Ruhrbarone: In dieser Woche haben sich die Meldungen zur 2. Welle überschlagen, die uns erreicht hat oder erreichen wird oder eben auch nicht. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Magnus Memmeler: 1.122 Neuinfektionen wurden am Samstagmorgen von tagesschau online gemeldet. Somit lagen die Neuinfektionen bei permanent leicht ansteigender Tendenz einige Tage nacheinander über 1.000 Neuinfektionen pro Tag. Seit Mai musste das RKI keine so hohen Zahlen an Neuinfektionen verkünden. Angesichts dieser Zahlen sehen sich die einen bemüht, diesen Anstieg zu relativieren, indem auf steigende Testzahlen hingewiesen wird, die natürlich zu mehr identifizierten Infektionen führen.
Andere werten diese Zahlen als Zeichen dafür, dass uns die 2. Welle bereits erreicht hat. Ich tendiere eher dazu, der Aussage der Virologin Prof. Ulrike Potzer von der TU München zu vertrauen, die sagt, dass diese Zahlen noch kein Beleg für eine zweite Welle sind, jedoch belegen, wozu zu voreilige Lockerungen und missverstandene Normalisierung führen können und deshalb an uns alle appelliert, die doch recht simplen Regelungen einzuhalten, die uns bisher recht gut geschützt haben: Abstand – Hygiene – Alltagsmasken.
Eine Pressemeldung der Berliner Verkehrsbetriebe, die schon einige Wochen alt ist, zeigt sehr deutlich, wie wichtig der Hinweis von Frau Prof. Potzer und allen anderen Spezialisten ist. Die BVG musste vermelden, dass es innerhalb von nur einer Kalenderwoche 30.000 registrierte Verstöße gegen die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr gab. Alle Virologen räumen ein, dass ein Teil der identifizierten Neuinfektionen auf vermehrte Testungen zurückzuführen ist. Sie betonen aber zeitgleich, dass der größte Teil der Neuinfektionen auf z.B. Familienfeiern, verändertes Freizeitverhalten und Ignoranz von Schutzmaßnahmen zurückzuführen sind, die zu zahlreichen Infektionsherden in der Bundesrepublik geführt hätten. Das sei aber immer schwieriger nachzuverfolgen.
Unkalkulierbares Risiko: private Feiern
Die von der BVG gemeldeten Zahlen sind Beleg dafür, dass die Experten zu Recht immer wieder auf die A-H-A Regel hinweisen. Private Feierlichkeiten beschreiben sie zu Recht als unkalkulierbares Risiko. Zu diesen verhaltensbedingten Neuinfektionen kommen nun zahlreiche Neuinfektionen bei Reiserückkehrern, insbesondere bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten.#
Beim Thema Reiserückkehrer zeigt sich derzeit, wie schlecht organisiert und unabgestimmt unser Gesundheitswesen agiert und wie sehr Politiker, wie Jens Spahn, immer noch glauben, dass sie den alten Lippenbekenntnissen der Lobbyvertreter von Kassenärztlicher Vereinigung, Ärztebund und Gesetzlichen Krankenversicherungen trauen können. Ausbaden werden es später erneut Rettungsdienst, Kliniken und der Bevölkerungsschutz, die leider, wie bereits berichtet, zu wenig Gehör finden.
Ruhrbarone: Woran machen Sie das Systemversagen und die Fehler der Politik genau fest? Die Tests für Reiserückkehrer aus Risikogebieten sind doch seit diesem Samstag verbindlich geregelt.
Memmeler: Das die Regelung erst seit diesem Samstag verbindlich ist, zeigt doch, dass irgendwer in Berlin die Ferienkalender der Bundesländer vor den Vertretern des Bundesgesundheitsministeriums versteckt haben muss. In Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein hat die Schule wieder begonnen. In NRW befinden wir uns im letzten Ferienwochenende und in Hessen und Rheinland-Pfalz beginnt die letzte Ferienwoche. In all diesen Bundesländern greift die erst jetzt verbindliche Regelung bereits nicht mehr und niemand weiß, wie viele Infektionen in diesen Bundesländern ursächlich auf Reiserückkehrer zurückzuführen sind.
Flughafen Dortmund: 45 von 1000 Urlaubsrückkehrern infiziert
Neben Bayern führt NRW derzeit die Liste der bekannten Neuinfektionen pro Kalenderwoche deutlich an. Die bis Samstag noch freiwilligen Tests für Reiserückkehrer aus Risikogebieten ergaben an den Flughäfen Köln-Bonn und Düsseldorf durchschnittlich 2-3% identifizierter Neuinfektionen bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten. Am Flughafen Dortmund lag die Zahl bei 4,5%, was Beobachter darauf zurückzuführen, dass von dort zahlreiche Ziele in Ost- und Südosteuropa angeflogen werden. An den Großflughäfen im Rheinland wurden also fünf Wochen lang vermutlich 25 Infektionspatienten pro 1.000 Fluggäste nicht identifiziert. In Dortmund entsprechend 45 pro 1.000 Fluggäste.
Bei dieser recht defensiven Rechnung, weil wir nur Werte für bisher noch freiwillige Testungen als Grundlage heranziehen können, müssen wir von bereits 350 nicht identifizierten Neuinfektionen an allein diesen 3 Flughäfen ausgehen, wenn wir unterstellen, dass pro Woche lediglich 1.000 Reiserückkehrer aus Risikogebieten an diesen Flughäfen eingetroffen sind. Gleiches gilt natürlich auch für die Flughäfen in Berlin, Frankfurt…
Die Chance potentielle Infektionsketten zu unterbrechen, wurde hier bereits sträflich versäumt. Zusätzlich sind einige Regionen der Türkei plötzlich keine Risikogebiete mehr, obwohl die Türkei völlig intransparent mit der Infektionsentwicklung verfährt und bekannt ist, dass die nun für Urlauber eingeführten Tests in der Türkei über eine 60% Fehlerquote verfügen. Über die Gründe für dieses Zugeständnis an die Türkei müssen andere befinden.
Die letzte Kalenderwoche hat bereits gezeigt, dass die Umsetzung der nun geltenden Testverpflichtung in großen Teilen lediglich ein frommer Wunsch bleiben wird, da die Tests nicht zwingend am Flughafen stattfinden müssen, sondern die Reiserückkehrer sich auch innerhalb von 3 Tagen beim Hausarzt testen lassen können, so dieser denn dazu bereit ist. Nach der Berichterstattung diverser Radiosender war es selbst für willige Reiserückkehrer teilweise unmöglich, sich testen zu lassen, da zahlreiche Hausärzte die Durchführung der Tests ablehnten. Einige Ärzte verwiesen zu Recht darauf – wie wir auch schon anlässlich des Rückbaus der Testzentren der KV berichtet haben – dass in ihren Praxen kein Normalbetrieb möglich sei, wenn potentiell infizierte Reiserückkehrer in ihren Praxen getestet werden sollen.
Ulrich Weigelt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes, kritisierte diese Regelung stellvertretend für alle von ihm vertretenen Ärzte, indem er zu Protokoll gab:
„Wir sind Ärzte, die dafür da sind, Menschen zu behandeln und nicht die Außenstelle des Bundesgesundheitsministeriums.
Bums! Kassenärztliche Vereinigung und Jens Spahn haben sich also erneut etwas ausgedacht, was völlig an der Lebensrealität vorbei geht oder halt nicht zu Ende gedacht wurde. In einigen Städten versuchen die Gesundheitsämter dies zu heilen, indem sie Listen von Ärzten veröffentlichen, die die verpflichtenden Tests für Reiserückkehrer anbieten. Dies geschieht jedoch nicht allein als Service für den Bürger, sondern auch zum Schutz der eigenen Gesundheitsämter, die bereits signalisiert haben, dass sie diese zusätzliche Aufgabe nicht umfänglich stemmen können, wenn die KV sich erneut nicht an Zusagen gebunden fühlt.
Wir erinnern uns noch gut daran, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen vor einigen Wochen bundesweit ihre Testzentren zurückgebaut haben, da die Zahl der erforderlichen Tests zurückgegangen sei. Grundlage hierfür war die Feststellung von Bundesgesundheitsminister Spahn, unterstützt durch einige Virologen, dass großangelegte Tests ohne gegebenen Anlassbezug nicht zielführend seien. Aktuell gibt Herr Spahn folgendes zu Protokoll:
„Jede bisher unentdeckte Infektion, die wir über einen Test finden, macht einen Unterschied. Wer weiß, dass er infiziert ist, kann sich isolieren und steckt niemanden an.“
Wie Recht der Bundesminister mit dieser Aussage hat! Leider kommt diese Erkenntnis zu spät, denn die ehemals eingerichteten Testzentren sind weg, weil er die Einschätzung der KV geteilt und Verständnis für die Gesetzlichen Krankenkassen gezeigt hat, die auf die steigenden finanziellen Belastungen durch die Pandemie verwiesen.
Diese überraschende Einsicht des Bundesministers basiert auf der nur von Eltern, Erzieherinnen* und Lehrerinnen* vorauszusehenden und deshalb so plötzlich eintretenden Entwicklung, dass ein Ferienende mit Reiserückkehrern einhergeht, Kindertagesstätten in das neue Kita-Jahr starten und der Schulbetrieb auch wieder beginnt und somit Regelungen zur Minimierung des vorhandenen Infektionsrisikos getroffen werden müssen. Für Beschäftigte an Schulen und Kindertagesstätten in NRW und zahlreichen anderen Bundesländern, besteht ab sofort die Möglichkeit, sich alle 14 Tage freiwillig und kostenlos testen zu lassen. Die Frage lautet aber auch für diese Gruppe, wo sind diese Tests denn überhaupt möglich?
Unsere Gesundheitsämter sind derzeit damit ausgelastet, die zahlreichen Infektionsketten zu identifizieren, die sich aus Leichtsinn und mangelnder Weitsicht ergeben haben. Das führt dazu, dass nun panisch Personal für ad hoc aus dem Boden zu stampfende Testzentren gesucht wird. Bis dieses Personal bereit steht, muss spontan Personal aus dem Rettungsdienst und dem Bevölkerungsschutz herhalten, um dieses Defizit auszugleichen, was erneut auf Zuruf abverlangt wird. Bereits vor einiger Zeit haben wir uns hier gefragt, wie lange das noch gut gehen soll.
Eine aktuelle Risikoeinschätzung der Gesellschaft für Virologie vom 07.08.2020 warnt vor der Annahme, dass Kinder keine Rolle in der Pandemie und in der Übertragung spielen. Die Schul- und Kitaöffnung sei unabdingbar für das Wohlergehen der Kinder, müsse aber durch Begleitmaßnahmen flankiert werden, die eine Früherkennung von Neuinfektionen im privaten Umfeld von Schülern und Lehrkräften ermöglichen.
Da bauliche Verbesserungen zum ausreichenden Luftaustausch in Klassenräumen bereits versäumt wurden, sind laut Gesellschaft für Virologie, neben den geforderten Tests, Maßnahmen erforderlich, die eine Durchmischung von Gruppen im Schulalltag vermeiden helfen, Abstände in Klassenräumen ermöglicht werden, indem ein Mix aus Präsenz und Onlineunterricht die Klassenstärke reduziert und die Maskenpflicht, auch im Unterricht, verbindlich geregelt wird. Auch das sind keine revolutionär neuen Erkenntnisse. Aber auch vor dieser absehbaren Herausforderung haben die zuständigen Landesminister-innen und Bundesminister-innen lange Zeit die Augen verschlossen.
Angesichts dieser wenigen und auch nur grob angerissenen Abstimmungsprobleme fragen sich derzeit zunehmend viele Vertreter von Klinikgesellschaften, Rettungsdienstträgern, Kommunalverbünden und der Bundesländer, wie die anstehende Novellierung der Notfallversorgung gerade maßgeblich von den Vertretern von KV, GKV und Bundesgesundheitsministerium gestaltet und zukünftig geführt werden soll, die momentan beweisen, dass ihnen Kalender unbekannt sind und Handeln stets eigenen Interessen geschuldet ist, jedoch keinerlei absehbare Perspektive berücksichtigt. Hier hoffen alle Beteiligten auf den ausreichenden Widerspruch aus den Ländern, um noch das Schlimmste abzuwenden.
Notfallsanitäter unter Vollschutz bei über 30 Grad
Eine Vorschau über die sich andeutenden Probleme bei der Neugestaltung der Notfallversorgung ist der aktuelle Gesetzentwurf zur Regelung von Notfallmaßnahmen, die von Notfallsanitätern ausgeführt werden dürfen. Notfallsanitäter dürfen nach diesem Entwurf nur in Ausnahmefällen heilkundliche Tätigkeiten übernehmen. Die Aussage, Änderungen im Notfallsanitätergesetz müssen dem Schutz der Patienten dienen, suggeriert den Eindruck, dass die Notfallsanitäter in den letzten sechs Jahren deren anvertraute Patienten geschädigt hätten. Diese Aussage des Ministeriums wird natürlich als Ohrfeige begriffen, wenn man genau diesen Notfallsanitätern derzeit täglich Hochleistung unter Vollschutz bei über 30 Grad abverlangt und sie auch noch als geeignetes Spezialpersonal für Teststellen beschreibt, die selbstredend bereitwillig zur Verfügung stehen müssen.
Getoppt wird das Ganze dann noch durch den Hinweis, dass die rettungsdienstliche Verpflichtung zur Lebensrettung bestehen bleibt, heilkundliche Eingriffe somit erforderlich werden könnten, deren Rechtfertigung aber im Nachgang juristisch betrachtet werden müsse, weshalb Arbeitgeber im Rettungsdienst und/oder die Mitarbeitenden selbstredend eine Rechtschutz- und Haftpflichtversicherung abschließen sollten, um persönliche Risiken zu minimieren, die durch eine erneute Nichtregelung entstanden sind.
„Covidioten“ in Dortmund
Angesichts all dessen dürften Klinik- und Rettungsdienstbeschäftigte, Eltern und Mitarbeitende an Schulen und in Kitas den Kopf schütteln, wenn über Demonstrationen von „Covidioten“ berichtet wird, die alle Schutzmaßnahmen ablehnen und die Bedrohung durch die Pandemie leugnen. Ähnlich wie die Loveparade hat es auch diese Gruppe von Freunden der grobfahrlässigen Körperverletzung und Rechtsaußen nun von Berlin in das Ruhrgebiet verschlagen. Hoffentlich führt menschliche Unvernunft nicht zu einer erneuten Katastrophe. In Dortmund wurde zumindest durch den Polizeipräsidenten verkündet, Rechtsverstöße konsequenter zu ahnden, als dies in Berlin der Fall gewesen ist. Hier können wir die nachträgliche Bewertung der eingeleiteten Maßnahmen leider nur abwarten und allen die Daumen drücken, dass diese Aluhutträger nicht Ursprung für allzu viele neue Infektionsketten werden.
Ruhrbarone: Der anstehende Schulstart wird also noch viel Zündstoff bieten, die Neugestaltung der Notfallversorgung wirkt weiterhin verbesserungswürdig und die laut Forsa von 91% der Bevölkerung abgelehnten und kritisierten Demos von Coronaleugnern werden wohl erneut zu zahlreichen Reaktionen im Netz führen. Es scheint, als würden wir uns in der kommenden Woche erneut austauschen.
Memmeler: Davon gehe ich auch aus, auch wenn wir in den letzten Wochen bereits zahlreiche Themen, leider auch wiederholt, betrachtet haben. Anders als die in diesem Interview angesprochenen, sollten wir den Blick nach vorne richten, die Neugestaltung der Notfallversorgung und den dabei bestehenden Korrekturbedarf betrachten und durch unseren stetigen Hinweis, die Schutzmaßnahmen doch bitte zu beachten, einen Beitrag dazu leisten, dass auch noch all die ihren Urlaub genießen können, die erst nach den Ferien verreisen können.
Ruhrbarone: Herzlichen Dank, halten Sie Abstand und bleiben Sie gesund.
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