Gestern erhielt der Pfarrer und Ruhrbarone-Redakteur Thomas Wessel von der jüdischen Gemeinde die Dr.-Ruer-Medaille.
Seit Jahren setzt sich Thomas Wessel, Pfarrer der Christuskirche und Autor dieses Blogs, gegen Antisemitismus ein. Er unterstütze früh den Bau der neuen Bochumer Synagoge, organisierte Mahnwachen zu ihrem Schutz und sorgte dafür, dass die antisemitische BDS-Kampagne ein wichtiges Thema für die Ruhrbarone wurde: Wessel war es, der uns 2018 darauf aufmerksam machte, dass die BDS-Kampagne nicht nur im Ausland aktiv und in Deutschland von ein paar radikalen Rentnern in Bremen und Bonn unterstützt wird, sondern mit einem Auftritt der Band Young Fathers bei der Ruhrtriennale dabei war, in Deutschland Fuß zu fassen.
Dass die britische Dramatikerin Caryl Churchill nicht wie geplant in Stuttgart den „Europäische Dramatiker:innen Preis“ erhielt, ging auf seine Recherchen zurück.
Gleich mehrere Redner sprachen aus Anlass der siebten Verleihung der Dr.-Ruer-Medaille in der vollbesetzten Synagoge. Otto Ruer stammte aus einer alten, jüdischen Familie. Von 1925 bis 1933 war der parteilose Ruer, der der liberalen Deutsche Demokratische Partei (DDP) nahestand Bochums Oberbürgermeister. Nachdem die Nazis ihn aus dem Amt gedrängt hatten, nahm er sich im Sommer 1933 das Leben. Mit der Medaille werden Menschen ausgezeichnet, die sich für das jüdischen Leben einsetzen.
Grigory Rabinovich, der Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bochum, Herne und Hattingen, sagte: „Wir kennen Thomas schon eine lange Zeit. Er veranstaltete Konzerte in der Christuskirche, um den Bau der Synagoge zu unterstützen und als 2014 auch durch Bochum Demonstranten zogen und Parolen wie „Kindermörder Israel“ und „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ riefen, organisierter er vor der Synagoge eine Wache.“ Freunde aus Stuttgart hätten ihn angerufen, als Thomas Artikel dafür gesorgt habe, dass Caryl Churchill ihren Preis nicht erhielt.
Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD) sagte, dass so viele Gäste aus Anlass der Preisverleihung in die Synagoge gekommen seien. Liege an Thomas Wessel, zeige aber auch, dass die jüdische Gemeinde ein fester Bestandteil der Stadtgesellschaft sei. „Thomas, Du bist nie leise. Du positionierst Dich gegen den BDS, Du bist ein Bollwerk der Menschenrechte“, sagte Eiskirch. „Danke für Dein Engagement!“ Er als Oberbürgermeister begrüße es zudem, dass sich der Rat der Stadt klar gegen den BDS gestellt habe.
Abraham Lehrer, der stellvertretende Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland sagte angesichts des zunehmenden Antisemitismus, dass Juden Freunde dringender denn je brauchen würden. Als Beispiele nannte Lehrer den Anschlag auf das Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen und einen weiteren Anschlag auf eine Schule nahe der Bochumer Synagoge, die seiner Überzeugung nach das eigentliche Ziel gewesen sei. An Thomas Wessel gewandt, sagte Lehrer: „Sie haben als Pfarrer Gruppen, die den BDS unterstützen, den Zugang zu ihrer Kulturkirche untersagt.“
Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, strich Wessels Engagement für das jüdische Leben hervor: „In ihrem Engagement ging es Ihnen nie um Ihre Person. Sie suchten in der Kirche nach einem Platz, an dem sie segensreich wirken können.“ Er habe es durch einen symbolischen israelischen Sponsor geschafft, dass die BDS-Unterstützer seine Kirche der Kulturen mieden.
Thomas Wessel hielt im Anschluss an die Laudatoren diese Rede:
Die Idee, die mit der Otto-Ruer-Medaille verbunden ist, hat – so lese ich das – damit zu tun, sich verlassen zu können auf andere, auf eine Stadtgesellschaft. Auf eine Öffentlichkeit, die hergestellt werden muss – was die Ruhrbarone tun, das freie Journalisten-Blog, das eine Öffentlichkeit gegen diese kulturalisierte Form von Antisemitismus überhaupt erst ermöglicht hat. Sich halbwegs sicher sein zu können, wer auf welcher Seite spielt: Das ist ein Interesse, das habe ich auch, das haben wir alle. Und wenn es das ist, lieber Grigory Rabinovich, wenn es um dieses Gefühl der Verlässlichkeit geht, von einem selbstverständlichen Mitdenken, dann ist es ein schönes Gefühl, diese Medaille in der Hand zu halten, ein sehr schönes. Da ist meine Seele – das ist mein Konfirmationsspruch aus Jes 61, – da ist meine Seele fröhlich in meinem Gott.
Verlässlichsein liegt sprachlich dicht an seinem Gegenteil, der Erfahrung des Verlassenseins, jener Erfahrung, die Otto Ruer gemacht hat. Eine Erfahrung, die Sie, Herr Lehrer, die der Zentralrat immer wieder hat machen müssen: alleine im Regen zu stehen. Die Documenta in Kassel hat eben nicht nur ein antisemitisches Weltbild aufgespannt, sie hat noch ein anderes Bild geschaffen, weniger bekannt: die Einsamkeit von Doron Kiesel. Das Bild von ihm, wie er – als Sprecher des Zentralrats – auf dem einzigen Podium saß, das es in Kassel gab, es war das Bild eines Verlassenseins.
Verlassensein ist, anders als Einsamkeit, eine politische Erfahrung, keine private – Hannah Arendt hat den Unterschied beschrieben und hat das Verlassensein mit einem Satz von Martin Luther beschrieben, ausgerechnet und immerhin, der gesagt habe, es müsse schon deshalb einen Gott geben, weil der Mensch ein Wesen brauche, dem er wirklich trauen, auf das er sich wirklich verlassen könne.
Einen kleinen Schritt weiter gedacht: Wenn es unsere Kirche nur deshalb gibt, damit ihr die Synagoge trauen kann, und die Stadtgesellschaft deshalb, damit wir uns selber trauen können, umso besser. Für alle Beteiligten einschließlich Gott.
Solides Eigeninteresse
Ich versuche jetzt zu erklären, warum ich mich einerseits sehr über diese Auszeichnung freue und sie zugleich als unangemessen empfinde: Alles, was wir zusammen gemacht haben und demnächst zusammen tun, Ihr und wir, Synagoge und Kirche, das tue ich und das tun wir mit Euch und sicherlich auch für Euch, aber immer auch für uns, für uns selber, für mich. Es hat alles mit einem soliden Eigeninteresse tun.
Das ist ein schwieriges Thema, ich krieg das auch nicht in 10 min hin. Aber ich halte es für wichtig , dass wir, wenn wir über uns reden, über das, was uns alle hier miteinander verbindet, dass wir dann nicht über moralische Richtigkeiten reden, sondern über unsere Interessen.
Damit meine ich keine persönlichen Motive oder familiäre oder generationelle. Motiv-Forschung ist langweilig, was deutsche Familien angeht, ist der generationelle Hintergrund im Großen und Ganzen derselbe. Und wenn man von diesen Familiengeschichten, den deutschen, irgendetwas lernen möchte, dann die Einsicht, wie groß doch die Bereitschaft ist von Menschen wie mir und dir, auch von Menschen, die man liebt, sich an das zu gewöhnen, was eben noch unvorstellbar schien.
Dass Nachbarn abgeholt werden und es keinen sonderlich berührt.
Die Fähigkeit zur Empathie, zum Aufmerken und Einfühlen – eine Fähigkeit, die ich an Ayla bewundere, meiner Frau, sie hat – Du hast – dieses Vermögen, Dich einfühlen zu können in einen anderen, „dir vorzustellen, was mit dem anderen ist“ (György Konrad) – eine ganze Gesellschaft hat dieses Vermögen schon einmal verspielt. Und das, ohne einen nennenswerten Vorteil davon zu haben, ohne irgendetwas zu gewinnen.
Die dunkle Seite der Kunst
Beim Rassismus ist das Interesse evident, wer rassistisch denkt, spekuliert auf den eigenen, den persönlichen Profit. Aber beim Antisemitismus? Mal abgesehen von Effekten, die sich nur psychologisch deuten lassen: Welchen Vorteil hat, wer Juden denunziert? Welchen Vorteil hat, wer Israel denunziert, den jüdischen Staat? Diese wenigen Juden, diesen kleinen Staat, da gibt es für keinen nichts auf die Hand – und womöglich ist gerade dies der Punkt: dass es nichts zu gewinnen gibt.
Dass es so aussieht, als agiere, wer Juden auf seine persönliche Streichliste setzt oder den jüdischen Staat, als agiere so einer völlig vorteilsfrei, scheinbar vorurteilsfrei, ganz aus sich heraus, völlig interesselos.
Fast so, als sei Antisemitismus die dunkle Seite der Kunst, des ästhetischen Gefallens, das Immanuel Kant ja nun ebf als „interesselos“ bestimmt hat: Das ästhetische Geschmacksurteils, schrieb Kant, sei völlig willkürlich und eben darum vollkommen frei, reine Subjektivität. Daher vielleicht die Anfälligkeit des Kulturmilieus für das antisemitische Geschmacksurteil.
Umso wichtiger, dass wir ein Interesse haben, um solcher Willkür nicht ebenso willkürlich zu begegnen.
Theologisches Interesse
Drei Aspekte dazu, wenn Sie gestatten. Zunächst ein, nein: mein theologisches Interesse. Kurz gesagt, es gibt kein christliches Bekenntnis ohne den jüdischen Einspruch. Kein christliches Ja ohne das jüdische Nein. Das jüdische Nein besteht darin, die Wirklichkeit der Erlösung, an die wir glauben, an der Wirklichkeit zu messen, die alle erleben.
Ob denn ein Erlöser, der eine solche Welt hinterlässt, jemals Messias gewesen sein oder jemals werden könnte – erst wenn dieser jüdische Zweifel zum christlichen Glauben gehört wie das Amen in der Kirche, erst wenn uns das jüdische Nein – auch dieses charmante Kann sein, kann nicht sein – wenn uns dies so gewiss geworden ist wie die Momente tiefster Frömmigkeit, die wir ab und an erleben mögen, erst dann sind wir, glaube ich, biblisch grundiert.
Und das heißt: ohne Synagoge sind wir dies nicht. Jede Synagoge ist darum – ich bin da ein Schüler von Friedrich Wilhelm Marquardt – immer auch pro nobis, sie ist immer auch für uns.
Politisches Interesse
Und das ist auch schon der zweite Aspekt des Eigeninteresses, das ich habe, es ist ein politisches. Als wir damals am Anfang standen mit dem Projekt, dieses Haus zu bauen, war von vornherein klar – und das hatte Ernst-Otto Stüber, ein politischer Kopf sondergleichen, uns vorab mitgegeben, es war entscheidend – dass wir eine Synagoge für Bochum bauen. Auch hier: für uns, für alle, für die Stadt. Ohne dieses Haus und ohne seine Gemeinde, ohne Euch, sind alle wir nicht wir.
Das war schön damals, eine schöne Stimmung, ein zuversichtliches Selbst-Gefühl in der Stadtgesellschaft: Der Freundeskreis wurde gegründet, Gerd Liedtke vorneweg – dem ich von hier aus meinen großen Respekt entrichte – , ein Beirat wurde gegründet, der diese fröhliche Stadtgesellschaft abgebildet hat … und da geschah dann etwas, es war eigentlich nur ein kurzer Moment, der mir dann aber schwer zu denken gegeben hat.
Wir saßen im Beirat in großer Runde beisammen, alle repräsentierten wir eine Initiative oder Institution der Stadtgesellschaft, unsere Frage war, was können wir tun, um den Bau einer Synagoge für Bochum öffentlich und mit Spendengeldern zu unterstützen, und ich schlug vor, den Bauzaun und die Gerüstplane, die es ja bald geben werde, als Kommunikations- und Werbefläche zu nutzen – ideale Lage, ideale Sicht, hohe Frequenz auf der Castroper Straße, es passte alles. Und da war unsere Reaktion im Beirat dann doch sehr verhalten, zögerlich, vorsichtig. Ob das nicht zu aufdringlich sei, ob es nicht – das alles in einem nachdenklichen, leisen Ton – ob es nicht auch als aggressiv wahrgenommen werden könnte, ob sich da überhaupt wer fände, der bereit wäre, sich so unmittelbar und direkt mit einer Synagoge zu identifizieren. Das alles wie gesagt in einem besorgten, bedachtsamen Ton – aber die Fröhlichkeit war weg, die Zuversicht, das Selbst-Bewusstsein, dass wir es doch seien, die diese Stadtgesellschaft repräsentierten, dass wir doch die Atmosphäre in dieser Stadt prägen, dass wir den Umgangston bestimmen könnten.
Ich erzähle das nicht, um irgendwem auf den Fuß zu treten – außer uns selber. Mir selber. Da stand plötzlich eine Frage im Raum, die ich mir selber stellen musste, es ist im Grunde die Otto-Ruer-Frage: An welchen beiläufigen Fragen, welchen belanglosen Biegungen wurden eigentlich damals, 1930, 31, 32, die Mehrheiten porös, die demokratischen, die er, der parteilose Oberbürgermeister, organisiert hat? Was haben wir, die Bochumer Demokraten, damals in Kauf genommen, was heute? An was gewöhne ich mich gerade, an was habe ich mich bereits gewöhnt? Keine Menorah im Fenster, keine Werbung auf dem Bauzaun, keine Kippa auf der Straße. Und alle Davidsterne versteckt, wenn wir uns in der S-Bahn umschauen. Als seien schon wieder alle Juden verschwunden, fällt uns das überhaupt auf.
Eben noch der Satz, „Ohne Euch sind wir nicht wir“. Jetzt die Frage: „Was sind wir bereit, von uns selber aufzugeben?“
Das sind hoch moralische Fragen, sie haben ihr Recht, absolut. Wir müssen sie uns stellen, natürlich. Aber, und darauf will ich hier jetzt hinaus: unter der Hand passiert – auch jetzt, indem ich das erzähle – etwas anderes.
Mit einem Mal geht es nicht mehr um unsere eigentlichen Interessen, sondern um unsere eigenen Gewissen. Mit einem Mal – und das wurde mir damals nach der Beiratssitzung an mir selber klar – geht es nicht mehr darum, eine städtische Öffentlichkeit herzustellen, sondern lauter private. Geht es um keine Synagoge mehr für Bochum, auch um keine Synagoge auch für mich, plötzlich geht es nur noch um mich. Anstatt über unsere Interessen denken wir über moralische Ansprüche nach, die wir an uns selber stellen.
Und dann – das ist immer so, ich hab das ja gerade auch gemacht – dann stellen wir uns und unser moralisches Selbstbild sofort in die Geschichte hinein. Wir reflektieren uns selber sofort im Verhältnis zur Nazi-Zeit. Eine Zeit, die uns nun aber nicht viel anderes lehrt, als dass die Fähigkeit, moralische Überzeugungen beizeiten zu wechseln, erstaunlich ausgebildet ist.
„BDS ist wie ein fieses Zerrbild von uns selbst“
Das die Situation. Nicht schön, aber auch nicht schlimm. Und jetzt passiert folgendes: BDS taucht auf. BDS, die weltweite Boykottkampagne gegen Israel, eine Hetzkampagne gegen Demokratie, von Terror-Banden wie der Hamas und der PFLP angeführt – BDS taucht auch in Deutschland auf und trifft auf uns. Auf unsere moralischen Ansprüche, die unsere Interessen wie unter einem Zaubertuch verschwinden lassen.
Und genau dies tut, genau so benimmt sich nun auch BDS. Auch diese anti-jüdische Bewegung bewegt sich ausschließlich auf einer moralischen Ebene, sie formuliert keinerlei Interessen: nicht an Verhandlungen und nicht daran, die wirtschaftliche Situation in den palästinensischen Gebieten zu verbessern, nicht daran, die menschenrechtliche Situation dort zu verbessern, nicht die politische, nicht die kulturelle, nichts.
BDS geht es allein darum, Israel so von der Weltkarte verschwinden zu lassen wie Davidsterne in der S-Bahn.
Und zwar mit Moral, nicht mit Boykott, mit Boykott hat die Boykott-Kampagne nichts am Hut, anders müsste sie zuerst und vor allem die Palästinenser selber boykottieren: 90 % aller Exporte aus den palästinensischen Gebieten gehen nach Israel. BDS agitiert nicht mit Boykott, BDS agitiert mit Moral. Mit der Empörung darüber, dass es sich bei just dieser Nation um „Apartheid“ handele und „Kolonialismus“ und dgl, muss ich hier nicht wiederholen. Seit fünf Jahren gewinnt BDS auch in Deutschland einige Resonanz, klar ist: Es gibt ein enormes Reservoir an Leuten, die bereit sind, sich selber diesen moralischen Mehrwert zu gönnen, es sind Leute, die so sind wie wir: Sie sind in denselben Parteien und Kirchen und Vereinen, sitzen im selben Theater, Kino und Konzerthaus und haben jetzt eben nicht nur ihr ästhetisches, sondern auch ihr antisemitisches Geschmacksurteil getroffen. Scheinbar selbstlos, hochmoralisch, nur an höchsten Werten orientiert.
BDS ist wie ein fieses Zerrbild von uns selbst. Wie dieser weltweiten Kampagne begegnen?
„Moralische Selbst-Zertifizierung im großen Stil“
Es gibt eine Initiative, die – genau 2 Jahre her – eine Antwort darauf erarbeitet hat, und diese Antwort führt zum dritten Aspekt des Eigeninteresses, das ich habe. Es geht um die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit. Seltsamer Titel, er täuscht, es handelt sich um den Zusammenschluss großer und größter Kulturakteure dieser Republik: Diese Initiative hat kulturprägendes Potential, nämlich rund 1 Milliarde Euro Haushaltsmittel pro Jahr, und sie hat 1 Ziel: Sie will BDS auf ihre Bühnen und Podien holen und in ihre Programme einbinden, sie will BDS umarmen, wenn man so will. Das ist ihr einziges Thema.
Und genau wie BDS türmt nun auch dieses Intendanten-Bündnis moralische Erwägungen wolkenwärts. Beispiel: Wer BDS einbinde in sein Kultur-Programm, erklären einem die Kollegen, der beweise damit, dass er fähig sei, „Ambivalenzen zu ertragen“, dass er „Vielstimmigkeit“ inszenieren und „vielschichtige Solidaritäten“ eingehen könne usw. Und hier gilt dann der Umkehrschluss: Wer BDS nicht einbindet ins Programm, verweigert sich dieser „kulturellen Vielfalt“, blockt „kritische Perspektiven“ ab, erkennt „Differenz“ nicht an,
Es ist augenfällig: Hier wird Moral steif geschlagen und BDS untergerührt. Dass man „Differenz anerkennen“ müsse, wird ja nicht etwa für, sagen wir, die AfD gefordert oder den Ku Klux Klan, sondern allein für die antisemitische Bewegung.
Sie können sich vorstellen bei 1 Milliarde Euro Haushaltsmitteln pro Jahr, welche kulturprägende Kraft sich hier entwickelt. Was da alles an Praktika und Projekten und Programmen, an Fördermitteln und Stipendiaten, an Jobs und Teilzeitjobs vergeben wird – und was auf diese Weise alles an neuer Moral durchgeregelt würde – ganz beiläufig.
Und das ist das, was mich am meisten beunruhigt: diese moralische Selbst-Zertifizierung im großen, im ganz großen Stil. Die nicht nur so tut, als sei sie so interesselos wie ein ästhetisches Wohlgefallen, sondern die tatsächlich bereit ist, gegen ihr eigenes, gegen ihr unmittelbares Interesse zu handeln: Warum macht sich jemand – aus freien Stücken – erpressbar?
Warum legen es so viele Kollegen darauf an, dass BDS in ihre Intendantenbüros tritt wie Arafat vor die Vereinten Nationen – mit Pistolenhalfter am Gürtel?
Moral als antisemitischer Kitt
BDS hat oft genug bewiesen, dass diese Bewegung jedes Haus und jede Intendanz unter erheblichen Druck setzen kann. Das geschieht öffentlich, aber mehr noch nicht-öffentlich: Auf der diesjährigen Documenta haben wir den Begriff des silent boycott gelernt – des stillen und unsichtbaren Boykotts. Das ergibt ein Programm, bei dem BDS gar nicht erst öffentlich attackieren oder diskret zum Telefon greifen müsste, sondern das BDS antezipiert, die Planung gehorcht vorauseilend, Israelis werden nicht mehr eingeladen. Als sei Israel von der Weltkarte gestrichen, die im Intendantenbüro hängt.
Und das ist beklemmend. Da kriegt ja keiner einen Koffer mit Kohle aus Katar, wenn er BDS umarmt und auf seinen Bühnen präsentiert. Die Währung, in der hier gehandelt wird, ist einzig und allein Moral. Alle beschenken sich wechselseitig mit ihr – das Lumbung-Prinzip, wenn Sie so wollen, ein moralisches Wichteln. Sehr heimelig und freundlich – und beklemmend deshalb, weil es diesen demokratischen Antisemitismus mit dem terroristischen verbindet. Es ist die Moral, die den kultivierten Hass auf Israel mit einem eliminatorischen verbindet, den linken mit dem rechten, den gegenwärtigen mit dem der Nazis. Man muss sich nicht erneut durch die üblen Texte der Hamas quälen und nicht durch die der Nazis, um zu wissen, dass die sich alle für Märtyrer hielten und halten.
Es scheint charakteristisch zu sein für Antisemitismus jeder Art, dass er sich selber hoch moralisch gibt und frei von Interessen. Was wiederum heißt: Wenn wir Antisemitismus stoppen wollen, können wir nicht mit gleicher Moral zurückzahlen, wir müssen unsere Interessen formulieren.
Das meinte ich damit, als ich eingangs sagte, ich empfände das heute als unangemessen: die Dr.-Otto-Ruer-Medaille dafür, dass ich meine eigenen Interessen verfolge. Einfach weil ich mir, was in der Christuskirche geschieht, nicht von BDS einflüstern lassen will. Weil ich eine Band wie Shalosh – phänomenales Trio aus Tel Aviv – endlich live hören will.
Aber dass Sie deswegen nun alle gekommen sind, das freut mich sehr und ich bin – mein Konfirmationsspruch – „fröhlich in meinem Gott“, dass wir vielleicht nicht denselben Gott haben, aber die gleichen Interessen.
Dafür danke ich Ihnen sehr.
Ich möchte mich hiermit auch für dein Engagement bedanken, Thomas.
Glückwunsch, Thomas Wessel, und ein Danke für Ihre Arbeit. Die Auszeichnung ist beim Richtigen angekommen.
Seit meiner Jugend höre ich die Musik von Pink Floyd. Dann kam Thomas Wessel daher und stellte mit seinen Beiträgen zur BDS Bewegung einiges auf den Kopf, weil auch immer wieder der Name Roger Waters fiel.
ich höre immer noch Pink Floyd, so wie andere immer noch nach Bayreuth pilgern oder sich auf Martin Luther berufen. Aber all das geschieht mit anderen Ohren und einem völlig anderen Blick auf die Welt.
Danke dafür @Thomaes Wessel und ein gesegnetes Weihnachtsfest.