Corona und Katastrophenschutz: ignorantia facti

CoVid in einer Bearbeitung von K. Gercek

Seit dem 15. März 2020 unterhalten sich die Ruhrbarone mit Magnus Memmeler.  Bis heute sind 39 Interviews entstanden, die auf den Katastrophenschutz blicken und auch die Corona-Krise nachzeichnen. Im 40. Interview geht es um Virusmutationen, um bislang unterlassene epidemiologische Überwachung (Surveillance), um die föderale Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen und um das Impfen. 

Ruhrbarone: Ab morgen gelten die am Dienstag von Bund und Ländern vereinbarten neuen Schutzmaßnahmen und der Lockdown wird – wie von vielen vorhergesagt- fortgesetzt. Bislang haben die Maßnahmen nicht viel gebracht. Wie sieht es aus im Land?

Memmeler: Die Lage ist unverändert ernst und könnte noch bedrohlicher werden. 1.188 Todesfälle innerhalb von 24 Stunden wurden in dieser Woche als Spitzenwert gemeldet und bei den Neuinfektionen mussten wir als Tageshöchstwert über 31.000 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden zur Kenntnis nehmen. Verlässliche Zahlen können laut RKI-Präsident Lothar Wieler jedoch erst in der kommenden Woche erwartet werden, da erst ab jetzt wieder vermehrt getestet wird und sich die zurückliegenden Feiertage immer noch auf den vorliegenden Datenbestand auswirken.

Seit März 2020 unterhalten wir uns wöchentlich, um eine kurze Bewertung der Situation vorzunehmen. Es ist Bund, Ländern und den Gesundheitsbehörden immer noch nicht gelungen für eine valide und täglich verfügbare Datenbasis zu sorgen. Das Virus macht keine Ferien! Gefühlt registrieren und melden alle Beteiligten noch wie es genehm ist.

Angesichts der neuen Virusvariante B.1.1.7 muss uns das wirklich Sorge bereiten, denn diese Virusvariante hat das Sprinten gelernt und verbreitet sich wesentlich rasanter als das Original, welches uns schon seit geraumer Zeit den Atem raubt. Wie soll eine Lagebewältigung gelingen, ohne dass wir auf Daten zugreifen können, die es uns ermöglichen zu bewerten, wie wirksam die eingeleiteten Schutzmaßnahmen sind.

Zusätzlich sollte es uns beunruhigen, dass sich am Dienstag Bund und Länder auf ein Maßnahmenpaket geeinigt haben, nachdem erneut eine Beratung durch Intensivmediziner und Virologen vorgeschaltet wurde, welches nun wieder in unterschiedlichem Umfang durch die Bundesländer umgesetzt wird.

Virologen haben uns sehr früh vorausgesagt, wie sich der Verlauf dieser Pandemie gestalten wird, welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden sollten und das mit Mutationen zu rechnen ist. Anstehende Landtags- und Bundestagswahlen und Lobbyinteressen haben aber offensichtlich dazu geführt, dass Politik den Bürger beruhigen wollte. Erreicht wurde durch dieses Vorgehen inzwischen das Gegenteil – zumindest bei mir.

Bereits am 19. November 2019, zwei Monate vor Ausbruch der Pandemie, wandte sich die Gesellschaft für Virologie gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie in einem dringenden Schreiben an Gesundheitsminister Jens Spahn, um darauf hinzuweisen, dass in Deutschland die Ressourcen fehlen, um Virusmutationen durch Surveillanceverfahren zu entdecken. In dem Schreiben ist zu lesen:

Ein „ministerielles Eingreifen“ von Jens Spahn sei „unausweichlich geworden“. Die Virologen und Mikrobiologen warnten den Gesundheitsminister, dass „ein beträchtlicher Teil der aktuell berufenen Expertenlabore seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann“. Bei einem Ausbruchsgeschehen fehlten deshalb „die Möglichkeiten der molekularen Surveillance“, also der Überwachung mittels eines genetischen Fingerabdrucks.

Nach Informationen von NDR, WDR und SZ hat Spahn bis heute noch nicht geantwortet. Seit über einem Jahr werden Experten bereits ignoriert? Virologen werden in der aktuellen Pandemie also ebenso konsequent ignoriert, wie dies bei allen Erkenntnissen der Katastrophenschutzexperten bisher der Fall war. Das vorliegende Drehbuch der Pandemie aus Januar 2013, welches von Katastrophenschutzexperten erstellt wurde und dem Bundestag seit Januar 2013 bekannt ist, haben wir hier bereits häufiger zitiert.


Magnus Memmeler mit Maske Foto: Privat

Magnus Memmeler (53 Jahre) lebt in Kamen. Seit über 31 Jahren arbeitet er im Rettungsdienst und Katastrophenschutz. 25 Jahre davon hat er diverse Leitungsfunktionen eingenommen. Er war beauftragt zur Organisation des Sanitätsdienstes beim DEKT in Dortmund und Verantwortlicher einer großen Hilfsorganisation bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Jahren 2013 – 2018. Er war zudem Mitglied bei der Stabsarbeit von Bezirksregierungen und in Arbeitskreisen des Innenministeriums bei der Konzeption von Katastrophenschutz-konzepten.

 

 


In Großbritannien wird seit Wochen ein verändertes Coronavirus beobachtet, das sich offenbar deutlich schneller ausbreitet als die bisherigen Varianten. So tragen im Großraum London bereits die meisten Neuinfizierten diese Variante in sich. Die Briten können das genau beobachten, weil sie umfangreich die Veränderungen des Coronavirus überwachen. So wird etwa jeder 15. positive Corona-Test einer so genannten Genom-Sequenzierung unterzogen. Das ist eine Analysemethode, die es ermöglicht, Veränderungen im Bauplan des Virus zu entdecken.

In Deutschland wurde im Vergleich nur knapp jeder 900. positive Corona-Test entsprechend analysiert. Die Folge: Deutschland weiß bis heute nicht, in welchem Ausmaß sich die neue Corona-Mutation auch hierzulande bereits verbreitet hat, weil die entsprechende Überwachung nur äußerst lückenhaft stattfindet.

Ruhrbarone: Eine Zwischenfrage, bitte. Wie schätzen Sie die Risiken durch die Virusmutation ein? Und welche Versäumnisse kritisieren Experten aktuell?

Memmeler: Das mutierte Virus ist viel ansteckender. Schätzungen zufolge um etwa 50 Prozent. In Dänemark machte die Mutante in der 52. Kalenderwoche 2020 bereits mehr als zwei Prozent der sequenzierten Stichproben aus. In den vier Vorwochen hatte sich diese Zahl jeweils verdoppelt: von rund 0,25 Prozent auf 0,5, 1,0 und 2,0 Prozent. Das mutierte Virus breitet sich, trotz der Lockdown-Maßnahmen rasant aus, welche die dänischen Fallzahlen im Dezember insgesamt deutlich abgesenkt haben.

Bislang lag ein kritischer Denkfehler in der Gefahreneinschätzung durch die Mutation vor. Hätte der Befund gelautet, das mutierte Virus sei um 50 Prozent tödlicher und würde 50 Prozent mehr Langzeitschäden verursachen, wäre der Aufschrei vermutlich groß gewesen. Bislang wurde aber stets darauf hingewiesen, dass der Krankheitsverlauf häufig weniger schwer verlief als beim „Original“.

Das gilt jedoch nur aus der Sicht der einzelnen infizierten Person. Diese Sichtweise auf die Gesamtbevölkerung zu übertragen ist ein Denkfehler. Eine um 50 Prozent erhöhte Infektiosität der Virusmutante bedeutet, dass sie im selben Zeitintervall zu viel mehr Todesfällen und Hospitalisierungen führen kann als eine erhöhte Todesrate. Die erhöhte Infektiosität wirkt sich exponentiell aus, was für eine erhöhte Todesrate nicht gilt.

Ein um 50 Prozent tödlicheres Virus führt zu 50 Prozent mehr Todesfällen in der Gruppe der Infizierten. Eine um 50 Prozent gesteigerte Infektiosität dagegen macht aus einer rückläufigen oder stabilen Epidemie leicht eine exponentiell anwachsende Infektionswelle, was die Hospitalisierungen und Todesfälle um ein Vielfaches erhöht, da die Anzahl der Infizierten mit etwas geringerem Sterberisiko extrem schnell ansteigt.

Die Virusmutation kann also zu einer völlig neuen Pandemiedynamik führen. Vor diesem Hintergrund kann die strategische Bedeutung der Impfung bzw. einer schnellen Durchimpfung der Gesellschaft gar nicht hoch genug bewertet werden. Gleiches gilt für die konsequente Umsetzung von Schutzmaßnahmen.

Deshalb gilt für die Bundesrepublik genau das, was die Virologin Isabella Eckerle in Bezug auf zwingend in der EU umzusetzende Maßnahmen gesagt hat:

„Das Virus respektiert keine Landesgrenzen. Dafür gibt es zu viel Mobilität. Wollen wir gut durch die nächsten Monate kommen, müssten jetzt alle Länder an einem Strang ziehen. Im Prinzip müssten alle Länder jetzt ähnliche Maßnahmen ergreifen, um das Virus einzudämmen. Ganz Europa bräuchte einen koordinierten Lockdown.“

Für die am Dienstag von Bund und Ländern beschlossenen Maßnahmen können wir bereits jetzt festhalten, dass der Expertenrat erneut nicht umgesetzt wird und einzelne Länder aus der Reihe tanzen. Nehmen wir NRW als Beispiel. In der von Donnerstag auf Freitag veröffentlichten Verordnung findet sich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf 15km für Hotspots mit einer Inzidenz von mehr als 200 nicht wieder.

Herr Laschet sagt, dass sollten dann bitteschön die betroffenen Regionen selbst entscheiden können. Die Kontaktbeschränkung von einer zusätzlichen Person, die auf eine Haushaltsgemeinschaft treffen darf, gilt in NRW nur im öffentlichen Raum. Verdammt noch eins, das Virus kennt den Schutz des persönlichen Wohnraums nicht! Andere Bundesländer scheinen das begriffen zu haben oder verfügen über Viren mit geringerem Respekt vor der häuslichen Umgebung, als dies in NRW der Fall ist.

Bundesweites Versagen der Kultusminister*innen

Abgesehen davon, dass die am Dienstag vereinbarten Maßnahmen wohl kaum zu überwachen sind, gingen die Beschlüsse für viele Virologen noch nicht weit genug. Umso schlimmer, dass nun einige Länderchefs bei den Bürgern wieder für Verwirrung sorgen oder noch schlimmer den Eindruck erwecken, dass die Maßnahmen im Alltag eh nichts bringen. Wären die Maßnahmen sinnvoll, würden sie ja überall umgesetzt, werden sich nun wieder viele denken und fröhlich über die Rodelpisten der Mittelgebirge herfallen.

Ganz ehrlich, auch wenn ich mich mit dieser Aussage angreifbar mache – ich kann das kindische Grinsen unseres Ministerpräsidenten nicht mehr sehen, wenn er zum wiederholten Mal ankündigt, dass er einheitlich beschlossene Maßnahmen und wissenschaftliche Expertise erneut ignoriert. Getoppt wird dieses Verhalten lediglich vom bundesweiten Versagen unserer Kultusminister*innen, die es konsequent vergeigen, ein Konzept für einen Schulbetrieb unter Pandemiebedingungen zu erarbeiten.

In London rief Bürgermeister Khan wegen der dramatischen Situation einen „major incident“ aus – ein Großschadenereignis, das die öffentliche Sicherheit bedroht. Es handele sich um eine absolute Krisensituation, denn das Virus sei „außer Kontrolle“, sagte Khan. Im Westen der USA droht das Gesundheitssystem zu kollabieren. Wer nur geringe Überlebenschancen hat, wird im Bezirk Los Angeles künftig nicht mehr durch den Rettungsdienst ins Krankenhaus gefahren.

Rettungskräfte im US-Bezirk Los Angeles dürfen wegen der Überlastung durch die Coronakrise bestimmte Patienten mit geringer Überlebenschance nicht mehr in Krankenhäuser bringen. Zudem soll das Verabreichen von Sauerstoff auf Patienten mit niedriger Sauerstoffsättigung im Blut von weniger als 90 Prozent begrenzt werden, wie es in einer weiteren Direktive des Dienstes heißt.

Von solchen Zuständen sind wir derzeit noch relativ weit entfernt. Noch!

Professor Uwe Janssens Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) warnt aber bereits seit Wochen davor, dass die Intensiv- und Notfallmedizin auch in der Bundesrepublik am Limit arbeitet. Es liegt also aktuell an uns allen und an unseren Landespolitikern im ganzen Bundesgebiet, ob es uns gelingt, nicht in solch katastrophale Lagen zu geraten, wie es sie in London oder Los Angeles gerade zu beherrschen gilt.

Angesichts dieses föderalen Schaulaufens unserer Landespolitiker unter Pandemiebedingungen feiere ich das Schuldeingeständnis von Bodo Ramelow geradezu ab, wenn dieser aktuell einräumt, Fehler begangen zu haben. Thüringens Ministerpräsident hat in einer Fernsehsendung eingeräumt:

„Ich habe mich von Hoffnung leiten lassen, was sich jetzt als bitterer Fehler zeigt.“

Zusammengefasst ist dies seine Bewertung zu den September- und Oktoberbeschlüssen von Bund und Ländern aus 2020, die auch dank ihm aufgeweichter ausfielen, als vom Kanzleramt und Virologen empfohlen.

Ministerpräsident Michael Kretschmer, der aktuell in Sachsen versucht die dortigen Fallzahlen zu senken ist von einem solchen Eingeständnis noch weit entfernt. Gleiches gilt für Dr. Reiner Haseloff in Sachsen-Anhalt und viele andere Länderchefs, die meinen schlauer zu sein als führende Virologen oder eine Kanzlerin mit wissenschaftlichem Hintergrund, Karl Lauterbach als Epidemiologe und ein Kanzleramtsminister, der Mediziner ist.

Soll die Impfstrategie uns also weiterhin aus der Pandemie erlösen können, müssen wissenschaftliche Empfehlungen und existierende Empfehlungen des Bevölkerungsschutzes endlich bundesweit und einheitlich umgesetzt werden und das Impfchaos aufgelöst werden.

Ruhrbarone: In der vergangenen Woche galt noch Impfstoffmangel allerorts. Jetzt plötzlich steht ein Impfstoff nach dem anderen zur Verfügung oder er wird zumindest angekündigt. Wie ist der Stand bei der Umsetzung der Impfstrategie in dieser Woche? Über welches Impfchaos sprechen Sie?

Memmeler: Ich versuche das aktuelle Geschehen möglichst ohne den Populismus zu kommentieren, der uns in den letzten vierzehn Tagen begleitet hat, als über den Impfstart berichtet wurde. Dennoch muss ich wohl einige Fragen offen ansprechen, die derzeit im Raum stehen.

Jens Spahn, der gemeinsam mit Herrn Laschet eine Führungsposition innerhalb der CDU einnehmen will und dem Ambitionen als Kanzlerkandidat unterstellt werden, hat unlängst gesagt, dass beim Impfen alles nach Plan läuft und genau so viel Impfstoff vorhanden ist, wie er angekündigt hat. Deshalb würden die Impfzentren derzeit vielerorts auch noch durch Stillstand glänzen, weil zunächst nur in Seniorenheimen geimpft werden kann, da der Impfstoff für den Einsatz in den Impfzentren noch nicht ausreicht.

Warum um Gottes Willen mussten dann alle Impfzentren zwingend vor Weihnachten Betriebsbereitschaft melden? Wurde da extrem viel ehrenamtliche und hauptamtliche Motivation verbrannt, um bereits vor den Feiertagen eine Positivmeldung absetzen zu können, die inzwischen mitverantwortlich für den Impffrust der letzten Tage ist?

Der bayrische Ministerpräsident Söder musste in dieser Woche seine Gesundheitsministerin Melanie Huml durch den bisherigen Staatssekretär Klaus Holetschek ablösen, da es erneut zu gravierenden Pannen in der Pandemiebewältigung gekommen ist. In Bayern wurden nämlich hunderte Impfstoffdosen falsch gekühlt und sind dadurch unbrauchbar geworden, da Bayerns Gesundheitsministerium einfache Camping-Kühlboxen für den Impfstoff-Transport eingesetzt hat.

Fachleute aus der Pharma-Logistik können über den bayerischen Dilettantismus nur den Kopf schütteln. Deren Kommentare gegenüber dem „Spiegel“ hierzu sind vernichtend:

„Wenn ich mit so einer Box bei einem Kunden auftauchen würde, wäre ich mein Geschäft los.“

(Denis Look, TSafe Group)

„Solche Boxen wie die von Dometic sollten im Arzneimitteltransport nicht zum Einsatz kommen.“

(Nico Höler, Tec4med)

„Wenn die Impfstoffe mit solchen Boxen transportiert werden, ist das schon heftig. Für diesen Transport von solchen Medikamenten gibt es geeignetere Lösungen.“

(Christian Mohr, BITO-Lagertechnik)

„In der Pharmalogistik kommen solche Produkte nicht zum Einsatz. Wir verwenden nur qualifizierte Ausrüstungsgegenstände mit einem entsprechenden Zertifikat.“

(Thomas Engler, TempTrans)

Diese aus Onlinemeldungen des Spiegels stammenden Zitate zeigen, dass es vielerorts leider immer noch an der erforderlichen Ernsthaftigkeit mangelt, um einer Pandemie mit fachkundigen Spezialisten zu begegnen. Oder anders ausgedrückt – wie ist es möglich, dass jemand, der nicht über das ausreichende Fachwissen verfügt, für die Beschaffung eines Logistikmittels verantwortlich ist, welches zum Impferfolg beitragen soll, um diese Pandemie zu bewältigen?

Man könnte nun beschwichtigend argumentieren, es ist ja schließlich eine Pandemie ungeheuren Ausmaßes, da kann man kaum perfekt vorbereitet sein. Ja, könnte. Wenn es nicht den „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ (Drucksache 17/12051) gäbe.

Hinzu kommt eine erschreckend unterschiedliche Effektivität bei der Umsetzung der Impfkampagne innerhalb der Bundesländer. In der Statistik des RKI kann man das tagesaktuell nachlesen.

Besonders interessant sind hier die Unterschiede bei den berufsbedingten Impfungen, die sich auf medizinische Angestellte beziehen. Der Schutz des medizinischen Personals wird nämlich extrem unterschiedlich ausgeprägt in den Ländern realisiert.

Ob die zeitnah anstehende Terminvergabe für Impfungen reibungslos klappen wird, ist mancherorts ebenfalls fraglich, denn in einigen Bundesländern gibt es offenbar Probleme mit der Hotline für Termine zur Corona-Impfung. Die „Welt am Sonntag“ berichtet, die Nummer 116117 sei teilweise überlastet oder schwer zu erreichen und es komme zu längeren Wartezeiten.

In einigen Bundesländern, etwa Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, werden über die Hotline Termine für die Corona-Impfung vergeben. Anderswo, etwa in Berlin, soll die 116117 für solche Impftermine explizit nicht angerufen werden.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Angesichts der bestehenden Probleme, die Impfstrategie auf die Straße zu bringen, tragen die eigentlich als positiv zu bewertenden Neuzulassungen von Impfstoffen derzeit leider auch zu einer gewissen Verunsicherung bei, die kontraproduktiv ist, da wir immer noch eine in Teilen zu geringe Impfbereitschaft zu verzeichnen haben.

In der vergangenen Woche haben wir die EMA (europäische Arzneimittelbehörde) noch dahingehend zitieren müssen, dass der Impfstoff von Moderna erst Ende Februar zur Verfügung stehen wird. Ausreichend Druck im Kessel hat nun dazu geführt, dass der Impfstoff von Moderna bereits in dieser Woche zugelassen wurde und der Impfstoff von AstraZeneca ebenfalls noch im Januar zugelassen werden soll. Hoffentlich führt diese positive Wendung nicht zu mangelndem Vertrauen in die Prüfung der Zuverlässigkeit der neuen Impfstoffe.

Dass wir dieses Vertrauen in die Impfstoffe benötigen, bestätigen erneut sehr offene Worte von Bodo Ramelow. Sichtlich erregt und auch besorgt berichtet Ramelow in dieser Woche von Gesprächen mit Geschäftsführern von Kliniken in Thüringen, die ihm gesagt hätten, „dass nur sehr wenige Mitarbeiter bereit sind, sich impfen zu lassen“. Konkret erklärt Ramelow, das nur 30 bis 40 Prozent der Mitarbeiter bereit sind sich impfen zu lassen.

Genug Betten in den Kliniken für Covid-Kranke gebe es, sagt Ramelow. Das Krankenhaussystem drohe aber daran zu scheitern, dass zu wenig Personal da sei. In Eisenach habe sich eine Klinik von der Versorgung Covid-19-Kranker abgemeldet, weil rund 100 Mitarbeiter entweder selbst mit Corona infiziert oder in Quarantäne seien. Ramelow fürchtet, dass das Beispiel „Schule“ macht.

„Wir haben die große Hoffnung gehabt, dass die Impfungen auch der Schutzbedürftigen und auch derjenigen, die an den Patienten arbeiten, die erste Risikostufe ist, mit der wir mindern können. Aber ich erlebe jetzt, dass genau dieser Teil so nicht funktioniert.“

Ramelow weiter:

„Wenn ich höre, dass das Impfen nicht weitergeht, dann haben wir ein Problem. Und zwar ein handfestes. Weil wir dann nämlich an die Grenzen, an das Limit dessen kommen, was wir im Gesundheitswesen noch leisten können.“

Thüringen hatte darauf gesetzt, Klinikpersonal zu impfen, um die Krankenhäuser betriebsbereit zu halten und den Mitarbeitenden Sicherheit zu geben. Diese Strategie könnte nun eventuell nicht aufgehen. Andernorts würde man diese Strategie begrüßen, wie unter anderem die Forderung der Essener Oberärztin, die als Doc Caro im Web bekannt wurde, zeigt, in der Sie dazu auffordert notfallmedizinisches Personal privilegiert zu impfen.

Einrichtung dezentraler Impfstellen

Der jetzt zugelassene Impfstoff von Moderna und der in Aussicht stehende Impfstoff von AstraZeneca würden es zulassen, die aktuelle Impfstrategie anzupassen, um möglichst schnell eine effektive Durchimpfung der Gesellschaft zu erreichen. Nein, eigentlich muss die Empfehlung der Impfkommission sogar überarbeitet werden, wenn wir den neuen Herausforderungen der Pandemie begegnen wollen die durch die Virusmutationen entstanden sind.

Der Impfstoff von Biontech ist erwiesener Maßen der effektivste Impfstoff, um die Menschen in der Altersgruppe 70 plus zu schützen, da er im Gegensatz zum Impfstoff von Moderna auch in dieser Altersgruppe den bekannt hohen Schutz bietet. Einzig das Kühl- und Transportproblem müsste hier angemessen bewältigt werden.

In meinem Heimatkreis gibt es hierzu bereits Überlegungen, damit in der eigenen Häuslichkeit lebende Senioren nicht bis zu 28 Kilometer Weg auf sich nehmen müssen, um im Impfzentrum geimpft zu werden, wenn die eigene Mobilität eingeschränkt ist. Die Lösung wären hier kleinere und durch mobile Impfteams dezentral einzurichtende Impfstellen, in die impfwillige Senioren einbestellt werden könnten und hierfür durch Fahrdienste von Sozialverbänden ein Transportangebot erhalten.

Schließlich sind die mobilen Teams derzeit bereits auch schon in Senioreneinrichtungen im Einsatz. Schon gäbe es eine Lösung, um den perfekten Impfstoff für diese vulnerable Gruppe im ausreichenden Maße in der Zielgruppe verimpfen zu können.

Der wesentlich leichter und bis zu 30 Tagen in Kühlschränken zu lagernde Impfstoff von Moderna könnte sodann flächig in Kliniken und Pflegediensten eingesetzt werden, um diese kritische Infrastruktur zu schützen. Ohne eine gesicherte ambulante Pflege müssten eventuell zahlreiche Seniorinnen und Senioren, die der Pflege bedürfen, stationären Einrichtungen und Kliniken zugewiesen werden, die beide bereits an der Belastungsgrenze arbeiten.

Ambulante Pflegekräfte sind sehr häufig der einzige Kontakt zur Außenwelt für Senioren, der nicht zur Kernfamilie gehört. Eine Impfung von ambulanten Pflegekräften würde somit zum Schutz von gefährdeten Senioren und ambulanten Pflegekräften beitragen. Zusätzlich würde die medizinische Versorgung durch Kliniken gesichert, wie es auch der Plan in Thüringen war.

Mit der Zulassung des Impfstoffs von AstraZeneca, der bis zu 6 Monaten im Kühlschrank haltbar ist, könnten unmittelbar auch Arztpraxen in die Impfstrategie einbezogen werden, um die dort versorgten Risikogruppen impfen zu können.

Durch die Einbeziehung von ca. 43.000 Allgemeinmedizinern Deutschlands in die Impfstrategie wäre die Impfquote von 70% deutlich schneller erreichbar und sehr zeitnah wäre auch der momentan leider noch zu mobile Teil der Bevölkerung geimpft, der den größten Anteil zur aktuellen Infektionsdynamik beiträgt und dadurch vulnerable Gruppen gefährdet.

Mit Stand 08.01.2021 erreichen uns in den kommenden Monaten 60 Millionen Impfdosen von Biontech, 50,5 Millionen Impfdosen von Moderna und 56,2 Millionen Impfdosen von AstraZeneca über die gemeinsame Bestellung durch die EU. Aus meiner zugegebener Maßen von Pragmatismus geprägten Sicht, ohne ethische Einschränkungen, wäre die zuvor kurz skizzierte Anpassung der Impfstrategie, angesichts der neuen Möglichkeiten, zwingend angezeigt.

Bis zum Erreichen der ausreichenden Impfquote müssen wir halt aufpassen, dass unsere Kliniken nicht überlastet werden und nicht in die Insolvenz rutschen und dass auch Betriebe begreifen, dass Arbeitsschutz Katastrophenschutz bedeutet. Wären sich viele Betriebe über das bestehende Haftungsrisiko bewusst, würden sie sich wahrscheinlich mehr dafür engagieren, dass zum Beispiel die Mitfahrer in Transportern von Handwerksbetrieben häufiger Masken tragen würden.

Medienberichte über Erkrankungen mit dem Covid-19-Virus am Arbeitsplatz sind inzwischen leider ebenso häufig wie Nachrichten über Infektionen bei Corona-Partys.

Angesichts dessen, was wir auch heute nur oberflächlich behandeln konnten, befürchte ich, dass wir uns noch häufiger miteinander unterhalten werden, als wir beiden im letzten März gedacht haben.

Ruhrbarone: Lieben Dank und bleiben Sie gesund.

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Ke
Ke
3 years ago

Danke für die Infos
Hoffentlich kommen wir mit den Impfungen voran. Ich habe die Befürchtung, dass Ärztevertreter etc vermeiden werden, dass die bestehenden Strukturen in irgendeiner Weise Konkurrenz bekommen.
Wieso man die Impfungen , wenn vorhanden , nicht einfach durch Impfpersonal ausgibt erschließt sich mir nicht. Ich wüsste auch nicht, für was ich ein Impfgespräch etc brauchen sollte.

Susanne Scheidle
Susanne Scheidle
3 years ago

Ich lese mir gerade den "Newsticker" zu Gelsenkirchen auf der WAZ durch.
Es spottet wirklich jeder Beschreibung.
Seit Tagen berät man bei der Stadt wegen des Inzidenzwertes um 230 (nach anderen Quellen so um 260) über verschärfte Maßnahmen, welche es denn sein sollen, und ob sie überhaupt sinnvoll wären und überhaupt, aber das muss natürlich mit dem Land abgestimmt werden usw.
Im Update von heute wird von einer leicht gesunkenen Inzidenz berichtet, weil übers Wochenende kein neuer Fall gemeldet wurde – allerdings merkt man an, dass "über das Wochenende die Übertragung der Daten oftmals etwas hakt". Das ist nicht korrekt. Seit Wochen ist zu beobachten dass über das Wochenende schlicht keine Neuinfektionen gemeldet werden, über die Weihnachtsfeiertage war die Zahl über 5 Tage (!) gleich, über Silvester/Neujahr dasselbe Spielchen. So etwas sollte dem Krisenstab bei der Stadt eigentlich auffallen. Und ich halte es für zumutbar, vielleicht schonmal vorher zu überlegen, was denn zu tun ist, wenn die Zahlen nach den Feiertagen in die Höhe schießen weil all die Fälle dann natürlich nachgemeldet werden.
So vermeldet der Leiter des Krisenstabes am 7. Jan., dass sich über Weichnachten die Lage leicht entspannt hat (!) um sich dann einen Tag später zu korrigieren, nachdem er die aktuellen Werte auf dem Tisch hat, und noch einen Tag später die Lage (surprise! surprise!) als "dramatisch" beschreibt.
Geht's noch?
Es ist zum Heulen. Man möchte ins Rathaus reinmarschieren und den Verantwortlichen die Aktendeckel um die Ohren hauen.
Aber geht ja nicht.
Wegen Corona-Abstandsregeln…

DAVBUB
DAVBUB
3 years ago

@1: Ich schon: Der Onkel Doktor kassiert € 150.-/Stunde. Da wird jede Minute zum Gewinn.

ke
ke
3 years ago

@2 Susanne S.
Es hat Gründe, weshalb GE immer hinten ist. Und offensichtlich haben viele Anwesenden im öffentlichen Dienst keine Ahnung von Krisensituationen. Solche Vorkommnisse zeigen doch eher das absolute Desinteresse. Dass man so etwas nicht bemerkt oder übersieht, wenn man engagiert ist, ist doch nicht zu erwarten.
Die Kommunalebene braucht eine Führung durchs Land.
Man/frau jammert so lange über das Land, bis das Land sagt, dann macht mal.
Verantwortliche, die keine Verantwortung tragen wollen, brauchen wir nicht. Schon gar nicht in so einer Krise , in der es um Menschenleben und erhebliche Gelder geht.

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