Ruhrbarone: Man könnte meinen, in den vergangenen Wochen hätten wir bereits alles besprochen. Immer wenn man meint, jetzt gibt es eigentlich nichts Neues, tauchen Woche für Woche neue Aspekte auf. Also, was gibt es Neues?
Magnus Memmeler: Stimmt, eigentlich könnten wir es uns heute einfach machen und eine Meldung absetzen, die meinem Lieblingscartoon von Ruthe nahe kommt. In diesem Cartoon steht ein Mann im Badezimmer und der Nachrichtensprecher im Radio sagt schlicht: „Alle bekloppt! Das Wetter…“.
Betrachtet man die Meldungen zum Verhalten unserer Mitbürger, könnte es tatsächlich so einfach sein. Im Enneppe-Ruhr-Kreis hat das Ordnungsamt von Verstößen gegen die geltenden Schutzverordnungen berichtet, die mich nur noch den Kopf schütteln lassen. In Frisörbetrieben wird die Maskenpflicht missachtet, Gastwirte umgehen die Registrierung von Gästen, im ÖPNV wird es zunehmend schwieriger die Maskenpflicht bei Fahrgästen durchzusetzen und Ordnungsbeamte, die die Schutzverordnungen durchsetzen müssen, werden teilweise gewalttätig angegangen. Zunächst habe ich das für die Zusammenfassung von Einzelfällen in einem Landkreis in NRW gehalten, doch die veröffentlichten Übersichten über Verstöße gegen geltende Schutzvorschriften zeigen, dass dieses Phänomen der „Coronaüberdrüssigkeit“ bundesweit vorhanden ist und immer mehr Menschen bereit sind, das noch immer vorhandene Risiko einer Infektion zu ignorieren. Leider geht diese Ignoranz auch mit erneut steigenden Infektionszahlen in vielen Regionen der Republik einher. Die relative Sicherheit, die wir durch die Schutzmaßnahmen der vergangenen Monate erreicht haben, wird vielerorts inzwischen als absolute Sicherheit missverstanden und andere geben schlicht zu, dass sie einfach keinen Bock haben, ihr Alltagsverhalten an ein mögliches Infektionsrisiko anzupassen. Es wäre schlicht gelogen, wenn ich hier behaupten würde, dass ich ausschließlich auf der eigenen Terrasse sitze, wenn ich die Freizeit genieße und deshalb die Gastronomie meide. Ich stelle aber fest, dass mir der angemessene Tischabstand im Biergarten mindestens genauso wichtig ist, wie ein gut gezapftes Bier, welches gut gekühlt serviert wird. Beim Anblick von dicht an Stehtischen gedrängten Menschen, die sich bierselig in den Armen liegen, zieht es sich in mir einfach extrem unwohl zusammen. Leider muss ich für dieses Unwohlsein keine Partyberichte aus Nizza, Köln, Düsseldorf oder vom Isarufer im TV betrachten, sondern ich kann es in den gleichen heimischen Biergärten von hiesigen Lokalen beobachten, die noch vor wenigen Wochen dankbar waren, dass Stammgäste sich solidarisch zeigten und Unterstützer T-Shirts gekauft haben, um die heimische Gastronomie zu unterstützen. Aktuell hat man den Eindruck, dass zumindest einige Gastronomen ebenso erfolgreich wie die Gäste verdrängen, dass sie durch allzu große Toleranz gegenüber Fehlverhalten eine erneute Schließung der Gastronomie riskieren. In Köln und anderen Städten werden nun Versuche gestartet, dem Gedränge in den Altstädten mit Popup–Biergärten zu begegnen, durch die eine Entzerrung der Menschenansammlungen erreicht werden soll. Offensichtlich gehört es zur neuen Realität, dass Kommunen und Gastronomie gefordert sind, kreativ auf die Coronamüdigkeit der Bevölkerung zu reagieren.
Wir alle sollten uns die Frage stellen, wie es zum Beispiel Pflegekräften wie Nina Böhmer, die im Stern ein Interview zu ihrer Arbeit unter Coronabedingungen gegeben hat, geht, wenn sie sieht, wie dumme und ignorante Menschen ihre eigene und die Gesundheit anderer durch Fehlverhalten riskieren. Nina Böhmers klare Aussage lautet: „Euren Applaus könnt ihr Euch sonst wohin stecken“. In Ihrem gleichnamigen Buch schildert sie die Arbeitsbedingungen der letzten Monate in vielen Kliniken. Kurzarbeit, fehlende Schutzkleidung, psychische Belastung in der Corona-Zeit und die Backpfeife der Politik, als Pflegekräften in Kliniken plötzlich die in Aussicht gestellte Pflegeprämie vorenthalten wurde, stehen im Interview im Vordergrund. Das ist auch richtig, wenn wir die Arbeitsbedingungen in der Pflege endlich nachhaltig verbessern wollen, indem wir deutlich auf die Herausforderungen und Probleme in der Pflege hinweisen. Sehr wohl spricht Nina Böhmer aber auch an, was sie fühlt, wenn Sie sieht, wie Mitmenschen primitive Schutzvorschriften missachten und dadurch das Risiko für Pflegekräfte aufrecht erhalten, an SARS-CoV2 zu erkranken. Dass das Infektionsrisiko für Mitarbeitende im Gesundheitswesen extrem groß ist, wurde aktuell auch durch die AOK bestätigt, als diese Fallzahlen von Erkrankten, geschlüsselt nach Berufsgruppen, veröffentlichte. Der Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes der AOK verdeutlicht dies extrem anschaulich, indem im Bericht auch darauf hingewiesen wird, dass das hohe Infektionsrisiko für Pflegekräfte sogar Auswirkung auf die Verteilung von Infektionszahlen auf Männer und Frauen hat, da im Gesundheitsdienst vorwiegend weibliche Beschäftigte tätig sind. Wie muss sich also eine Pflegekraft fühlen, wenn sie sieht, dass die gleichen Menschen, die im März und April Kerzen in die Fenster stellten und Facebook-Nachrichten verfassten, um die Leistung von Pflegekräften zu würdigen, sich nun wie Vollidioten verhalten und ihren mindestens unbedachten Beitrag dazu leisten, dass Kliniken auch weiterhin Besuchern den Zutritt verweigern müssen, wodurch zum Großteil ältere Patienten noch weiter isoliert werden und Pflegekräfte sich weiterhin einem extrem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sehen, weil die einfachsten Schutzvorschriften schlicht ignoriert werden.
Noch schlimmer finde ich es, wenn dieses Fehlverhalten durch Ärzte unterstützt wird, die sich mit wenigen Euros zu Gefälligkeitsattesten hinreißen lassen, in denen sie eine Befreiung von der Maskenpflicht attestieren. Diesen Ärzten sollte man den Bilderrahmen mit dem auf Hochglanz gedruckten Eid des Hippokrates, der in deren Sprechzimmer hängt, rechts und links vor die Birne hauen, bis sie sich erinnern, wozu sie ausgebildet wurden.
Schlimm ist, dass nicht nur die Dummheit der Mitmenschen, sondern auch Behörden- und Politikversagen der vergangenen Jahre und aktuell bei der Formulierung von sogenannten Notstandsgesetzen dazu beigetragen hat, dass die Infektionsfallzahlen der letzten Monate so hoch waren, wie sie waren.
Ruhrbarone: Welche Versäumnisse sprechen Sie hier an? Die in Windeseile verfassten Infektionsschutzgesetze haben doch fast vollständige Handlungsfreiheit der Gesundheitsbehörden ermöglicht, um erforderliche Schutzvorschriften zu verfassen.
Memmeler: In einem aktuell erschienen Buch mit dem Titel „Corona – Geschichte eines angekündigten Sterbens“ ( Correktiv ) wird am Beispiel NRW`s gezeigt, wie die Landesregierung die Landkreise und Städte mit der Bewältigung der Krise allein gelassen hat. Seit 2015 ist dem Gesundheitsministerium in NRW bekannt, dass das Land NRW nicht ausreichend für den Fall einer Pandemie gewappnet ist. In einem in 2015 durch das Ministerium selbst in Auftrag gegebenen Arbeitspapier mit dem Titel „Infektionsschutz in NRW“ wurde die „Notwendigkeit überregionaler zentraler operativer Strukturen mit Entscheidungskompetenz auf Landesebene“ gefordert. NRW verfügt zwar über ein Landeszentrum Gesundheit (LZG), dieses ist jedoch mindestens so zahnlos bei der Koordination landesweiter Maßnahmen, wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), wenn es um die bundesweite Koordination von Katastrophenschutzmaßnahmen geht.
Im Gegensatz zu Regelungen in Bayern oder Hessen, war das LZG in NRW nicht dazu in der Lage eine operative Rolle, bei den Infektionsgeschehen im Kreis Heinsberg oder im Kreis Gütersloh zu übernehmen, um die Landkreise in der Krisenbewältigung zu unterstützen. Dem LZG in NRW ist schlicht keine Steuerungsfunktion zugewiesen, sondern wird als ausschließlich fachlich beratende Stelle beschrieben. In der Reaktion des Landes auf das eingangs erwähnte Arbeitspapier des Landesgesundheitsministeriums heißt es:
„Die Bewältigung von Ausbrüchen (….) muss grundsätzlich in Verantwortung des betroffenen Kreises bzw. der Bezirksregierung erfolgen.“
Dieses Desinteresse des Landes NRW an Koordinierung ist seit dem Jahr 2013 bekannt, da damals zahlreiche Gesundheitsamtleiter, unter anderem die damalige Leiterin des Gesundheitsamtes Köln, Anne Bunte, die jetzt ausgerechnet in Gütersloh tätig ist, eine landesweite Koordinierung für Infektionsausbrüche gefordert haben. Als es im August 2013 in Warstein zu einem Ausbruch der Legionellen-Krankheit kam, gab es im LZG keine Labor und wissenschaftliche Expertise, die den betroffenen Kreis Soest hätte unterstützen können. Aufgrund dieser Erfahrungen gründeten Verantwortliche in den Gesundheitsämtern und Ärzteverbänden unter der Leitung von Martin Exner, Direktor des Institutes für Hygiene und Öffentliche Gesundheit und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene eine Arbeitsgruppe, die dem NRW Gesundheitsministerium 2015 die Ergebnisse zum Infektionsschutz in NRW übergaben. Die wichtigste und zentrale Forderung lautete:
„Das Management außergewöhnlicher Infektionsereignisse von überregionaler Bedeutung (z.B. Pandemie) erfordert zentrale operative Strukturen mit Entscheidungskompetenz auf Landesebene.“
Dieser Aufbau von Spezialkompetenz, die den Kommunen operativ zur Seite stehen könnte, hätte pro Jahr 1,5 Millionen Euro gekostet. Wer weiß, wie viele Erkrankte nicht betroffen gewesen wären, wenn das Land diese Investition nicht gescheut hätte. Das Handlungspapier aus dem Jahr 2015 liest sich heute wie eine Handlungsanweisung für den aktuell zu bewältigenden Krisenfall. Damals empfand die Gesundheitsministerin Barbara Steffens, heute Leiterin der Landeszentrale der TKK, die Forschung zur Wirksamkeit von Homöopathie wichtiger. Ihr Nachfolger Karl-Josef Laumann tat es Frau Steffens gleich und wies die erneut durch Gesundheitsämter vorgetragenen Forderungen als nicht relevant für die aktuellen Herausforderungen an das Gesundheitssystem ab. Auch wenn die Landesregierung stets die beratende Funktion des LZG betont, um eigenes Handeln als wissenschaftlich begleitet darzustellen, gehört es zur bitteren Wahrheit, dass das LZG aktuell nicht einmal über eigene Laborkapazitäten verfügt, um zum Beispiel Tests in Corona-Hotspots zu unterstützen. Vielmehr ist es so, dass die für die Bewältigung der Infektionsgeschehen in Gütersloh zuständige Bezirksregierung berichtet, dass die betroffenen Gesundheitsbehörden der Region einen verzweifelten Hilferuf zusammen mit einem Amtshilfeersuchen an die Landesregierung richteten. Die Entsendung von Mitarbeitenden des LZG und anderer Kreisgesundheitsämter in den Kreis Gütersloh scheiterte jedoch in einigen Fällen daran, dass Mitarbeitende die Unterstützung verweigerten, da sie Sorge hatten, nach dem Einsatz in einem Lockdown – Gebiet nicht mehr in den Urlaub fahren zu können.
Ehrenamtliche der Hilfsorganisationen wurden jedoch sehr bereitwillig und ohne Rücksicht auf berufliche Probleme zur Ertüchtigung von Testzentren eingesetzt. Zeitgleich betonte die Landesregierung, dass LZG sei „mit bis zu zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlichen fachlichen Hintergrundes vor Ort vertreten“. Wer sich nun an die seit 2012 im Bundesinnenministerium vorliegenden Handlungsempfehlungen zur Bewältigung von Pandemielagen erinnert fühlt, hat unsere letzten Interviews aufmerksam gelesen und fragt sich wahrscheinlich auch, wie es sein kann, dass hochpräzise Handlungsempfehlungen zur Bewältigung von Pandemielagen in Bundes- und Landesministerien in Schubladen in Vergessenheit geraten konnten, obwohl Wissenschaftler, Katastrophenschützer, Gesundheitsämter und Fachzeitschriften zum Beispiel nach SARS, Vogelgrippe und Schweigegrippe regelmäßig an die vorhandenen Studien und Handlungsempfehlungen erinnert haben.
Zumindest wird aktuell eine Empfehlung durch die Politik geprüft, die sowohl im Papier, welches für das Bundesinnenministerium (2012), als auch im Papier für die NRW Landesregierung (2015) auftaucht. Schnelle und effektive Pläne für lokale Reisebeschränkungen sollen zukünftig zur Eindämmung von lokalen Infektionsgeschehen beitragen. Die Politik bemüht sich zu betonen, dass diese „neuen“ Maßnahmen einen Beitrag dazu leisten sollen, dass notwendige Beschränkungen ihren Schrecken verlieren sollen. Zuletzt betonte dies Kanzleramtsminister Braun gegenüber dem ZDF. Ehrlich wäre es, wenn der Kanzleramtsminister, der Bundesgesundheitsminister und die Ministerpräsidenten der Länder sagen würden, dass diese Maßnahmen erforderlich sein können, damit dieser Virus seinen Schrecken verliert.
Ruhrbarone: Stichwort: Reisebeschränkungen. Nicht nur die Mobilität von Bürgern, die in Regionen mit einem größeren Infektionsgeschehen wohnen, sondern eventuell auch Bürger, die aus dem Urlaub zurückkehren, werden eingeschränkt. Wie rüstet sich die Bundesregierung für diese Fälle?
Memmeler: Aktuell werden unterschiedliche Maßnahmen diskutiert, die dazu beitragen sollen, dass es nicht erneut zu größeren Infektionen kommt, die durch Urlaubsrückkehrer ausgelöst werden, wie es der Fall war, als Urlaubsrückkehrer aus Ischgl extrem große Infektionsgeschehen in der BRD auslösten. Urlaubsregionen, die als risikobehaftet eingestuft werden, machen eine Quarantäne nach der Urlaubsrückkehr erforderlich, bis durch zweifach negativen Test erwiesen ist, dass Urlaubsrückkehrer nicht infiziert sind. Dies ist aktuell zum Beispiel für Urlaubsrückkehrer aus Kroatien in der Diskussion, da sich dort zahlreiche Infektions-Hotspots gebildet haben, die seit einer Woche zu einer veränderten Risikoeinschätzung durch die Bundesregierung geführt haben. Zusätzlich werden Tests für all die Urlauber erwogen, die aus Regionen zurück kehren, die nicht als Corona-Hotspots bekannt sind, in denen aber die Infektionszahlen bei der Urlaubsrückkehr deutlich höher sind, als dies zum Einreisezeitpunkt in der BRD der Fall ist.
Klingt kompliziert, ist es auch. Natürlich weiß niemand bei Reiseantritt, wie sich zum Beispiel die Infektionszahlen in Österreich innerhalb von 14 Tagen Urlaub entwickeln werden und welche Maßnahmen deshalb nach der Reiserückkehr erforderlich sein werden. Das Beispiel Österreich wähle ich sehr bewusst, da Österreich bis vor Kurzem noch als Musterländle galt, in dem es nun aber, nach Abschaffung der Maskenpflicht, zu einem merklichen Anstieg der Neuinfektionen gekommen ist. Zusätzlich wurden in Österreich aktuell 84 Urlaubsrückkehrer als infektiös getestet, als die Österreichische Regierung zufällig ausgewählte Gruppen von Urlaubsrückkehrern auf mögliche Infektionen getestet hat. Am Beispiel Österreich können wir also erkennen, wie schnell sich Risikoeinschätzungen ändern können, wenn es zu veränderten Zahlen von Neuinfektionen kommt und ebenso zeigen die in Österreich bei Tests als positiv identifizierten Urlaubsrückkehrer, wie wichtig es ist Infektionseinschleppungen aus Urlaubsregionen zu vermeiden, wenn es in der zweiten Jahreshälfte, insbesondere im Herbst, nicht zu einem raschen Anstieg von Neuinfektionen kommen soll.
Zusätzlich wird durch den Kanzleramtsminister, sollte es zu größeren Infektionsgeschehen durch Urlaubsrückkehrer kommen, erneut der Einsatz der Bundeswehr im Inneren diskutiert, ohne das die gesetzliche Grundlage des Einsatzes gemäß Artikel 35 des Grundgesetzes bisher hinreichend geprüft wurde, was wir ja bereits in unserem Interview bemängelt haben, als wir über den Einsatz der Bundeswehr in Gütersloh berichtet haben.
Bevor uns nun erneut der Zuruf ereilt, ob wir notwendige Hilfen verhindern wollen, möchte ich betonen, dass dies nicht der Fall ist. Sehr wohl werde ich aber auch nicht müde, den Hinweis auf die den Katastrophenschutz regelnde Gesetzgebung zu geben, die nicht nur eine Reglementierung zur Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit beinhaltet, sondern die auch hilfreich wäre, um die Katastrophenschutzkonzepte zur Anwendung zu bringen, in denen die bereits in diesem Interview erwähnten Handlungsempfehlungen aus 2012 und 2015 umgesetzt werden könnten.
Zumindest diskutiert der Bundestag aktuell ein Konzeptpapier des Bundestagsabgeordneten Sebastian Hartmanns (SPD), in dem die zukünftige Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz erneut hinterfragt wird. Die realistische Empfehlung lautet, es solle zu einem Kooperationsgebot in der Zusammenarbeit von Bund und Ländern kommen, um die Ressourcen des BBK besser nutzbar für die Länder zu machen und das derzeitige Kooperationsverbot auflösen, um im gemeinsamen Zusammenspiel von Bund und Ländern auch die vorhandenen Vorteile des Föderalismus zu nutzen, die es bei allen sicherlich vorhandenen Negativbeispielen auch gibt.
Die Coronokrise zeigt, dass die im Grundgesetz verankerte Trennung von Zivilschutz als Bundesaufgabe und Katastrophenschutz als Länderaufgabe nur noch wenig Sinn ergibt. Zusätzlich wäre der Bund endlich dazu in der Lage, die Länderforderung zu erfüllen, verfassungs- und haushaltskonform Materialbevorratung zu betreiben, die den Bundesländern zur Nutzung im Katastrophenschutz zur Verfügung gestellt wird. Diese dezentrale Materialbevorratung könnte sicherlich auch die Handlungsfähigkeit stärken, sollte es durch Urlaubsrückkehrer zu größeren Infektionsgeschehen in den Bundesländern kommen, die ja sehr unterschiedlich zur Krisenbewältigung aufgestellt sind. Hierdurch würde auch, diesen Begriff habe ich heute erstmals gelesen, das Corona-Prekariat geschützt, welches stets mit einer gewissen Verzögerung, wegen prekärer Lebensverhältnisse aber umso heftiger, von Neuinfektionen betroffen wäre, wenn Urlaubsrückkehrer zu größeren Infektionsausbrüchen beitragen.
Ruhrbarone: Corona-Prekariat? Was meint man denn damit?
Memmeler: Diesen Begriff habe ich tatsächlich erst heute als Überschrift eines Artikels in einer Zeitung entdeckt, finde ihn jedoch recht prägnant und als sehr gut geeignet, um die Probleme von kritischen Unterbringungs- und Beschäftigungsformen in Pandemiezeiten zu beschreiben. Im Kontext mit Infektionsrisiken durch Urlaubsrückkehrer beschreibt dieser Begriff sehr gut, was vielerorts geschehen ist, als Urlaubsrückkehrer aus Ischgl große Infektionsgeschehnisse ausgelöst haben. Sozialwissenschaftler haben am Beispiel der Stadt Dortmund den damaligen Infektionsverlauf in der Stadt skizziert. Zunächst war ausschließlich der als wohlhabend bekannte Süden des Stadtgebiets von Neuinfektionen betroffen, die ihren Ursprung in Ischgl hatten, da dort die Menschen leben, die sich einen hochpreisigen Skiurlaub mit zahlreichen Clubbesuchen leisten können. Durch verzögerte Eindemmungsmaßnahmen in dieser frühen Krisenphase, waren später auch die Innenstadt und der deutlich ärmere Norden der Stadt Dortmund betroffen. Wegen der sehr verdichteten Besiedlung im Norden Dortmunds und den teilweise prekären Wohnverhältnissen, kam es im Norden von Dortmund zu wesentlich mehr Infektionsfällen, als dies im Süden von Dortmund der Fall war, obwohl die Infektionen von dort aus ins Stadtgebiet eingeschleppt wurden.
Wie in einigen von unseren Interviews bereits erwähnt, sind Berufe mit Niedriglohnniveau, wie zum Beispiel Beschäftigungsverhältnisse in Logistikbetriebe, sehr viel häufiger von größeren Infektionsgeschehen betroffen, da es dort unter anderem keine Möglichkeit gibt, sich im Homeoffice zu schützen. Die sozialen Unterschiede in der Bundesrepublik sorgen dafür, dass die systemrelevanten Arbeiter-innen in Berufen mit Niedriglöhnen ihren Beitrag dazu leisten dürfen, den wohlhabenderen Bundesbürgern durch Amazon den Luxus im geschützten Heim zu ermöglichen. Eine wirkliche Lobby haben diese Menschen, im Gegensatz zu den wohlhabenderen Gruppen, jedoch nicht, weshalb sie zu den Opfern dieser Pandemie werden, die am ehesten einem Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind und am stärksten unter den sozialen Auswirkungen, zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit, betroffen sein werden. Kennen Sie das? „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Deshalb werden wir wohl noch oft den Hinweis geben müssen, dass Arbeitsschutz auch Katastrophenschutz ist und bereits geltende Gesetzgebung häufiger dazu beitragen muss, dass prekäre Wohnverhältnisse abgeschafft werden.
Ruhrbarone: Besten Dank, Herr Memmeler.
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Mal wieder ein sehr interessantes Interview.
"Zunächst war ausschließlich der als wohlhabend bekannte Süden des Stadtgebiets von Neuinfektionen betroffen, die ihren Ursprung in Ischgl hatten, da dort die Menschen leben, die sich einen hochpreisigen Skiurlaub mit zahlreichen Clubbesuchen leisten können."
Ich habe dort Ende Januar Urlaub gemacht. Möglicherweise war zu dem Zeitpunkt der/das Virus schon unterwegs, man hat zahlreiche Urlauber aus Italien angetroffen, wie auch vereinzelte Urlauber aus der Volksrepublik China. Neben den Après-Ski-Bars hätte man sich auch in den Gondeln (Fassungsvermögen der Pardatschgratbahn 28 Personen) rauf auf den Berg anstecken können. Da ein Urlaub in der Region Ischgl tatsächlich nicht sehr günstig ist, dürften tatsächlich eher Personen betroffen gewesen sein, die etwas mehr Geld haben (oder auf diesen Urlaub hin gezielt sparen).
In diesem Zusammenhang interessiert mich, wie Herr Memmeler zur Strategie des Bundeslandes Schleswig-Holstein steht, im Falle eines gehäuften Auftretens von Corona-Infektionen in einer Urlaubsregion im Land alle Urlauber sofort nach Hause zu schicken (anstelle alle dort anwesenden Personen erst mal unter Quarantäne zu stellen, zu testen und dann bei negativen Befund in die Heimatorte zurückfahren zu lassen), siehe dazu auch: https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/schleswig-holsteins-ministerpraesident-der-erste-test-auf-die-sommersaison-hat-funktioniert/25893458.html)?
Oder gibt es dazu mittlerweile eine Übereinkunft der Ministerpräsidenten, wie man in einem solchen Fall umgeht?
Zu Ischgl selber, ich denke, dass von Ischgl aus das/der Virus so effektiv in Europa verteilt werden konnte, liegt an zwei Dingen:
Der Art und Weise, wie dort mit erkrankten Saisonarbeitskräften umgegangen wurde (wer krank war, hatte zur Arbeit zu erscheinen). Einen sehr großer Unterschied im Umgang mit Saisonarbeitskräften wie bei Tönnies, Wiesenhof in Bogen/Bayern, Birkenfeld/Baden-Württemberg etc. wird es da nicht geben.
Und der Strategie, alle Ortsfremden innerhalb kürzester Zeit aus dem Land zu bekommen, egal wie und egal, ob diese erkrankt sind oder nicht, und unabhängig von dem Umstand, schon für einen Aufenthalt gebucht haben oder nicht. Hinzu kommt noch, auch da dürfte es Parallelen zu den Schlachthoffällen geben, die örtliche Verwaltung, einschließlich ärztliche Institutionen waren daran interessiert, mögliche Missstände so lange wie möglich unter der Decke zu halten.
Hallo Jürgen,
die Strategie aus S-H wird auch in Meck-Pom und zahlreichen anderen Regionen angewendet. Über das Für und Wider streiten sich die Experten.
Meine persönliche Meinung ist, dass die "Ausweisung" aus Urlaubsregionen auf jeden Fall in der Heimatregion zu einem Test führen sollte. Die drei Tage, bis zum hoffentlich negativen Befund, sollten die Leute schon daheim aushalten können.
Ich hoffe, die Antwort ist zunächst ausreichend.
Wenn nichts wirklich berichtenswertes in dieser Woche passiert, können wir versuchen, ob wir die Frage am Sonntag aufgreifen können.
M. Memmeler
Aktuell ist es eher erschreckend, dass die Behörden keine Strukturen schaffen, um wirksam mit den neuen Freiheiten umzugehen. Corona gibt es nun ca 6 Monate. Aktuell weiß man nicht, wie man mit Urlaubern aus Risikogebieten umgehen soll, man kann keine Arbeiter eines Schlachthofs nachverfolgen, man hat eine IT auf Steinzeitniveau, …
Die Aufstellung der GEsundheitsbehörden und des RKIs finde ich besorgniserregend. Ich kann mich noch in der Anfangsphase der Krise an Berichte erinnern, in denen unsere Behörden, die sich im Stillen genau auf solche Fälle vorbereitet haben, gelobt wurden. Insgesamt ist davon wenig zu merken.
Der eigene Urlaub, das Wochenende etc. haben immer noch Priorität. Es ist Krise, und wir haben Notsituationen. Es scheint schwierig zu sein, unsere Behörden in diese STrukturen zu bekommen. Das schaffen nur die Notfallbereiche, die es gewohnt sind.
Der Lockdown klappte, aber das schaffen wir auch immer in den Weihnachtsferien. Danach kam eigentlich nur noch sehr wenig. Immerhin sieht man die Kanzlerin jetzt auch mal mit Maske.
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