Da „Zahlen“ und „Berechnungen“ in der laufenden Covid-19 Diskussion eine große Rolle spielen, versuche ich eine allgemeinverständliche Erklärung zur Unterstützung für jeden, der überhaupt noch jenseits der bereits gefassten Meinung erreichbar ist. Von unserem Gastautor Dirk Specht
Es handelt sich bei Epidemien zwar um einen biologischen Prozess, für den Erkenntnisse zu Immunitäten, Inkubationszeit, Dauer von Infektiösität, Infektionswegen etc. eine zentrale Rolle spielen. Da Sars-Cov-2 grundsätzlich auf zumindest keine relevante Immunität trifft, ohne eigene Symptome bereits ab dem zweiten Tag der eigenen Infektion übertragbar ist und leider auch über die schwer kontrollierbaren Aerosole läuft, ist diese Epidemie so unglaublich schnell. Man kann solche Eckdaten zwar in Berechnungen und Modelle integrieren, der alles überragende Faktor für die tatsächliche Ausbreitung sind aber Kontakte zwischen Menschen – und das ist eben kein rein biologischer/naturwissenschaftlicher Prozess mehr. Daher gilt: Maßgeblich ist das Verhalten einer Gesellschaft inklusive der politischen Führung und das lässt sich natürlich nicht „berechnen“, über Monate schon gar nicht.
Das ist auch der Grund, weshalb die Modelle des Imperial College of London und andere aus dem Frühjahr mit siebenstelligen Opferzahlen vermeintlich „gescheitert“ sind. Grundlage aller Modelle sind im Wesentlichen das epidemiologische Basismodell von exponentiellem Wachstum der Infektionen und zugleich von Immunität, also zwei exponentielle Prozesse, die gegenläufig sind. Das nennt man mathematisch eine „logistische“ Funktion und es gibt nicht wenige, die gerne korrigieren, das sei nicht exponentiell. Nun, das logistische Modell ist in allen Phasen sehr wohl exponentiell und wir sind momentan in einer ungebremsten Wachstumsphase, in der die Immunität noch nicht greift. Daher können wir derzeit von einer ungebremsten exponentiellen Wachstumsphase sprechen, wobei wir in der Tat nicht wissen, wie lange die läuft und wann das Wachstum bricht. Unter allen einigermaßen noch erreichbaren, die also nicht von falschen PCR-Tests reden und andererseits keine Erklärung für die weltweiten Trauerbilder haben oder die mit anderen Fantastereien die Existenz der Epidemie komplett leugnen, ist das sogar soweit Konsens.
Es gibt aber nicht wenige durchaus vernünftige Menschen, die aus welchen Gründen auch immer davon ausgehen, diese Wachstumsphase, in der wir aktuell sind, werde von selbst kippen, bevor größere Katastrophen eintreten. Oft wird dabei die Opferzahl der ersten Welle in Deutschland herangezogen, was aber aus vielen Gründen verkürzt und falsch ist: Erstens haben wir hier auch in Deutschland den Wachstumstrend alle zwei Tage gesehen und wir haben dann schließlich mittels eines Lockdowns sehr klar ein Kippen des Trends gesehen auf ein exponentielles Absinken, dessen Stabilität erst über den Lockdown möglich wurde. Oft wird der Lockdown verschwiegen, aber es gibt auch unzählige Charts, in denen mit den Zahlen des RKI alle möglichen Schiebereien unternommen werden, um angeblich zu zeigen, dass der Knick auch so gekommen wäre oder bereits davor lag. Das ist dann in der Tat unwissenschaftliche Schwurbelei – so kann man mit Zahlen nicht operieren, mit denen schon gar nicht und das ist die simpelste Form, um eine Korrelation in einer Statistik künstlich zu erzeugen, die dann angeblich eine Kausalität sein soll. Keine Diskussionsgrundlage!
Zudem muss man natürlich nicht auf die nationalen Zahlen alleine schauen, denn der Lockdown wurde auch aufgrund der internationalen Entwicklung und bei uns aufgrund einiger lokaler Hotspots verhängt, die zeigten, dass es hier natürlich genauso laufen wird, wie bei unseren Nachbarn. Aus zahlreichen Feldstudien wissen wir nun, dass in der anfänglichen Wachstumsphase nicht nur Verdopplungsraten alle zwei Tage möglich sind, sondern bis zu 40% einer Population erreicht werden können. Eine Tatsache, die Wodarg und Bhakdi niemals kommentieren, wenn sie von ihren angeblich 85% Immunität sprechen, mit denen übrigens diese Verdopplungsraten bereits nicht möglich wären, denn bei nur 15% Gefährdeten ist das in der Tat dann doch auch rechnerisch zu widerlegen. Es mag durchaus eine „Hintergrundimmunität“ geben, aber die ist leider erkennbar aufgrund der Durchseuchungsraten und der Ausbreitungsgeschwindigkeit wenn überhaupt existent kein relevanter Faktor. Jeder sollte daher auch für seine persönliche Risikoeinschätzung erkennen, dass er sich mit Sars-Cov-2 infizieren kann und dass das in jedem Alter ein Risiko birgt – auch bei bestem Immunsystem.
Selbstverständlich gibt es aber irgendwelche Grenzen der Ausbreitung, die schwer greifbar sind. Niemals habe ich hier von „unendlichem exponentiellen Wachstum“ gesprochen und wer das behauptet, begeht in der Tat simple Panikmache. Ich muss aber sagen, dass ich selbst so etwas nirgendwo gelesen habe – Vorwürfe der Panikmache sammle ich selbst hier reichlich, aber wirkliche Panikmache ist mir bisher verborgen geblieben. Diese 40% aus Bergamo, Stadtteilen Madrids oder in Brasilien mögen auf dem Level einsetzender Immunschutz sein, der eine Verlangsamung der Ausbreitung auf „natürliche“ Weise bringt. Es kommen vermutlich aber Endlichkeiten sozialer Kontaktstrukturen, Siedlungsdichte, insbesondere die wachsende Vorsicht der Bevölkerung sowie schließlich staatliche Maßnahmen hinzu, denn all das hat es halt in den genannten Hotspots auch gegeben.
Das lässt sich nicht mehr modellieren und das war auch nicht die Intention des ICL. Die wollten nur ein Szenario rechnen, nämlich die Idee der Herdenimmunität von Boris Johnson sowie die Annahme, dass diese von der Bevölkerung getragen wird. Unter den Annahmen wären siebenstellige Opferzahlen richtig. Das wird heute gerne belächelt und als Beispiel für die Untauglichkeit von „Berechnungen“ genannt. Tatsächlich würde so etwas niemals passieren, nicht mal im Iran ist das erkennbar. Als Szenario aber ist es valide, man muss halt den Zweck verstehen, vor allem, wenn man immer noch von Herdenimmunität redet, ohne es zu sagen.
Das gilt auch für die Idee, das Virus werde ohnehin „heimisch“ werden und sei nicht aufzuhalten, allenfalls zu verzögern. Wer diese These vertritt, muss dazu sagen, dass die Zahlen des ICL sehr wohl zustande kommen werden – je nach „Verzögerung“ (wie??) halt über einige Jahre. Aus diesem Grunde ist Herdenimmunität keine vertretbare Strategie, wir müssen dem medizinischen Fortschritt Zeit verschaffen und es macht auch keinen Sinn, den Horror der Herdenimmunität ein Stück weit zuzulassen, bis die Wissenschaft das Problem anderweitig löst. Es sei denn, man hat faschistoide Grundideen, denkt an das Recht des Stärkeren sowie an eine natürlich Auslese, die halt mal sein darf.
Ich will das niemandem unterstellen, aber wer von „laufen lassen“, „nicht aufhaltbar“, „damit leben“ spricht, möge auch dazu sagen, mit welchen Zahlen er rechnet, welche Folgen diese Strategie haben wird und wie das zu rechtfertigen ist. Es ist unerträglich, wenn Debattenbeiträge vor allem auf der Ebene von Politik und Wissenschaft ein „laufen lassen“ propagieren, ohne zu den möglichen Folgen Aussagen zu treffen. Bei vielen kann ich mir sehr gut vorstellen, warum sie das nicht tun: Es ist populär, den Menschen die harten Auflagen auszureden, es ist weniger populär über Sterbezahlen zu sprechen. Die kann man natürlich besser in Allgemeinplätzen verpacken, es werde ohnehin so viel gestorben. Nun, aus meiner Sicht ist es nicht das Ziel des Lebens, zu sterben. Es ist leider das Ende des Lebens, dessen Ziel es bis dahin ist, zu leben!
Ich möchte damit keineswegs die jetzigen Maßnahmen rechtfertigen oder als alternativlos darstellen. Eine Debatte über Maßnahmen ist zweifellos erforderlich und die Strategie der Europäer, die bei allen Unterschieden letztlich sehr ähnlich eine phasenweise Eindämmung auf Grenzwerte („Hammer and Dance“) vorsieht, halte ich persönliche gegenüber den Strategien in Asien, Australien, Neuseeland, Norwegen etc. für nachteilig. Ebenso finde ich die jetzt verhängten Maßnahmen im Einzelfall widersprüchlich und strittig, ich habe große Befürchtung, dass das rechtlich nun ein ziemliches Chaos wird – nicht zu Unrecht, werden Gerichte Ungleichheiten festzustellen haben. Ich fürchte im Gegenteil, dass wir so nicht über den Winter kommen und nochmals viel härtere sowie längere Maßnahmen sehen werden – was es aufgrund der Dauer nur teurer macht.
Insofern interessiert mich jede Debatte über Alternativen, aber ein Beitrag, der nur erläutert, was man alles nicht braucht und sich nicht der Frage stellt, was dann passieren wird, ob es anderer Maßnahmen bedarf, vielleicht gar keiner, ob es einen Grenzwert gibt, wo der liegen mag, ob der Schutz von Risikogruppen eine Alternative wäre (welche, wie groß, wie organisieren), was in der Breite der Bevölkerung passieren wird, wenn man sie dem Virus aussetzt etc. – das sind alles konkrete Fragen, die jede seriöse Alternative beantworten muss.
Nur zu sagen, man solle nicht überzogen reagieren und ansonsten solle man mal schauen, was passiert, hat auf die wissenschaftlichen Nachweise von tatsächlichen Verbreitungswegen keine angemessene Antwort. So etwas ist fahrlässig oder rein populistisch. Sollte es Schule machen und nun auch durch Gerichte gestützt werden, wird meine Befürchtung, dass wir ohne weit härtere Maßnahmen nicht durch den Winter kommen, umso wahrscheinlicher. Denn sobald die Intensivstationen nicht nur regional – wie jetzt schon – sondern in der Breite Stress bekommen, werden die Schäden so schnell in untragbarer Höhe sichtbar, dass mal wieder auf den Worst-Case reagiert werden muss.
Mit mehr Umsicht, die in der Debatte beginnen sollte, wäre das zu vermeiden. Die Ressourcen dazu hat Deutschland!