Seit dem 15. März 2020 unterhalten sich die Ruhrbarone mit Magnus Memmeler, der diesmal im Urlaub weilt. Bis heute sind 21 Interviews entstanden, die sich mit dem Katastrophenmangement beschäftigen und auch die Corona-Krise nachzeichnen. Im 22. Interview geht es um Pflege am Limit, die grenzwertige Situation im sächsischen Katastrophenschutz, Spahns Gesetze unter dem Mikroskop und Krankenhausvergütung nach Diagnose anstelle nach Aufwand.
Ruhrbarone: Nach 21 Interviews stellen wir heute, neben der Frage zur Lage, auch die Frage zum Warum. Warum schon 21 Interviews? Eigentlich sollte doch alles klar sein.
Memmeler: Als wir am 15. März mit unseren Interviews begonnen haben, dachten wir wohl beide, dass es bei einer einmaligen Einschätzung der Lagebewältigung bleiben würde, die eventuell um zwei bis maximal drei kurze Einschätzungen ergänzt würde, sollte es zu gravierenden Änderungen kommen. Schließlich gibt es ja die Drucksache 17/12051 des Bundestages, über die wir in der vergangenen Woche berichtet haben, funktionierende Strukturen im Katastrophenschutz und eine bis jetzt stabile klinische Versorgung.
Magnus Memmeler (52 Jahre) lebt in Kamen. Seit 31 Jahren arbeitet er im Rettungsdienst und Katastrophenschutz. 25 Jahre davon hat er diverse Leitungsfunktionen eingenommen. Er war beauftragt zur Organisation des Sanitätsdienstes beim DEKT in Dortmund und Verantwortlicher einer großen Hilfsorganisation bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Jahren 2013 – 2018. Er war zudem Mitglied bei der Stabsarbeit von Bezirksregierungen und in Arbeitskreisen des Innenministeriums bei der Konzeption von Katastrophenschutzkonzepten.
Katastrophenschutz, das haben wir bereits recht früh erklärt, bedeutet permanent neue Lageeinschätzungen vorzunehmen, um die erforderlichen Maßnahmen einleiten zu können und dazu muss man die erforderlichen Rückmeldungen einholen, um diese Einschätzung vornehmen zu können. Inzwischen wissen wir, dass viele Bundesländer versuchen die Pandemie durch die Staatskanzlei, statt durch die Innenministerien beherrschbar zu gestalten und wir wissen, dass der Faktor Mensch, sowohl bei Entscheidern, als auch in der breiten Gesellschaft, einen maßgeblichen Einfluss auf die Beherrschbarkeit der Lage hat, weshalb eine möglichst klare und in der Fläche einheitliche Ansprache gewählt werden sollte und einheitlich gewählte Maßnahmen ihren Beitrag dazu leisten müssen, die erforderliche Akzeptanz für einschränkende Maßnahmen zu schaffen. Letzteres ist bisher nicht gelungen, weshalb es in dieser Woche erneut zu einem Gipfeltreffen kam, bei dem Ministerpräsidenten und Kanzlerin sich auf ein einheitlich abgestimmtes Vorgehen einigen wollten. Wie wir jetzt wissen, ist dieses Ziel recht jämmerlich verfehlt worden.
Ruhrbarone: Wie schätzen Sie die getroffenen Kompromisse ein?
Memmeler: Auf unsere Einschätzung kommt es in dieser Woche doch gar nicht an. Die Frage muss doch lauten, wie wirken die Überschriften, weil mehr wird von vielen nicht gelesen, auf die breite Bevölkerung. Auf WDR 2 hat eine Comedy von Becker und Jünemann die Ergebnisse des Gipfels damit erklärt, dass es offensichtlich mindestens 16 verschiedene SARS Covid 2 Erreger geben muss, wenn sich die Schutzmaßnahmen der Bundesländer derart unterscheiden. Mit dieser überspitzten Darstellung wurde recht pointiert dargestellt, wie groß die Verwirrung innerhalb der Bevölkerung ist und weshalb viele erforderliche Schutzmaßnahmen so wenig Akzeptanz finden. Bei der Maskenpflicht unterscheiden sich die Ordnungsgelder bei Nichteinhaltung von Bundesland zu Bundesland. In Sachsen ist beispielsweise keine Strafe zu befürchten, wenn man sich nicht an die Maskenpflicht hält, wohingegen Bayern, zumindest gefühlt, gerne Beugehaft anordnen würde. In NRW sind weiterhin Familienfeiern mit 150 Teilnehmenden gestattet, obwohl genau diese Festivitäten seit vielen Wochen für zahlreiche Infektionsherde verantwortlich sind. Der Bund fordert ein Verbot von Großveranstaltungen bis zum Jahresende, in Berlin wird an Plänen gearbeitet, bis zu 5.000 Besucher in Fußballstadien zuzulassen, da der Senat Veranstaltungen im Freien bei bis zu 5.000 Besuchern für unkritisch hält und in NRW traut sich Herr Laschet nicht, eine klare Aussage zum Karneval zu treffen, da er zunächst die Wünsche der Karnevalisten erfragen will, so zumindest seine Aussage aus der letzten Woche gegenüber dem WDR.
Für Juristin unverständlich
Die hessischen Erlasse sind für eine Juristin eines Innenministeriums kaum verständlich, da Novellierungen nicht im vollständige Fließtext vorgenommen werden, sondern in aufeinanderfolgenden Änderungsmitteilungen vorgenommen werden, in denen mitgeteilt wird, welcher Satz in welchem Paragrafen durch welche neue Formulierung ersetzt wird. Nach inzwischen mehrfach vorgenommenen Veränderungen, stellt dies eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar, die wir alle noch von den losen Blattsammlungen kennen, die recht akribisch einzusortieren waren, wenn man stets über eine aktuelle Version von zum Beispiel Tarifwerken verfügen wollte. Wenn die Unterschiedlichkeit bei der Schaffung von Nichtraucherschutzgesetzen schon dazu geführt hat, dass man sich bei Reisen durch die Republik mit sich immer wieder ändernden Regularien konfrontiert sah, stellt die derzeitige Situation, wir befinden uns nämlich immer noch in einer Pandemie mit hohem Gefährdungspotential, eine absolute Überforderung für die Bürger dar, weil der Wechsel vom Bundesland Brandenburg in die Hauptstadt Berlin schon erfordert, sich auf vollständig andere geltende Schutzmaßnahmen einzustellen.
Die hier nur in Ausschnitten beleuchteten lokal unterschiedlichen Regelungen und die öffentlich von den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ausgetragenen Kämpfe zur Bewahrung von persönlichen Eitelkeiten lassen die Bevölkerung dann völlig an der Kompetenz der politischen Führungskräfte und der Exekutive zweifeln, wenn zusätzlich eine zunächst untersagte Demonstration von maximal verwirrten Personen und Demokratiefeinden dann doch durch ein Verwaltungsgericht zugelassen wird.
Verantwortungsvolle Berichterstattung
Eine Demokratie muss die freie Meinungsäußerung zulassen und in diesem Fall auch ertragen können. Um das zu können, ist es jedoch auch erforderlich, dass die Bevölkerung nicht durch all zu viel Populismus das Vertrauen in die Führung des Landes verliert. Nicht selten haben wir hier erwähnt, dass hierzu auch verantwortungsvolle Berichterstattung erforderlich ist. Auch dieser Hinweis findet sich bereits in der Drucksache 17/12051 des Bundestages aus Januar 2013. Dennoch getraut sich niemand, den Schmierfinken der Bild öffentlich Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, wenn diese titelt, das das zunächst für Berlin ausgesprochene Demonstrationsverbot, welches angesichts einer nachvollziehbaren Gefährdungsbeurteilung ausgesprochen wurde, eine nicht hinzunehmende Grundrechtseinschränkung für Andersdenkende darstellt, nachdem das gleiche Blatt kurz zuvor die Gefährdung für die Bevölkerung betont, die von Demonstranten ausgeht, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit positionieren. Es wäre schön, wenn nach dem Wochenende alle ernstzunehmenden Medien melden würden, dass die Bundesrepublik den Vorwurf der Corona-Diktatur gelassen entkräftet hat, indem sie auch Demokratiegegnern und völlig verwirrten Menschen, wie z.B. Xavier Naidoo und dem Grünkohl-Goebbels Attila Hildmann, das in unserer Verfassung verankerte Recht der freien Meinungsäußerung ermöglicht hat.
Angesichts dessen, was an diesem Wochenende in Berlin und in den Medien zu ertragen sein wird, sei mir diese freie Meinungsäußerung zugestanden, bevor wir uns wieder dem Katastrophenschutz und dem Gesundheitswesen widmen, da besonders dem Katastrophenschutz unruhige Zeiten bevorstehen und zeitgleich absolutes Behördenversagen im Kreis Gütersloh (Tönnies) mit einer 150.000 Euro Imagekampagne belohnt wird, damit sich der Kreis Gütersloh in einem besseren Licht präsentieren kann.
Ruhrbarone: Warum kommen unruhige Zeiten auf den Katastrophenschutz zu? Was sind Ihre Befürchtungen?
Memmeler: Die Forderung, es darf kein einfaches „weiter so“ geben, wird derzeit leider von vielen vollständig unterschiedlich vorgetragen und führt momentan leider dazu, dass einige wenige berechtigte Forderungen zur Stärkung des Katastrophenschutzes vortragen und gleichzeitig viele Interessenvertreter lediglich finanzielle Forderungen durchsetzen und die eigene Machtposition stärken wollen.
In einem unserer Interviews haben wir bereits auf die schlicht unhaltbaren Zustände in Teilen des sächsischen Katastrophenschutzes hingewiesen, als wir zum Beispiel über den Zustand von Gerätehäusern, Fahrzeughallen und Gemeinschaftsräumen der Katastrophenschutzorganisationen in Sachsen berichtet haben. Aus diesem Grund und weil die lange angekündigte Novellierung des Sächsischen Brandschutz-, Rettungsdienst- und Katastrophenschutzgesetzes noch immer auf sich warten lässt, hat sich dort ein breites Bündnis von am Katastrophenschutz beteiligten Organisationen und Ehrenamtlern gegründet, welches sich Status 6 nennt. Status 6 bedeutet schlicht außer Dienst. Im Rettungsdienst und Katastrophenschutz wird dieser Status häufig verwendet, wenn Defekte, Personalmangel oder andere Einschränkungen einen regelhaften Einsatz nicht zulassen.
Status 6
Der gewählte Bündnisname Status 6 steht also sehr eindeutig für die Herausforderungen, denen sich der Katastrophenschutz in Sachsen ausgesetzt fühlt. Dieses Bündnis kann also durchaus zu denen gezählt werden, die berechtigt auf „To Does“ hinweisen, die es zu erledigen gilt, wenn wir, in diesem Fall in Sachsen, einen funktionsfähigen Katastrophenschutz erhalten wollen, mit dem wir den aktuellen Herausforderungen begegnen können. Deshalb sollten wir diesem Bündnis hier, stellvertretend für viele andere, eine Plattform geben, um auf berechtigte Forderungen hinzuweisen.
In einem offenen Brief an Innenminister Prof. Dr. Roland Wöller kündigt das Bündnismitglied Markus Kremser eine Sternfahrt von Bevölkerungsschützern nach Dresden an, die am 16.09.2020 stattfinden soll. Das Ziel der Sternfahrt wird nicht damit begründet, dass es sich um den Regierungssitz handelt, sondern damit, dass Katastrophenschutzfahrzeuge stets vor der eindrucksvollen Altstadtkulisse übergeben werden, um dem Innenminister eindrucksvolle Pressebilder zu garantieren, statt die Fahrzeuge vor zum Teil maroden Unterkünften der Katastrophenschutzeinheiten übergeben zu müssen, was den Handlungsbedarf unterstreichen würde.
In dem offenen Brief heißt es:
„Und es ist schlichtweg eine Tragödie, dass offensichtlich niemand in ihrem Hause bemerkt, dass Sie in Sachen Katastrophenschutz nicht „vor der Lage“ sind:
- Fünf Jahre nach der Flüchtlingsnothilfe gibt es für Sachsen kein Konzept für den Betreuungsdienst (z.B. Betreuungsplatz 500).
- Mitten in einer Pandemielage fragt sich niemand, ob es für die weißen Einheiten nicht ein Konzept für den CBRN-Einsatz bräuchte. (Unter CBRN-Gefahren versteht man den Schutz vor den Auswirkungen von chemischen (C), biologischen (B) sowie radiologischen (R) und nuklearen (N) Gefahren.)
- Mitten in der Pandemielage fragt sich niemand, wie es um die hygienischen Bedingungen in den Gerätehäusern bestellt ist
- auf das Thema Digitalfunk und neue taktische Möglichkeiten des Einsatzes von Ehrenamtlichen will ich gar nicht erst eingehen
- über die Notwendigkeit der Gruppe „Technik und Sicherheit“ hat wahrscheinlich auch noch niemand nachgedacht.
Neue Autos zu beschaffen ist schön. Schön einfach. Das gibt tolle Fotos auf dem Theaterplatz. Was wir VIEL DRINGENDER brauchen ist etwas ganz anderes:
Wir brauchen eine langfristig angelegte Strategie für den Bevölkerungsschutz in Sachsen. Und ja, dazu gehören Gerätehäuser.
Wir brauchen Kommunikation WÄHREND der Entscheidungsprozesse, um Fehler zu verhindern, wie beispielsweise die Beschaffung dieser MTWs (Mannschaftstransportwagen) (Ich weiß, dass einige die Autos toll finden. Ich kann bei Gelegenheit gerne einmal erläutern, warum ich das für eine Fehlbeschaffung halte). Jubel-Newsletter, die (Fehl-)Entscheidungen mitteilen, die ohnehin schon vom Buschfunk vermeldet wurden, helfen nicht. Die Entscheidungsprozesse müssen transparent werden und nicht nur frühzeitig, sondern von Anfang an mit den Fachleuten in den Einheiten abgestimmt werden.“
Offensichtlich wurde hier also, nach der Meinung zahlreicher Nutzer, am Bedarf vorbei beschafft. Es fehlt den Bevölkerungsschützern an Wertschätzung und zahlreiche, für andere Bundesländer normale Konzepte, wurden offenkundig gar nicht erst etabliert. Aus den im offenen Brief benannten Gründen sollten wir den Kolleginnen und Kollegen in Sachsen am 16.09.2020 mindestens genau so viel Aufmerksamkeit wünschen, wie sie den verwirrten Aluhutträgern an diesem Wochenende in Berlin zu Teil wird.
Ehrenamtskampagne für 3,5 Mio
Diese für den Bevölkerungsschutz recht unübliche öffentlich vorgetragene und lautstarke Meinungsäußerung erwächst aktuell aus den bundesweit immer wieder stattfindenden Einsatzanforderungen und den daraus resultierenden Diskussionen, warum hierzu noch keine Rechtsgrundlage geschaffen wurde, warum Ehrenamt aus Skrupellosigkeit resultierende Schadenslagen bewältigen muss, nachdem Schlachtbetriebe, durch Nichteinhaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen, für große Infektionsgeschehen gesorgt haben und warum Ehrenamt Testzentren aus dem Boden stampfen muss, Nachdem Politik das Ferienende verschlafen hat und sich dann auch noch Anfeindungen ausgesetzt sehen musste. All diese Diskussionen und Meinungsäußerungen halte ich für gerechtfertigt und notwendig, wenn der Katastrophenschutz nachhaltig gestärkt werden soll, indem nicht nur eine adäquate Ausstattung zur Verfügung gestellt wird, sondern den Bevölkerungsschützern auch Wertschätzung entgegengebracht wird. Hierzu entwickelt das NRW Innenministerium derzeit zum Beispiel eine Ehrenamtskampagne, für die 3,5 Millionen Euro zur Verfügung stehen, was tatsächlich relativ beispiellos in der Bundesrepublik ist und unbedingt Nachahmung verdient.
Parallel zu diesen verständlichen Verbesserungs- und Veränderungsbemühungen vieler Beteiligter, werden existierende und an vielen anderen Stellen tatsächlich häufig auf Augenhöhe entwickelte Konzepte und gewachsene Strukturen gefährdet, da einzelne Interessenvertreter meinen, das durch die im Infektionsschutzgesetz verankerten Befugnisse des Gesundheitsministeriums entstandene Wirrwarr ausnützen zu müssen, um ausschließlich pekuniäre Interessen (Geld oder die Finanzen betreffend) zu befriedigen und eigene Machtinteressen zu stärken. Nicht wenige halten es für den absoluten Wahnsinn, dass nun an einigen Stellen Katastrophenschutzstrukturen in Ministerien in Frage gestellt werden, weil, wie eingangs erwähnt, Staatskanzleien die Führung in der Pandemielage übernommen haben und sich durch das Gesundheitsressort ausreichend beraten gefühlt haben. Angesichts der Situation in Sachsen und vor dem Hintergrund von zukünftigen Herausforderungen stellt ein solches Vorgehen eine tatsächliche Bedrohung von funktionierenden Bevölkerungsschutzstrukturen dar.
Gelassenheit, aber nicht übertreiben
Hier wünsche ich den beteiligten Parlamentariern die notwendige Gelassenheit, um auf allzu populistische Forderungen nicht überzogen und unangemessen zu reagieren, sondern die diversen Eingaben und Anschreiben angemessen zu hinterfragen. Leider wird dieses Vorgehen zahlreicher Interessenvertreter dadurch unterstützt, dass viele im Schatten der Pandemie weiter vorangetriebenen Gesetzesnovellierungen, zum Beispiel die mehrfach erwähnte Novellierung der Notfallversorgung, dazu führen, dass die ehemals als aufwuchsfähig beschriebene Einheit aus Rettungsdienst und Katastrophenschutz in Frage gestellt wird und die Regulierungskompetenz für beide Bereiche urplötzlich nicht nur neu diskutiert wird, sondern sogar die Frage auftaucht, ob der sanitätsdienstliche Bereich des Katastrophenschutzes nicht unmittelbar dem Rettungsdienst zugeordnet werden müsse. Sollte sich diese Forderung, die derzeit bundesweit immer wieder auflodert, durchsetzen, würde dies gut funktionierende Konzepte in zahlreichen Bundesländern von den Füßen auf den Kopf stellen und zu einem noch wesentlich größeren Abstimmungsbedarf führen, als es derzeit ohnehin schon erforderlich ist. Ja, wir müssen, wie in Sachsen gefordert, Bevölkerungsschützern auf Augenhöhe begegnen. Ebenso müssen wir aber auch beachten, dass für die erforderlichen Gesetzgebungsverfahren Expertise eingeholt werden muss, Gesetze aber auch nie alleinig durch Interessensvertreter verfasst werden dürfen.
Ruhrbarone: Vor einer kurzen Urlaubspause, nach der wir uns hoffentlich gesund weiter unterhalten können, noch eine abschließende Frage: Was wünschen Sie sich für die klinische Versorgung und die Pflege?
Memmeler: Auf die Gefahr hin, dass wir uns hier wiederholen und der Eindruck entsteht, dass wir im heutigen Interview nur jammern, will ich diese Frage gerne möglichst kurz aber eindeutig beantworten.
Trotz allen wohlmeinenden Applauses werden viele Pflegekräfte nicht nur weiterhin mies bezahlt. Sie haben es in der Pandemie, wenn für viele auch kaum vorstellbar, auch schwerer, Arbeit zu finden. Die Arbeitslosigkeit ist in diesem Mangelberuf wirklich gestiegen, obwohl die Anforderungen in der Pandemie nicht geringer geworden sind. Grund sei die erschwerte Vermittlung, sagt die Bundesagentur für Arbeit. In Zahlen: Es gibt rund ein Viertel mehr arbeitslose Pflegerinnen und Pfleger als zu Jahresbeginn, nämlich 13.000. Mehr als jede vierte Stelle im Pflegebereich ist dem Niedriglohnsektor zuzurechnen, auch das teilte die Bundesagentur mit. In Ostdeutschland beträgt der Anteil sogar 40 Prozent. Der Pflegemindestlohn muss also unbedingt und möglichst unmittelbar durch einen geltenden Flächentarif ersetzt werden, wenn es hier zu einer wirklichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen kommen soll.
In den Krankenhäusern haben neoliberale Ideologen seit den 90er-Jahren ein Vergütungssystem geschaffen, das durch die Vergütung nach Diagnose und nicht nach Aufwand dazu geführt hat, dass Kinderheilkunde nicht lukrativ und deshalb zum Mangelgut wurde und für Kliniken der Eingriff selbst und nicht die Genesung im Vordergrund steht. Dieser Eingriff wird finanziert, und je mehr die Kliniken an sonstigen Kosten, zum Beispiel der pflegerischen Betreuung zur Unterstützung der Genesung, einsparen, umso höher fällt ihr Gewinn aus. Ergebnis: Es gibt heute mehr Ärzte, aber weniger Pflegekräfte als vor 25 Jahren. Wer den Beschäftigten in den Kliniken zuhört, wird feststellen, dass sie kaum noch Gehaltsforderungen stellen – stattdessen gibt es überall in Deutschland Initiativen, die mehr Personal fordern. Beides muss zukünftig gewährleistet werden. Das Gesundheitssystem benötigt ausreichend Personal, welches auch angemessen vergütet wird.
Schlechte Kliniken als Maßstab
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat mit seiner Reform, in der er Pflegepersonal-Untergrenzen geregelt hat, die Situation noch verschärft. 2019 hat er die Pflegepersonal-Untergrenzen eingeführt. Sie schreiben den Kliniken vor, dass sie zumindest in besonders pflegeintensiven Bereichen wie Intensivstationen und der Geriatrie bestimmte Minimalwerte beim Pflegepersonal nicht unterschreiten dürfen. Die zwei größten Probleme seiner Untergrenzen: Spahn hat schlechte Kliniken zum Maßstab gemacht – alle Klinikleitungen, die sich mehr Personal leisten, stehen jetzt unter Rechtfertigungsdruck gegenüber ihren Aufsichtsräten, die Gewinne erwarten. Und zudem ist den Krankenhäusern möglich gemacht worden, Personal aus Stationen umzuschichten, in denen keine Untergrenzen gelten, was zu zusätzlichen Arbeitsbelastungen auf diesen Stationen geführt hat, die natürlich zu Qualitätsverlusten in der Patientenversorgung führen. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass 200 Millionen Euro, die zur Milderung der Personalnot in Kliniken gedacht waren, nicht durch die Krankenhäuser abgerufen wurden. Auch das ist in der Bevölkerung leider weitestgehend unbekannt. Die Pflege in den Krankenhäusern muss anders vergütet und der Personalbedarf anders bemessen werden als heute. Ein Konzept dafür hat die Gewerkschaft Verdi in einer denkwürdigen Allianz mit dem Krankenhausverband entwickelt. Die Politik muss das Pflegegeld reformieren, das die niedrigen Löhne in der Pflege zementiert. Nur so kann Pflege wieder ein Beruf werden, den Menschen gerne über eine lange Zeit ausüben. Womöglich wird er gar so attraktiv, dass die zahlreichen Pflegekräfte, die ihre Jobs an den Nagel gehängt haben, in die Kliniken und Altenheime zurückkehren, weil die Menschen in diesen Berufen Idealisten sind, die sich gerne am und für den Menschen einsetzen.
Einen Beitrag müssen aber auch die Pflegekräfte leisten. Sie sollten nicht darauf warten, dass sich die Gesellschaft ihrer Probleme annimmt. Pflegekräfte müssen ihre Probleme und Forderungen klar artikulieren. Solange die überwältigende Mehrheit von ihnen nicht einmal einer Gewerkschaft beitritt, wird sich an ihrer Lage wahrscheinlich nichts verbessern.
Einzig erfreulich vor diesem Hintergrund ist, dass Herr Spahn in dieser Woche angekündigt hat, ab Oktober mehr Testkapazitäten für das Gesundheitswesen bereitstellen zu wollen. Dieser Zusage, lässt der Bankkaufmann aus dem Münsterland dann jedoch sofort die nächste unbedachte Äußerung folgen, indem er betont, dass es durch momentan vorwiegend jüngere an Covid 19 Erkrankte zu einer Entlastung des Gesundheitssystems gekommen sei, da jüngere Erkrankte seltener in Kliniken behandelt werden müssten. Oma hätte gesagt: „Junge, schmeiß doch mit dem Hintern nicht um, was Du gerade mit den Händen aufgebaut hast.
Ruhrbarone: Schönen Dank, genießen Sie Ihren Urlaub noch – and keep distance.