleiteten, wurde ihm überzogener Populismus und Panikmache vorgeworfen.
Magnus Memmeler (53 Jahre) lebt in Kamen. Seit über 31 Jahren arbeitet er im Rettungsdienst und Katastrophenschutz. 25 Jahre davon hat er diverse Leitungsfunktionen eingenommen. Er war beauftragt zur Organisation des Sanitätsdienstes beim DEKT in Dortmund und Verantwortlicher einer großen Hilfsorganisation bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Jahren 2013 – 2018. Er war zudem Mitglied bei der Stabsarbeit von Bezirksregierungen und in Arbeitskreisen des Innenministeriums bei der Konzeption von Katastrophenschutzkonzepten.
Selbst jetzt fällt es einigen Entscheidern schwer, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um zum Beispiel Schulen sicherer zu machen, indem Maßnahmen ergriffen werden, die das Pandemiegeschehen an Schulen und auf dem Weg dorthin und zurück eingrenzen. Die Stadt Solingen will die Schulklassen zum Infektionsschutz halbieren, die Landesregierung in NRW verbietet das. Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach kündigte, aus meiner Sicht zu Recht, an, gegen die Weisung aus Düsseldorf zu remonstrieren – die einzig erlaubte Form des Protests von Beamten gegen eine ihrer Meinung nach rechtswidrige Anordnung.
Laut der zuständigen Landesministerin Gebauer stieg die Zahl der Corona-Infektionen unter Schülern in den 5000 Schulen des Landes nach Ende der Ferien auf 1808 Fälle an. Drei Wochen zuvor waren es noch 853 Fälle. Diverse Forschungsinstitute belegen, dass Luftfilteranlagen wesentlich effektiver sind, als das alleinige Stoßlüften, welches vielerorts noch als Allheilmittel gepriesen wird. Wie kann es also dann sein, dass das zuständige Landesministerium einer Stadt, die zusätzliche Maßnahmen zum Infektionsschutz an Schulen ergreift, die Umsetzung dieser Maßnahmen verbieten will?
Frau Gebauer, Herr Laumann und der Ministerpräsident Laschet sollten sich besser fragen, warum die Bilder von überfüllten Schulbussen nicht schon längst dazu geführt haben, dass das Land für die Schulen der Städte den versetzten Schulbeginn angeordnet hat, damit die Situation im ÖPNV für die Schülerinnen und Schüler entlastet wird.
Auch hier handeln einzelne Kommunen, wie zum Beispiel die Stadt Münster, die sicherheitshalber betont, dass diese Maßnahme, den Schulbeginn zu entzerren, wissenschaftlich begleitet wird, um die Wirksamkeit zu beproben, damit sie nicht durch das Land zurückgepfiffen wird, verantwortungsvoller als das Land NRW.
Eltern- und Lehrerverbände hatten die Entscheidung der Landesregierung gegen den Schichtunterricht (Teilung in Präsenz- und Heimunterricht) in Solingen scharf kritisiert. Ein Vater von drei Kindern in Solingen erstattete sogar Strafanzeige gegen Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) – wegen vorsätzlicher Körperverletzung und wegen des Aufrufs zum Verstoß gegen die Corona-Schutzverordnung. Offensichtlich benötigt unsere Landesregierung diesen herben Weckruf, um im Düsseldorfer Elfenbeinturm wieder etwas näher an die Realität zu gelangen.
In der Verordnung, die der konsequent handelnde Vater zitiert, heißt es:
„Jede (…) einsichtsfähige Person ist verpflichtet, sich so zu verhalten, dass sie sich und anderen keinen vermeidbaren Infektionsgefahren aussetzt.“
Aus diesem Zitat herleitend könnte man auch fragen, wie ausgeprägt die Einsichtsfähigkeit in Teilen unserer Landespolitik ist. Unterstützt werden der Solinger Oberbürgermeister, der verantwortungsvoll handelnde Vater und die Schülerinnen und Schüler in Solingen durch den Schulleiter der Alexander-Coppel-Gesamtschule in Solingen Andreas Tempel. Trotz des Verbots aus Düsseldorf, fand am Mittwoch dieser Woche an seiner Schule geteilter Unterricht statt. Seine Begründung für seinen Widerstand gegen die Landesanordnung ist logisch und konsequent. Auf die Frage, warum er sogar disziplinarische Maßnahmen gegen ihn in Kauf nimmt, antwortete er:
„Weil ich einen Amtseid geschworen habe und es mein Auftrag ist, die Menschen an meiner Schule zu schützen. Dazu gehört auch der Gesundheitsschutz in Sachen Corona. Die Stadt Solingen hat ein ausgesprochen gutes Konzept vorgelegt, nach dem wir im November nur jeweils eine Hälfte der Schülerinnen und Schüler im Klassenraum haben sollten und die andere zu Hause vor dem Bildschirm. Das hätte für deutlich mehr Abstände nicht nur in den Klassen, sondern zum Beispiel auch in den Schulbussen gesorgt.“
Und ergänzt auf die Frage, ob er Angst vor dienstrechtlichen Konsequenzen habe:
„Ich habe am Mittwoch gesagt, dass ich mir, wenn ich eine Abmahnung bekomme, dieses Schreiben in einem goldenen Rahmen an die Wand hängen werde. Und am Donnerstagmorgen kamen Schülerinnen und Schüler der elften Klasse zu mir und haben mir einen goldenen Rahmen geschenkt. Mit einer Belobigung drin – dafür, dass ich mich für sie und ihre Gesundheit einsetze. Das war absolut bewegend. Und als ich dann mit diesem Rahmen in der Hand ins Lehrerzimmer kam, gab es Applaus. Sie können mir glauben: Dass die Kolleginnen und Kollegen dem Schulleiter applaudieren, ist wirklich nicht normal. Offenbar habe ich nicht alles falsch gemacht.“
In der aktuellen Lage benötigen wir genau diesen Widerstand der verantwortungsvoll handelnden Bürgerinnen und Bürger. Versäumnisse müssen benannt werden dürfen und Verbesserungsvorschläge müssen auf eine positive Resonanz in Politik und Behörden treffen, statt den völlig fehlgeleiteten „Querdenkern“ immer wieder eine mediale Plattform zu bieten.
Wie bereits in der letzten Woche beschrieben, dürfen wir das Infektionsrisiko in den Schulen nicht bagatellisieren. Wir müssen vermeiden, dass die Positiveffekte, die vom aktuellen Lockdown light ausgehen könnten, durch bestehende Risiken an Schulen und Fehlverhalten einzelner aufgezehrt werden, bevor diese Wirkung zeigen könnten, wenn wir das Gesundheitswesen nicht überfordern wollen.
Ruhrbarone: Danke für das Stichwort. Nach Ihrem Aufruf, den Fachleuten mehr Gehör zu schenken, haben Sie zu Recht auf Versäumnisse im Schulwesen hingewiesen. Regelrecht brisant scheint sich aber aktuell die Situation in den Kliniken zu entwickeln. Wie ernst ist es?
Memmeler: Die aktuellen Aussagen von Klinikexperten und Notfall- und Intensivmedizinern sollten uns nachdenklich stimmen und dem uneinsichtigen Partyvolk eindrucksvoll als Weckruf um die Ohren gehauen werden. Den dann immer noch Uneinsichtigen empfehle ich den Beitrag „Vertrauliches Lagebild der Bundesregierung: Ein Land kurz vor dem Dammbruch“, den die Ruhrbarone bereits am 29. Oktober veröffentlicht haben.
Die Zahlen der COVID-19-Patienten in den Kliniken und auf deren Intensivstationen steigen weiterhin sprunghaft an. Die ersten Einrichtungen in den Großstädten und Ballungsgebieten erreichen ihre Belastungsgrenzen. Dabei erwarten vor allem die Intensivmediziner erst in den nächsten vier bis sechs Wochen den Höhepunkt der Patientenzahlen auf den Intensivstationen. Ist das halbwegs klar? Das, was wir bereits jetzt erleben, ist lediglich der „Vorgeschmack“ auf das, was uns bevorsteht.Prof. Dr. Uwe Janssens, Leiter der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), fordert deshalb:
„Die Krankenhäuser mit einem hohen Aufkommen an COVID-19-Patienten müssen jetzt, umgehend, aus dem Regelbetrieb herausgenommen und auf Notbetrieb umgestellt werden! Die Politik darf jetzt nicht länger auf Zeit spielen!“
Im von Janssens geforderten Notbetrieb werden vor allem alle Aufnahmen und Operationen abgesagt, die aus ärztlicher, fachspezifischer Sicht vertretbar auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden können. Das damit freigesetzte Personal aus den verschiedenen Bereichen – insbesondere das Fachpersonal der Anästhesie – steht dann zur Unterstützung der Intensivstationen, aber auch der Normalstationen zur Verfügung, um Patienten mit COVID-19 wie auch andere, schwerkranke Patienten ohne COVID-19 zu versorgen.
Im Bemühen die zweite Welle der Coronakrise zu beherrschen hat das Land Niedersachsen bereits die Höchstarbeitszeit für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen erneut auf bis zu 60 Stunden pro Woche erhöht. Die Maßnahme, die eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 12 Stunden vorsieht, gilt befristet bis Ende Mai kommenden Jahres. Diese Maßnahme haben bereits im Frühjahr zahlreiche Bundesländer ergriffen, um dem Personalmangel im Gesundheitswesen zu begegnen.
Nicht die Betten, sondern das Personal ist der Flaschenhals. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Erstaunlich ist, dass die Politik wider besseren Wissens nichts, aber auch überhaupt nichts, getan hat, um den Personalengpass zu beseitigen, sondern sich monatelang – angefeuert von den Medien – mit sinnfreien Nebenkriegsschauplätzen beschäftigt hat. Und nun muss das Pflegepersonal die Versäumnisse der Vergangenheit erneut ausbaden.
Ebenfalls wird vielerorts bereits wieder extrem bereitwillig die festgeschriebene Personaluntergrenze diskutiert, die eigentlich die Qualität in der Versorgung von Patienten sicherstellen soll.Vier von fünf Krankenhäusern finden keine Ärzte für vakante Posten. Jedes dritte deutsche Krankenhaus musste im letzten Jahr Intensivbetten sperren und Fachbereiche von der Notversorgung abmelden. Diese bundesdeutsche „Normalsituation“ stellte bereits vor der Pandemie eine Belastung für das Personal im Gesundheitswesen dar. Das extrem hohe Infektionsrisiko für Personal im Gesundheitswesen könnte die Situation durch Personalausfälle zusätzlich verschärfen.
Nicht die Betten, sondern das Personal ist der Flaschenhals
Bereits während der Grippewelle 2017/2018 waren die Kliniken mit rund 60.000 Hospitalisierten am Rande ihrer Kapazität und regional verhängten Intensivstationen einen Aufnahmestopp. Auch darüber hatten wir bereits berichtet. Eine Studie, die die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) beim Deutschen Krankenhausinstitut (DKI) in Auftrag gegeben hatte, kam damals zu dem Ergebnis, dass 53 Prozent aller Kliniken Probleme haben, Pflegestellen im Intensivbereich zu besetzen, und dass bundesweit 3.150 Stellen aus diesem Bereich nicht besetzt sind.
Es ist daher richtig, Zweifel zu äußern, ob die zur Zeit frei gemeldeten Intensivbetten, die inklusive der Notfallreserve laut Intensivregister zur Verfügung stehen, wirklich auch mit fachkundigem Personal betrieben werden können. Dem wird sicherlich nicht so sein. Deshalb werden uns die Anhebung der wöchentlichen Arbeitszeit für Pflegepersonal und die Absenkung der Personaluntergrenzen für die pflegerische Versorgung sicherlich nur sehr begrenzt und kurzfristig als Mittel zur Verfügung stehen, um die klinische Versorgung aufrecht erhalten zu können.
Wegen der stark gestiegenen Corona-Neuinfektionszahlen wendet sich die Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) bereits jetzt mit einem eindringlichen Appell an examinierte Pflegefachkräfte:
„Bitte kontaktieren Sie die Krankenhäuser und helfen Sie bei der Versorgung der wachsenden Zahl an Covid-19-Patientinnen und –Patienten.“.
Deutlicher kann der drohende Notstand nicht beschrieben werden.
In der Debatte über die Corona-Maßnahmen hat der Virologe Christian Drosten bereits in der vergangenen Woche an die hoffentlich vermeidbaren schwierigen Entscheidungen von Ärzten im Fall einer Überlastung der Intensivstationen erinnert. In einem Vortrag erläuterte er das Vorgehen namens Triage, bei dem Patienten im Extremfall „sortiert“ werden.
Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“. Das bedeutet „sortieren“ oder „aussuchen“. Das System kommt aus der Militärmedizin: Ende des 18. Jahrhunderts fanden sich im „Königlich-Preußischen Feldlazareth-Reglement“ erste Angaben, wie Verwundete nach Schweregraden eingeteilt werden sollten.
Allein die Tatsache, dass wir bereits über die eventuell erforderliche Notwendigkeit einer Triage nachdenken müssen, die in der Notfallmedizin und im Katastrophenschutz erforderlich ist, um Ressourcen so einzusetzen, dass möglichst viele betroffene überleben, indem extrem kritischen und eventuell aussichtslosen Fällen keine Behandlung zu Teil kommt, zeigt in welch kritischer Situation wir uns aktuell befinden.
Diese Situationsbeschreibung und die aktuelle Debatte zum „Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im Bundestag zeigen, dass wir uns bereits in einer Situation befinden, die wir tatsächlich als Katastrophe benennen dürfen. Andernfalls müssten eventuell erforderliche Maßnahmen aus der Militärmedizin nicht diskutiert und die Einbindung von Katastrophenschutzressourcen nicht eiligst legitimiert werden.
Ruhrbarone: Offensichtlich müssen wir uns auch im 31. Interview fragen, warum die Katastrophe nicht Katastrophe genannt werden darf. Was sieht der Entwurf des BMG vor, der in dieser Woche dem Bundestag vorgelegt wurde?
Memmeler: Im „Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ wurden alle Merkmale deutlich benannt, die ehrlicherweise zu einer korrigierten Lagebewertung führen sollten. Dem BMG (Bundesgesundheitsministerum) werden aktuell alle Verfügungsrechte eingeräumt, um umfänglichen Zugriff auf die Ressourcen des Katastrophenschutzes zu erhalten. Ehrlicherweise muss man inzwischen einräumen, dass eine Kurskorrektur kaum noch möglich ist, da das Bundesinnenministerium seit Monaten lediglich Zulieferer war und nun von nahezu Null hochgefahren werden müsste, um regelhaft führen zu können. Das können wir uns in der aktuellen Situation schlicht nicht erlauben. Gleiches gilt wohl für die Länder, in denen zumeist die Staatskanzleien führen, statt die aus Expertensicht zuständigen Innenministerien.
Bereits in der Einführung des vorliegenden Gesetzentwurfes wird nach nur zehn Monaten Pandemiebetrieb in der BRD, die Einbindung der Bundeswehr in der Bewältigung der Lage legitimiert:
„Bisherige Erfahrungen während der Pandemielage machen weitere Anpassungen der Vorschriften zum Vollzug des IfSG durch die Bundeswehr notwendig.“
Im Gesetzesentwurf finden wir dann auch den erforderlichen § 54a der den Vollzug durch die Bundeswehr regelt.
Und im Entwurf des Gesetzestextes wird auch der nahezu uneingeschränkte Zugriff des BMG auf alle übrigen Ressourcen des Katastrophenschutzes legitimiert. Mit der Folge, dass Herr Seehofer nun endgültig in den Vorruhestand versetzt wird.
Denn § 5 wird wie folgt geändert:
„b) Folgender Absatz 8 wird angefügt:
(8) Aufgrund einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite kann das Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen der Aufgaben des Bundes das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe, den Malteser Hilfsdienst, den Arbeiter-Samariter-Bund und die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft gegen Auslagenerstattung beauftragen, bei der Bewältigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Hilfe zu leisten.“
Dieses Privileg besaß bisher nun das Bundesinnenministerium, wenn es um den Zivilschutz ging. In der späteren Begründung zu den vorgelegten Änderungen heißt es später dann sogar:
„Im Falle einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite kann es zu Situationen kommen, in welchen es notwendig werden kann, im Rahmen der Aufgaben des Bundes, zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung auf die Kapazitäten der anerkannten Hilfsorganisationen (vgl. auch § 26 ZSKG) zurückzugreifen. Die Vorschrift verleiht dem Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen der Aufgaben des Bundes die Möglichkeit, insbesondere das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe, den Malteser Hilfsdienst, den Arbeiter-Samariter-Bund und die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft gegen Auslagenerstattung zu beauftragen, bei der Bewältigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Hilfe zu leisten. Eine Beauftragung dieser Organisationen im Rahmen einer Amtshilfe bleibt unberührt.“
Im Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz – ZSKG), auf das in der Begründung verwiesen wird, ist zu lesen:
„§ 26 Mitwirkung der Organisationen
(1) Die Mitwirkung der öffentlichen und privaten Organisationen bei der Erfüllung der Aufgaben nach diesem Gesetz richtet sich nach den landesrechtlichen Vorschriften für den Katastrophenschutz. Für die Mitwirkung geeignet sind insbesondere der Arbeiter-Samariter-Bund, die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe und der Malteser-Hilfsdienst.
(2) Die mitwirkenden öffentlichen und privaten Organisationen bilden die erforderliche Zahl von Helferinnen und Helfern aus, sorgen für die sachgerechte Unterbringung und Pflege der ergänzenden Ausstattung und stellen die Einsatzbereitschaft ihrer Einheiten und Einrichtungen sicher.
(3) Die mitwirkenden privaten Organisationen erhalten nach Maßgabe des § 29 Mittel zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz. Sie können die ihnen zugewiesene ergänzende Ausstattung für eigene Zwecke nutzen, soweit hierdurch die Aufgaben des Katastrophenschutzes und des Zivilschutzes nicht beeinträchtigt werden.
(4) Die Mitwirkung von anderen Behörden, Stellen und Trägern öffentlicher Aufgaben bestimmt sich nach dem Katastrophenschutzrecht des Landes. Die Behörden und Stellen des Bundes sowie die seiner Aufsicht unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind zur Mitwirkung verpflichtet.“
Diese Rechtsgrundlage hätten wir, zumindest auf der Länderebne, bereits im März / April schaffen können, wenn man den Empfehlungen des VdF (Verband der Feuerwehren) und anderer Katastrophenschutzexperten gefolgt wäre und anerkannt hätte, dass eine Pandemie alle Merkmale erfüllt, um eine Lage des Katastrophenschutzes feststellen zu müssen.
Um zu erkennen, worin der bisherige Hemmschuh bestand, der den Bund von der Feststellung einer Lages des Katastrophenschutzes abhielt, muss man das föderale System des Katastrophenschutzes kennen.
Auch die Pandemiebewältigung ist plötzlich Bundesangelegenheit
Sowohl Bundes- als auch Landesrecht enthalten Regelungen, die dem Staat Vorgaben machen, wie er mit solchen Ausnahmesituationen umzugehen hat. Klare Regeln. Das Verwirrende daran ist: Es gibt bundesweit unterschiedliche Regelungen, weil im föderalen Staat die Zuständigkeiten meist nicht beim Bund, sondern den jeweiligen Bundesländern liegen. Dem Bundesgesundheitsministerium ist mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf nun gelungen, was dem BBK (Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe) und dem zuständigen Bundesinnenministerium im jahrzehntelangen Dialog mit den Ländern nicht gelungen ist. Nicht allein der Verteidigungsfall, sondern auch die Pandemiebewältigung ist plötzlich Bundesangelegenheit – nur halt nicht durch das Bundesinnenministerium geführt.
Nach der gesetzlichen Definition ist eine Katastrophe in nahezu allen Bundesländern ein Geschehen, bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen oder die natürlichen Lebensgrundlagen oder bedeutende Sachwerte in ungewöhnlichem Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden. Üblicherweise beschränkt sich die Feststellung einer Lage des Katastrophenschutzes auf einzelne Landkreise, zum Beispiel bei Hochwasserlagen bei denen Helferinnen aus weiten Teilen des Landes zusammengezogen werden.
Denn genau darum geht es, wenn ein Katastrophenfall ausgerufen wird, besser gesagt: festgestellt wird. Man will Kräfte bündeln, die Arbeit der zahlreichen beteiligten Behörden und Hilfsorganisationen bestmöglich koordinieren. Wird eine Katastrophe festgestellt, ist es leichter, Feuerwehren, Rettungsdienste oder das Technische Hilfswerk zu rekrutieren. Die Feststellung des Katastrophenfalls ist also primär eine organisatorische Angelegenheit, sie ist weniger spektakulär, als der Name vermuten lässt. Und doch können die Maßnahmen auch Auswirkungen auf jeden Einzelnen haben. So dürfen die Behörden Katastrophengebiete beispielsweise räumen und den Zutritt verbieten, wie es zu Beginn des Jahres auch für den Kreis Heinsberg angeraten gewesen wäre.
Ähnlich verhält es sich jetzt mit den Befugnissen nach dem Infektionsschutzgesetz, das die Behörden dazu ermächtigt, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um übertragbare Krankheiten zu bekämpfen. Darunter fallen zum Beispiel die Anordnung von Quarantäne, die Untersuchung von Verdachtsfällen durch Beauftragte des Gesundheitsamtes oder auch berufliche Tätigkeitsverbote. Neu hinzugekommen sind nun die Zugriffsmöglichkeiten des Bundes auf Ressourcen des Katastrophenschutzes.
Nun müssen wir alle darauf hoffen, dass die derzeit in allen Länderparlamenten und im Bundestag eiligst, jedoch nachträglich, legitimierten Maßnahmen greifen und die Akzeptanz zur Einhaltung der Regelungen in unserer Gesellschaft wieder wächst. Eine kritische Zuspitzung der Situation, wie bei der Grippewelle 2017 / 2018, können wir uns aktuell nicht leisten, denn 2018 stand der Frühling bevor und uns droht aktuell ein Winter mit sehr großen Herausforderungen und wohl auch noch länger anhalten Einschränkungen.
Ruhrbarone: Dann lassen Sie uns mal noch ein wenig downlocken. Vielen herzlichen Dank und bis nächste Woche.
Der R-Wert liegt aktuell zwischen 0.8 und 1.3 und daher kann von exponentiellem Wachstum nicht ausgegangen werden.
Vielen Dank wieder für dieses Interview und diese klaren Worte.
Die Rolle der FDP in der Corona Bekämpfung gefällt mir überhaupt nicht. Wir haben die Minister in der NRW Regierung, die wenig für die Gesundheit in den Kitas/Schulen getan haben, und somit auch für hohe Zahlen sorgen. Dann haben wir immer wieder Aktionen, bei denen versucht wird, Stimmung gegen Beschränkungen von Selbständigen zu machen.
Es wäre doch super, wenn wir alle in NRW wegen einiger kreativer Beiträge aus dem Kultusministerium oder Familienministerium mit einer deutlich geringeren Corona Gefahr leben könnten. Es gibt doch wirklich nur wenige Politikbereiche, in denen die FDP in die Verantwortung gegangen ist. Hier kann sie zeigen, dass sie etwas kann.
@Robert Müser: Herzlichen Dank. Eventuell helfen offene Worte, die Augen zu öffnen. Bei manchen Zeitgenossen habe ich aber meine Zweifel.
@ke: Mit Verlaub, da habe ich wenig Hoffnung. Es würde mich freuen, wenn ich mich bei dieser Einschätzung irren würde.
@Enno: Das habe ich auch mit keiner Silbe behauptet. Aktuell befinden wir uns aber an einem Punkt, wo jede Form der Zunahme an Neuinfizierten zu viel ist.
@Enno #1
Von sich kritisch gebenden Zeitgenossen wird gerne bemängelt, dass bei der Bewertung der Lage bzw. bei Entscheidungen über Gegenmaßnahmen immer nur "auf einen Wert gestarrt wird" (gerne garniert mit dem Bild von Kaninchen und Schlange) – um anschließend genau dies ebenfalls zu tun, wobei man sich natürlich vorzugsweise den Wert herauspickt, der die eigene Meinung stützt.
Ein vergleichsweise niedriger R-Wert nützt nicht viel, wenn sich die tägliche Infektions-Rate auf sehr hohem Niveau befindet und das ist derzeit der Fall.
@#7 Susanne Scheidle :
Bis ca. 26. Oktober verlief der Anstieg der Neuinfektionen pro Tag streng exponentiell. Dann knickte die Kurve um und seit dem 28. Oktober haben wir ein lineares Wachstum mit 20.000 +/- 200 Neuinfizierte pro Tag. Genauer sind die Zahlen, die uns jeden Tag geliefert werden, nicht. Es kann noch ein geringer Anstieg in den nächsten Tagen erfolgen. Dann sollte es konstant bleiben. Hätten wir immer noch einen exponentiellen Anstieg, dann hätten wir heute etwa 33.000 Neuinfizierte.
@ Enno #8
Und was heißt das jetzt, wenn's angekommen ist? Ich hatte lediglich bemerkt, dass man die R-Ziffer im Zusammenhang sehen muss mit der Zahl der täglichen Infektionen insgesamt.
Meinen Sie mit Ihrem Post, dass 20.000 Neuinfizierte am Tag ganz okay sind?
Solange noch ein paar Betten auf der Intensivstation frei sind?
In den Krankenhäusern kommen die schweren Fälle mit einer zeitlichen Verzögerung von 2-3 Wochen an, so dürften die Neuinfizierten vor dem 28. Oktober, also noch vor dem von Ihnen ausgemachten Knick in der Kurve, erst in den nächsten Tagen dort ankommen, und dann ist immer noch nicht Ende …
Wäre vielleicht ganz interessant, das Ganze mal mit einer Krankenschwester zu diskutieren, die gerade von einer 12 Stunden Schicht kommt, also die R-Zahl, die 20.000 und den Knick…