Corona und Katastrophenschutz: Kritische Infrastruktur im Omikron-Tsunami

Grafitti Corona Colonia Foto: K. Gercek

Am 15. März 2020 begannen die Ruhrbarone diese Interviewreihe. Mit dem ehemaligen Präsidenten des Deutschen Feuerwehrverbandes Hartmut Ziebs sprechen wir seit einigen Wochen.  Im 64. Interview geht es um die Kritische Infrastruktur, die Daseinsvorsorge, den Schulstart, Generalmajor Carsten Breuer und die Rollenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz.

Ruhrbarone: Die Zeitungen titeln „Omikron-Tsunami“ und befürchten die Gefährdung der kritischen Infrastruktur. Was versteht man eigentlich unter Kritischer Infrastruktur? Und wie schätzen Sie denn die Gefährdung tatsächlich ein?

Ziebs: Was ich bestätigen kann ist, dass die Schlagzeilen nicht zur Beruhigung beitragen, aber auch dafür Sorge tragen, dass die Bereitschaft zur Boosterimpfung weiterhin groß ist. Das beurteile ich positiv.

Formell gehören zu den Kritischen Infrastrukturen alle Einrichtungen, die zur Daseinsvorsorge erforderlich sind. Klassisch sind das alle Einrichtungen des Gesundheitsschutzes, inklusive Rettungsdienst und Feuerwehr, Polizei, alle Einrichtungen zur Energie- und Wasserversorgung, Telekommunikation, Lebensmittelversorgung, Müllabfuhr und natürlich alle diese Strukturen regelnden Behördenstrukturen.

Leider sind stationäre Pflegeeinrichtungen nicht erfasst, da diese, wenn sie erfasst wären, auch eigene Vorsorgemaßnahmen, wie zum Beispiel eine externe Stromeinspeisung oder Notstromaggregate vorhalten müssten. In manchen Bundesländern ist dies zwar Bestandteil der Verordnungen für Neubauten, wodurch der Bestand aber ausgespart bleibt, weil für den der Bestandsschutz gilt. Gleiches gilt für Pflege- und Beatmungswohngemeinschaften.

Dieser Umstand wird seit geraumer Zeit durch den Bevölkerungsschutz, speziell durch die Feuerwehren bemängelt, da jeder Blindgängerfund zeigt, welch enormer Aufwand zur Evakuierung von Pflegeeinrichtungen betrieben werden muss.

Zusätzlich ist in den Rettungsdienstleitstellen nicht hinterlegt, wie viele beatmete Menschen zu versorgen sind, wenn ein langanhaltender Stromausfall die Betreuung von heimbeatmeten Menschen erforderlich macht, da die Akkus dieser Geräte nicht für einen Dauerbetrieb ausgelegt sind. Würden die genannten Einrichtungen formell zu den kritischen Infrastrukturen zählen, müssten hier regelhaft Notfallpläne bestehen, die dann auch regelmäßig zu überprüfen wären. Außerdem wären die Einrichtungen gehalten, eine Versorgung durch Notstrom in der Einrichtung zu ermöglichen, statt eine Evakuierung erforderlich zu machen, weil es regional zu einem anhaltenden Stromausfall gekommen ist.


(c) Hartmut Ziebs

Hartmut Ziebs, 62 Jahre, Dipl.-Ing. Bauingenieurwesen Seit 1977 Feuerwehr Schwelm, Leiter der Feuerwehr Schwelm a.D., Bezirksbrandmeister der Bezirksregierung Arnsberg a.D.
Von 2003 bis 2015 Vizepräsident Deutscher Feuerwehrverband. Vom 1.1.2016 bis 31.12.2019 Präsident Deutscher Feuerwehrverband Von 2019 bis 2020 Vizepräsident CTIF (internationaler Feuerwehrverband)


In so einem Fall werden zeitgleich zahlreiche Kräfte an vielen Stellen benötigt, um die Daseinsvorsorge sicherzustellen.

Ich denke, dass die aktuelle Gefährdung im Beitrag „Gefährdet Omikron die Infrastruktur?“ der Süddeutschen Zeitung vom 03.Januar ganz gut beschrieben wurde. Die Situation in New York, England und Teilen von Europa zeigen recht deutlich, was auf uns zukommen könnte. Deshalb ist es gut, dass in allen Bereichen, die zu den kritischen Infrastrukturen gezählt werden, entsprechende Notfallplanungen laufen und die Pandemiepläne in den Einrichtungen erneut überprüft werden.

Noch haben wir die Zeit, uns möglichst umfänglich auf Gefährdungssituationen vorzubereiten. Hierzu zählt im Übrigen auch die reduzierte Quarantänezeit, um Personalausfälle zu verkürzen. Bis dahin sind wir allerdings gut beraten, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Infektionszahlen so niedrig zu halten, wie es eben geht. Daher heißt es in erster Linie Impfen, Impfen, Impfen.

Schulstart wesentlich sicherer gestalten

Erfreulich wäre es gewesen, wenn der Schulstart endlich wesentlich sicher gestaltet worden wäre, da die Impfquote bei Kindern und Jugendlichen noch sehr gering ist und zum Beispiel Luftfilteranlagen noch immer eher eine Seltenheit sind. Zahlreiche Infektionen werden leider innerhalb von Familien übertragen, was selbstverständlich auch Mitarbeitende in kritischen Infrastrukturen treffen könnte. In einer Pandemie sollten deshalb alle Maßnahmen ergriffen werden, um den Schulen und den Schulbesuch so sicher wie möglich zu gestalten.

Durch den indirekten Einfluss auf die Produktivität der Eltern, könnte man Schulen im weiteren Sinne auch zu den kritischen Infrastrukturen zählen. Aber das Thema haben Sie in den letzten 2 Jahren ja ausführlich mit Magnus Memmeler behandelt. Aus diesem Grund hat ein Energieversorger in Wien Teile der Belegschaft direkt für einige Wochen im Unternehmen isoliert , um möglichst jeden Kontakt zu vermeiden.

Um Ihre Frage abschließend zu beantworten, muss ich sagen, dass ich erhebliche Mehrbelastungen durch Personalausfälle befürchte, den Zusammenbruch der kritischen Infrastruktur in der Fläche jedoch ausschließen würde, da wir den Vorteil haben, aus den Erfahrungen der letzten zwei Jahre lernen zu können. Das BBK informiert hier sehr gut zum Thema Kritische Infrastrukturen in Pandemielagen. Dieser Hinweis für alle, die sich noch etwas intensiver mit dem Thema befassen wollen.

Ruhrbarone: Hilft die Einrichtung des Expertenrates dabei, die politischen Entscheidungen so zu beeinflussen, dass wir ausreichend gut oder zumindest besser aufgestellt sind, als dies in 2020 und großen Teilen von 2021 der Fall war?

Ziebs: Ich glaube, es ist gut, dass diese Expertengruppe endlich offiziell als solche benannt und der Bevölkerung bekanntgegeben wurde. Hierdurch entsteht zumindest ein gewisser öffentlicher Handlungsdruck auf Empfehlungen reagieren zu müssen, da sonst jeder mit Recht fragen würde, warum Politik dem Rat nicht folgt. Zumindest hat die vor Weihnachten ausgesprochene Empfehlung dazu geführt, dass die Gesundheitsminister der Länder und die Länderchefs schon in dieser Woche wieder zusammengekommen sind, um die Lage neu zu bewerten. Außerdem wird die lange ausgeschlossene Impfpflicht nun offen als Option diskutiert und die Umsetzung in Erwägung gezogen.

Föderalismus komplett versagt?

In diesem Zusammenhang wird leider viel zu sehr die Frage diskutiert, welche rechtlichen Restriktionen dann eine fehlende Impfung hätte. Als Feuerwehrmann fällt mir hier sofort die Rauchmelderpflicht ein. Auch hier gibt es keine einheitlichen Regeln, was passiert, wenn man keinen Heimrauchmelder hat. Warum müssen wir erst immer die Frage klären, welche strafbewährten Schritte notwendig sind, um eine Pflicht auch juristisch durchsetzen zu können?

Leider war es aber auch nach zwei Jahren Pandemie erneut nicht möglich, vollständige Zahlen über die Feiertage zu ermitteln, um die Dynamik der Lage wirklich erfassen zu können. Hier ist die Bundesrepublik noch weit weg von Ländern die, wie zum Beispiel Frankreich, alle Daten direkt zentral online erfassen und so quasi in Echtzeit alle registrierten Infektionen vorliegen haben. An dieser Stelle hat der Föderalismus komplett versagt.

Die Berufung von Generalmajor Carsten Breuer zum Leiter des Krisenstabs im Kanzleramt war ebenfalls ein Zeichen, dass die Pandemie nun ernster genommen wird.

Die Kombination aus bestehendem Expertenrat und der neuen Situation, dass die epidemischen Lage von nationaler Tragweite offiziell nicht mehr besteht, hat zu einer deutlich veränderten Situation geführt, da die Bundesländer nun wesentlich intensiver in der Pflicht stehen, auch auf lokale Entwicklungen reagieren zu müssen. Der Expertenrat zeigt Risiken auf, der Bund und die Bundesländer legen Beschlüsse fest und die Länder können und müssen Regelungen im Landesrecht umsetzen, die zur Pandemiebekämpfung geeignet sind.

Das Beispiel Schleswig-Holstein zeigt, dass dieses Signal noch nicht überall wirklich angekommen ist. Die massiv in Clubs und Diskotheken übertragenen Infektionen haben aber nun wohl auch dem Bundesland gezeigt, dass der Expertenrat nicht unnötig eingerichtet wurde. Der Wegfall der alten Rechtssituation lässt nun viel häufiger zu, dass die Bundesregierung die Länder dazu ermutigt, einfach mal tätig zu werden, statt ständig auf Berlin zu verweisen. Wenn man ein offenes Ohr für Stimmung der Bürger hat, wird auch deutlich, dass sich viele Menschen mehr einheitliche Vorgaben wünschen. Man hat schlicht die Nase voll von regional unterschiedlichen Regelungen der Maskenpflicht oder den Zugangsregelungen.

Rollenverteilung im Bevölkerungsschutz neu denken

Sicherlich ist noch Luft nach oben aber offensichtlich ist in der Politik angekommen, dass ein ständiger Kurswechsel und das Ignorieren von Expertenratschlägen nicht gut ankommt.
Ignoranz gegenüber Expertenratschlägen kann also auch zu politischer Disqualifizierung führen. Außerdem sorgen zahlreiche Blogger und Foren dafür, dass Politik Bevölkerungsschutz und dazu zählt auch die Pandemiebewältigung ernster nimmt. Nicht umsonst wird so intensiv wie nie die Rollenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bevölkerungsschutz neu gedacht.

Ruhrbarone: Was bewegt sich aktuell und wohin geht die Reise beim neuen Rollenverständnis von Bund und Ländern?

Ziebs: Bereits im Dezember titelte die Zeit „Bundesländer planen zentrale Koordinierung beim Katastrophenschutz“. Genau dieser Titel beschreibt sehr genau, was aktuell passiert. Bislang haben die Bundesländer stets den Föderalismus als Rückgrat des Katastrophenschutzes beschrieben und auf die Länderverantwortung gepocht, während der Bund zum Beispiel die Strukturen des BBK besser in die Krisenbewältigung einbringen wollte. Nun geht erstmalig ein Impuls von den Landeinnenministern aus, ein neues Rollenverständnis, unter Einbeziehung des Bundes, etablieren zu wollen.

„Wir sind uns einig, dass in Zukunft das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenschutz in Bonn diese koordinierende Funktion übernehmen soll“, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) der Nachrichtenagentur dpa und sprach hier für alle Bundesländer.

„Nach den Erfahrungen des Jahres 2021 mit schlimmen Naturkatastrophen haben alle Länder das gemeinsame Interesse, den Katastrophenschutz in Deutschland noch besser aufzustellen“, sagte Herrmann.

„Wir brauchen keinen neuen Oberbefehlshaber im Katastrophenschutz, aber wir brauchen eine bessere Koordinierung. Da brechen wir uns keinen Zahn aus der föderalistischen Krone.“

Diese Aussage beschreibt, was hier schon seit Jahren gefordert wurde. In der gesamten Pandemiezeit und auch während des Starkregenereignisses im vergangenen Sommer fehlte es an einer koordinierenden Stelle oder wenn man so will an einem kompetenten Dienstleister auf den die Länder in länderübergreifenden Lagen zurückgreifen können.

Endlich wird begriffen, dass die bisherige Aufgabentrennung nicht mehr zeitgemäß ist. Die Bewältigung akuter Katastrophenlagen liegt in der Verantwortung der Länder und Kommunen. Der Bund hat die Aufgabe, den Schutz der Bevölkerung im Verteidigungsfall zu gewährleisten.

Cellbroadcast durch den Bund

Alle Experten des Bevölkerungsschutzes halten diese Aufteilung bereits seit geraumer Zeit für nicht mehr zeitgemäß und zielführend. Die bisherige Pandemiebewältigung und die Auswertungen der jüngsten Unwetterkatastrophe im Westen Deutschlands bestätigen alle Experten in dieser Auffassung. Die Notwendigkeit, neue Rollendefinitionen vornehmen zu müssen zeigt sich zum Beispiel auch beim Thema der Warnung der Bevölkerung.

Cellbroadcast, simpel ausgedrückt die Warnung via SMS, muss durch den Bund ermöglicht werden, während die Warnung über Sirenen durch Länder und Kommunen sichergestellt werden muss. Dieses sehr vereinfacht dargestellte Beispiel zeigt bereits, dass es zu viele Schnittpunkte gibt, um am alten Rollenverständnis festzuhalten, welches insbesondere durch die Länder wie der heilige Schrein vor sich her getragen wurde.

Diese neue und erfreulich lösungsorientierte Diskussionsbereitschaft, die von den Landesinnenministern ausgeht, die Aufarbeitung diverser Expertenkommissionen zu den Unwetterereignissen im vergangen Sommer und das völlig neue Verständnis von Politikern für die Relevanz des Bevölkerungsschutzes machen aktuell tatsächlich zuversichtlich, dass eine seit Jahrzehnten bestehende Blut-Hirnschranke aufgebrochen werden könnte. Dazu würde dann auch zählen, dass Bund und Länder die verbindliche Einberufung von Verwaltungsstäben in Schadenslagen vorschreiben und Schwellenwerte zur Einberufung von Krisenstäben benannt werden.

Eventuell erleben wir sogar, dass nach den Erfahrungen mit dem aktuellen Expertenrat im Bundeskanzleramt, eine Expertenkommission Bevölkerungsschutz berufen wird, die bei zukünftigen Schadenslagen und den erforderlichen Debatten zur Stärkung des Bevölkerungsschutzes zwingend anzuhören ist. Ebenfalls sollten sich die demokratischen Parteien in Bund und Ländern überlegen, ob es nicht hilfreich wäre, eine entsprechende Funktion in den Fraktionsbüros zu etablieren, damit Politik ministerielles Handeln besser begleiten kann und die am Bevölkerungsschutz beteiligten Organisationen einen kompetenten Ansprechpartner in der Politik erhalten, der Expertenrat so aufbereiten kann, dass dieser in der Gesetzgebung Berücksichtigung findet.

Inzwischen erscheint dieser Wunsch nicht mehr allein als Vision, wenn Medien und Öffentlichkeit die Relevanz des Bevölkerungsschutzes weiterhin als aktuelles Thema aufrechterhalten und an die politischen Akteure heran tragen.

Ruhrbarone: Herzlichen Dank für diese interessante Vorschau auf das noch junge Jahr.

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Angelika, die usw.
Angelika, die usw.
2 Jahre zuvor

Zypern berichtet über neue Corona-Variante „Deltacron“, so RND

Berthold Grabe
Berthold Grabe
2 Jahre zuvor

Luftfilteranlagen wurden durch die Schulbehörden entgültig abschlägig beschieden, weil sie zu teuer seien, gleichwohl sind eben jene zu teuren Filteranlagen in so manchen Behörden dagegen bereits installiert.

Manni
Manni
2 Jahre zuvor

@#2:"Luftfilteranlagen wurden durch die Schulbehörden entgültig abschlägig beschieden"
Die Entscheidung war nicht einheitlich. Einige Schulbehörden haben auch einfach die Antragstellung fallengelassen. Andere warten noch auf die Empfehlung, welche Art der Luftfilterung installiert werden soll.
Etc PP.

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