Am Schauspiel Dortmund läuft in diesen Tagen ein Stück, das an keinem Abend genau so aussieht wie beim letzten Mal: In „Das Goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ rackern sich nicht nur die Schauspieler auf der Bühne ab, sondern Regie, Dramaturgie, Musik, Sound und Video gehen eine große gemeinsame Jam-Session mit Spielern und Publikum ein – bei der vorab nicht abzusehen ist, was heute genau geschehen wird. Die Theatermacher um Regisseur Kay Voges haben acht Stunden Material aus den Proben gesammelt, die nun bei jeder Vorstellung neu kombiniert werden (ruhrbarone berichtete: „Wortarm im Bildreich“, „Das Goldene Zeitalter – Drei Interviews“).
Vom „größten Theaterskandal der letzten Jahre“ war zu lesen (amusio.de), von einem „einzigartige Gemisch der Eindrücke“, in dem „Ermüdung und Exaltation, Verstörung und Verzauberung eins werden“ (Sascha Westphal auf nachtkritik.de). Und worum geht es? Das Kernthema des „Goldenen Zeitalters“ ist der Kampf mit der Wiederholung – mit den alltäglichen Mühlrädern in unserer neoliberalen Gegenwart: Aufstehen und Schlafen gehen, Arbeiten und Erschöpfung, Konsumieren und Produzieren. Und um den ewigen Wettstreit zwischen Original und Kopie: Bin ich unverwechselbar und einzigartig? Oder doch nur ein lauer Aufguss des immer schon Dagewesenen? Schließlich werden aber auch die zeitlosen Sinnfragen des Daseins berührt: Der Endlose Kreislauf von Geburt und Tod.
Es gibt für die Inszenierung keine letztgültige Gebrauchsanweisung. Aber Dramaturg Alexander Kerlin hat einen ausführlichen Beipackzettel geschrieben, der bei dieser oder jener Sachfrage konsultiert werden kann – und der neugierig machen soll. Ruhrbarone veröffentlicht „Und ewig rollt das Rad des Seins – Das ABC des Goldenen Zeitalters“ in drei Portionen. Heute gibt’s die Buchstaben A bis E.
Die nächste Vorstellung ist übrigens am nächsten Samstag, 21. September, 19.30 Uhr im Schauspielhaus Dortmund.
Adam Erster Mensch, geschaffen aus Erde und Gottes-Atem. Zunächst geschlechtsloser Gärtner im Garten Eden. Nach unerlaubtem Fruchtgenuss und Versteckspiel mit → Gott erster Feld-Arbeiter. Zeugte mit seiner Frau → Eva Kain, Abel u.a. Gilt in der jüd.-chr. Tradition als Stammvater aller Menschen. Verstarb im Alter von 930 Jahren.
Alltag „Routinemäßige Abläufe bei zivilisierten Menschen im Tages- und Wochenzyklus,“ die sich durch „wiederholende Muster von → Arbeit und Arbeitswegen, Konsum, Freizeit, Körperpflege, sozialer sowie kultureller Betätigung und Schlaf“ auszeichnen (Wikipedia) (→ Hamsterrad, → Freiheit).
Also sprach Zarathustra (Strauss) Sinfonische Dichtung von Richard Strauss nach Friedrich Nietzsches gleichnamigem Buch. Das durch Stanley Kubricks Filmepos 2001: Odyssee im Weltraum (→ Menschenaffe) und durch Werbung für Warsteiner Bier weltberühmt gewordene „Naturmotiv“ (c’-g’-c’’) kehrt in ihr in Variation wieder, was als Verweis auf Nietzsches Idee der → Ewigen Wiederkunft interpretiert wurde.
Arbeit Umkämpfter Begriff, dessen Bedeutung weitgehend unklar ist. Arbeitet nur, wer dafür auch Lohn erhält? Was ist mit Staubsaugen, Stillen, Butter kaufen, Praktikum machen und Tagebuch bloggen?
Beckett, Samuel Literarischer Riese im 20. Jh. ( ), auf dessen Schultern man unsicher steht aber weit sieht (→ Zwerge auf den Schultern von Riesen). Bekannt geworden u.a. durch die Erfindung der Feldwegbewohner Wladimir und Estragon, die in sich endlos wiederholenden → Variationen auf einen gewissen Godot warten, der nicht kommt.
Beckett-Erben Relativ humorlose Vertreter der Urheberrechts-Interessen → S. Becketts. Bewirkten immer wieder Aufführungsverbote, weil sie Becketts originäre Absichten verletzt sahen (→ Original) – zuletzt an der Landesbühne Wilhelmshaven, weil ein Regisseur Estragon und Lucky mit Frauen besetzte.
Beuys, Joseph Bedeutender deutscher Kunstlehrer und Aktionskünstler ( ). Lauschte 1968 bei einem Leichenschmaus am Niederrhein dem Gemurmel alter Frauen und machte es zum Ausgangspunkt einer akustischen Skulptur, die 60 Minuten lang ausschließlich die Worte „Ja, ja, ja, ja, ja. Nee, nee, nee, nee, nee“ variierte (heute für ~ 900,- Euro als LP erhältlich).
Bühnenweihfestspiel Gattungsname der Parsifal-Oper, vom Komponisten selbst gewählt. Wagner verdrahtete die Theater-Bühne mit dem christlichen Jenseits wie niemand zuvor, um dort mit Kunst den „Kern der Religion zu retten“ wo „Religion künstlich“ geworden ist. Ein → Fetisch Wagners war die → Erlösung der Menschheit durch Mitleid.
Campbell Soup Company US-amerikanisches Unternehmen mit charakteristischem rot-weißem Etikett, das ein großes Sortiment haltbarer Lebensmittel in Konserven herstellt. Bereits 1962 verkaufte C.S.C. Suppen in 32 Geschmacksrichtungen: Grundlage für → Andy Warhols berühmte 32teilige → Serie Campbell’s Soup Cans.
Clown Figur mit langer Tradition in Zirkus, Varieté und Theater. Hat die ungeheure Pflicht, die Leute zum Lachen zu bringen. Bekannte C.s sind der Dumme August (rote Nase, große Schuhe, verkörpert so was wie die „Freiheit des Triebes“) und der Weiße Clown (weiß, verkörpert die „Vernunft“). Fast alle Figuren → S. Becketts haben Clowns im Stammbaum.
Collage „Systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten“ (Max Ernst, Maler, 1891-1976) (→ Détournement, → Mashup).
Copy and Paste Die Computerbefehle Strg + C sowie Strg + V, die eine beliebige Menge Text in Sekunden von Dokument zu Dokument wandern lassen. Hat in den letzten 25 Jahren still und heimlich das Schreiben revolutioniert.
Couch Liegemöglichkeit im psychoanalytischen Behandlungszimmer. Liegend fährt sich’s reibungsloser hinab ins Unbewusste.
Cover Recycling-Technik in der Musik: Ein bestehendes Lied wird neu eingespielt und dabei notwendig variiert. Wird im amerikanischen Kontext auch ‚tribute’ genannt, was das C. weniger zu einem Diebstahl am → Original als zu einer Verbeugung vor demselbigen macht.
Danton, Georges Französischer Revolutionär (1759–1794), ausführlich gesampelt (→ Sample) in Georg Büchners Drama Dantons Tod. Dort äußert er sich vor seiner Hinrichtung ungehalten über die lästigen → Wiederholungen → im Alltag: „Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder herauszukriechen.“
Die Wiederholung Philosophische Dichtung von Sören Kierkegaard von 1843, in der ein fiktives Ich namens Constantin Constantius wiederholt ins Theater geht um herauszufinden ob die „→ Wiederholung möglich sei“ (→ Messi, Lionel). Mündet immer wieder in geistreichen Paradoxien, die sich jedem Versuch einer eindeutigen Antwort lachend entgegenwerfen: „Das einzige, was sich wiederholte, war die Unmöglichkeit einer Wiederholung.“
Die Schöpfung Oratorium von Joseph Haydn (1798), der die Schöpfungsarbeit an seinem Werk selbst als religiöse Erfahrung beschrieb. Das Libretto erzählt die → Geschichte der Erschaffung der Welt als → Remix der Bücher → Genesis und Psalmen sowie John Miltons Epos Paradies Lost.
Donau, an der schönen blauen Walzer und hartnäckiger Ohrwurm von Johann Strauss aus dem Spätherbst 1866, der alljährlich das alte Jahr in Österreich verabschiedet und das neue begrüßt. Cineasten werden dabei wohl für immer ein Raumschiff um eine Raumstation tanzen sehen. Im 3/4-Takt des Walzers vermuteten Musikwissenschaftler übrigens schon mal eine besondere Zahlenmystik: die Zahl 3 gilt seit Pythagoras als Symbol für die ewige Wiederkehr (→ Alltag, → Ewige Wiederkunft, → Hamsterrad).
Détournement Kulturtechnik der „Entwendung“, von den Situationisten um Guy Debord in den 1950ern so benannt. Etablierte und damit zu „Lügen“ (Debord) erstarrte Kunstwerke und Ideen werden aus ihrem musealen Kontext gerissen und „wieder der Subversion zugeführt.“ (→ Collage, → Mashup, → The Grey Album)
Deutscher Michel Knapp 500 Jahre alte Personifikation Deutschlands mit Zipfelmütze aber ohne geklärte Herkunft (nein, auch nicht der Erzengel Michael). Dieser mal schlaftrunken, tumb und friedliebend, mal völlernd und saufend dargestellte Biedermann hat in John Bull (England), Onkel Sam (Amerika) und Marianne (Frankreich) seine wichtigsten westlichen Alliierten. Als „Etikette deutscher Identität“ (Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland) erschreckend identitätslos (→ Identität).
Duracell-Hase Rosafarbenes Plüschhäschen mit Alkali-Batterie-Antrieb (*1973), das beim Trommelkonzert der Häschen als einziges bis zum Morgen unermüdlich weitertrommelte und dadurch Selektionsvorteile gegenüber Häschen mit herkömmlichen Zink-Kohle-Batterien bewies (→ Erschöpfung, → Menschenaffen).
Ehije ascher ehije Hebräische Aussprache der berühmten Worte aus dem brennenden Dornbusch, die → Gott in Exodus 3,14 als unmissverständlichen Ausdruck seiner Selbst-Identität zu Mose spricht, als dieser ihn nach seinem Namen fragt. Verschieden übersetzt, u.a. mit „Ich bin der ich bin“ (Elberfelder), „Ich werde sein, der ich sein werde“ (Luther), „Ich bin der Seiende“ (Septuaginta), „Ich werde sein der Ich bin“ (Zunz) und „Ich bin der, der ist und immer sein wird“ (Neue Evangelistische) (→ Identität).
Einstein on the Beach Experimentelle Oper in vier Akten mit fünfstündiger Aufführungsdauer und enormer hypnotischer Kraft, 1975 komponiert von dem Theatermusiker Philip Glass. Das Libretto besteht aus sich wiederholenden Silben, Zahlen und Gedicht-Fragmenten (→ Mantra).
Ende der Geschichte Idee des Politikwissenschaftlers F. Fukuyama aus den 1990er Jahren, nach der mit dem Ende des Realsozialismus in Osteuropa der liberal-demokratische Kapitalismus endgültig gewonnen hätte und das → Goldene Zeitalter einer liberalen Weltgemeinschaft vor der Tür stehe. Stand September 2013: Völliger Unsinn!
Endloslied Lied mit textlicher und/oder musikalischer Struktur, in der das Ende notwendig zurück zum Anfang führt. Bekannte Beispiele sind die Volkslieder Ein Loch ist im Eimer und Ein Mops kam in die Küche sowie Eisgekühlter Bommerlunder (Die Toten Hosen) und Das rote Pferd (→ Remix von Markus).
Erklärbär Vierpfotiger schwarzer Pädagoge im Pelz mit schusssicherer Weste und Hang zur großen Geste. Zitiert gern → Die Wiederholung und verhöhnt individuelles Glück mit dem bestialischen Wahrheitsanspruch, dass die ewige → Wiederholung gottgewollt und somit unhintergehbar sei (→ Alltag, → Hamsterrad, → Noah).
Erlösung Insbesondere jüd.-chr. Vorstellung von der endgültigen Befreiung eines Einzelnen oder größerer Gruppen von Menschen von allem Negativen (→ Goldenes Zeitalter). Wer nun aber erlöst wird, darüber werden seit jeher heftige Debatten geführt. Alle, die glauben? Alle, die getauft sind? Alle, die sich an die Gebote halten? Alle reuigen Sünder? Alle, die → Gott dafür ursprünglich vorgesehen hat? Alle? (→ Erlösung dem Erlöser)
Erlösung dem Erlöser Epochaler Schlusschoral in Richard Wagners Oper Parsifal (→ Bühnenweihfestspiel). Von „allen“ gesungen, direkt nachdem Parsifal die Wunde von Amfortas mit dem Speer geschlossen hat und sich kniend in den Anblick des Grals versenkt. Widmet sich dem Gedankenspiel, wer eigentlich denjenigen erlöst, der die anderen erlöst (→ Erlösung). Wagner schlägt einen heller werdenden Lichtschein und eine weiße Taube aus dem Schnürboden vor.
Erschöpfung Geistig-körperlicher Zustand während einer großen Anstrengung bzw. als Folge einer großen Anstrengung. Von der Unfähigkeit begleitet, weiter wie geschmiert zu funktionieren und Sinneseindrücke zu verarbeiten. Kritiker der Leistungsgesellschaft sahen in der E. Potential zum Widerstand: Am Nullpunkt der Seelenkräfte ist die Empfangsbereitschaft für das Nonkonforme besonders hoch. E. der Schauspieler und/oder → Zuschauer wird auch als ästhetisches Mittel im Theater verwendet.
Eva Erste Frau der Menschheitsgeschichte (geschaffen auf Grundlage einer Organspende unter Vollnarkose). Erst sie machte den Gärtner → Adam zum Mann (im logischen wie im geschlechtlichen Sinne). Schlechtes Image brachte ihr der in der christlichen Tradition seit Augustinus so genannte Sündenfall, als sie Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aß und Adam ebenfalls davon gab. Was selten bedacht wird: Adam hätte ja auch nein sagen können.
Ewige Wiederkunft Logischer Schluss Friedrich Nietzsches, der sich aus der Annahme ergibt, dass die Anzahl der Dinge im Raum endlich, die → Zeit jedoch unendlich in Vergangenheit und Zukunft erstreckt sei. Alle möglichen Situationen und Handlungen wiederholen sich demnach unendlich oft. Mit der Annahme dieser Annahme bricht die Ewigkeit in den Augenblick ein (→ Werther).
Exactitudes Fotostudien von Ari Versluis & Ellie Uyttenbroek. Unter Stichworten wie ‚Americanos’, ‚Latte Lovers’, ‚New Skool’ u.v.m. machten sie Fotos von → Individuen mit ähnlichem Sozius und stellen sie in seriellen → Collagen aus. Massiver Angriff auf jedes Gefühl von Einzigartigkeit (Verluis, Ari und Uyttenbroek, Ellie: Exactitudes, Rotterdam 2011) ( → Serie).
Und bald geht es weiter…
[…] Am Schauspiel Dortmund läuft in diesen Tagen ein Stück, das an keinem Abend genau so aussieht wie beim letzten Mal: In „Das Goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ rackern sich nicht nur die Schauspieler auf der Bühne ab, sondern Regie, Dramaturgie, Musik, Sound und Video gehen eine große gemeinsame Jam-Session mit Spielern und Publikum ein – bei der vorab nicht abzusehen ist, was heute genau geschehen wird. Die Theatermacher um Regisseur Kay Voges haben acht Stunden Material aus den Proben gesammelt, die nun bei jeder Vorstellung neu kombiniert werden (ruhrbarone berichtete: „Wortarm im Bildreich“, „Das Goldene Zeitalter – Drei Interviews“, „Das ABC des Goldenen Zeitalters – A bis E“). […]