Am Schauspiel Dortmund läuft in diesen Tagen ein Stück, das an keinem Abend genau so aussieht wie beim letzten Mal: In „Das Goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ rackern sich nicht nur die Schauspieler auf der Bühne ab, sondern Regie, Dramaturgie, Musik, Sound und Video gehen eine große gemeinsame Jam-Session mit Spielern und Publikum ein – bei der vorab nicht abzusehen ist, was heute genau geschehen wird. Die Theatermacher um Regisseur Kay Voges haben acht Stunden Material aus den Proben gesammelt, die nun bei jeder Vorstellung neu kombiniert werden (ruhrbarone berichtete: „Wortarm im Bildreich“, „Das Goldene Zeitalter – Drei Interviews“, „Das ABC des Goldenen Zeitalters – A bis E“, „Das ABC des Goldenen Zeitalters – F bis M“).
Vom „größten Theaterskandal der letzten Jahre“ war zu lesen (amusio.de), von einem „einzigartige Gemisch der Eindrücke“, in dem „Ermüdung und Exaltation, Verstörung und Verzauberung eins werden“ (Sascha Westphal auf nachtkritik.de). Und die Bild-Zeitung ergänzte: „Kay Voges macht Dortmund zur Theaterhauptstadt.“ Aber worum geht es? Das Kernthema des „Goldenen Zeitalters“ ist der Kampf mit der Wiederholung – mit den alltäglichen Mühlrädern in unserer neoliberalen Gegenwart: Aufstehen und Schlafen gehen, Arbeiten und Erschöpfung, Konsumieren und Produzieren. Und um den ewigen Wettstreit zwischen Original und Kopie: Bin ich unverwechselbar und einzigartig? Oder doch nur ein lauer Aufguss des immer schon Dagewesenen? Schließlich werden aber auch die zeitlosen Sinnfragen des Daseins berührt: Der Endlose Kreislauf von Geburt und Tod.
Es gibt für die Inszenierung keine letztgültige Gebrauchsanweisung. Aber Co-Autor Alexander Kerlin hat einen ausführlichen Beipackzettel geschrieben, der bei dieser oder jener Sachfrage konsultiert werden kann – und der neugierig machen soll. Ruhrbarone veröffentlicht „Und ewig rollt das Rad des Seins – Das ABC des Goldenen Zeitalters“ in drei Portionen. Heute gibt’s die letzten Buchstaben von N bis Z.
Die nächste Vorstellung ist übrigens am nächsten Mittwoch, 9. Oktober, 19.30 Uhr im Schauspielhaus Dortmund.
Noah Gottesfürchtiger hebräischer Schiffsbauer und Flutüberlebender. Durch das Nadelöhr seiner Arche gelangte → Gottes Schöpfung in die endlos sich wiederholende Gegenwart von „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“, welche Gott durch die Flutopfer besänftigt einrichtete.
Original Häufig genutzte Wendung, die in etwa meint: Auf nichts Vorgängiges mehr rückführbar, unkopierbar, mit sich selbst identisch. Zweifelhaft geworden im Zuge diverser philosophischer und künstlerischer Anstrengungen im 20. Jahrhundert, die im Anspruch auf Originalität auch immer Herrschaftsansprüche vermuteten (→ Warhol, Andy, → Goethe, Johann Wolfgang von).
Pars-pro-toto-Opfer Ein Teil eines Körpers oder ein Abbild eines Körperteils wird stellvertretend für den ganzen Körper geopfert – z.B. eine Büste für einen Dichter (→ Marx, Karl).
Postmoderne Bezeichnung für die → Geschichts-Epoche zwischen Moderne und dem 23. Juni 2011 (~ 13:30 Uhr), als der Philosoph Markus Gabriel in Neapel beim Mittagessen ihr lang ersehntes Ende ausrief (siehe auch sein Buch Warum es die Welt nicht gibt) (→ Ende der Geschichte). Die P. hatte ein ganz besonderes Faible für das Serielle (→ Serie).
Puhdys Rockband mit 44jähriger Geschichte, bekannt u.a. durch den Soundtrack zum DDR-Kultfilm Die Legende von Paul und Paula. Hierfür komponierte sie einen ins Mark fahrenden Song mit dem Titel Wenn ein Mensch lebt (→ Tod), eine musikalische Übermalung des ursprünglich für den Film vorgesehenen Liedes Spicks and Specks von den Bee Gees, das aus Kostengründen aus dem Soundtrack flog (→ Cover, → Sample).
Puppen Vielleicht das älteste Spielzeug der Welt und Kultobjekt mit magischen Eigenschaften: Fast alle Kulturen kennen diese figürlichen Umbildungen des menschlichen Körpers. P. verdanken ihre Beliebtheit nicht nur bei Kindern der bedingungslosen Bereitschaft, sich in die für sie vorgesehenen Spielwelten zu fügen (→ Fetisch, → Freiheit). Entwickeln P. wider alle Erwartung einen eigenen Willen, wird ein Horrorfilm oder eine Pixar-Animation draus.
Remix Obwohl mitunter etwas despektierlich Bastard-Pop genannt, ist R. in der Musik heute weitestgehend als eigenständige Kunst anerkannt (→ Détournement, → Mashup, → Sample, → The Grey Album).
Rückkopplung Siehe Feedback
Sample (Engl.: ‚Stichprobe’) Bruchstück aus einem bereits abgeschlossenen Kunstwerk, welches in einen anderen Kontext überführt wird und sich dort neu ausnimmt (→ Collage, → Détournement, → Loop, → Remix, → Mashup)
Serie Eine Reihe von miteinander in → Zeit oder Raum in Verbindung stehender, aber dennoch voneinander isolierter Phänomene in der Form A’, A’’, A’’’ usw. Wurde wiederholt zu einem Charakteristikum der → Postmoderne erhoben. Zum Beispiel bilden alle Fernsehzuschauer um 20 Uhr eine S. Andere S.n sind vom Fließband kommende Markenprodukte (→ Fordismus, → Tetra Pak, → Warhol, Andy) oder ähnlich gekleidete Peers (→ Exactitudes, → Individualität, → Puppen).
Sisyphos Fesselte Thanatos, den Gott des Todes, so dass eine zeitlang keiner starb. Zur Strafe rollt S. nun bis in alle Ewigkeit einen Gesteinsbrocken einen Berg hinan, der dann kurz vor dem Gipfel wieder herabrollt. Albert Camus provozierte einst mit dem Gedanken, sich S. doch als glücklichen Menschen vorzustellen, denn „der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“
Supergirl Comicfigur aus prominenter Familie: Ihr Cousin ist Superman persönlich, mit dem sie sowohl die übernatürlichen Kräfte als auch die Allergie gegen Kryptonit teilt.
Tagesschau Gilt als Musterbeispiel objektiven Journalismus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. In Zeiten des Analog-Fernsehens im 20. Jh. wichtigster Taktgeber im Tagesrhythmus Deutschlands. Insbesondere die T. um 20 Uhr in ihrer charakteristischen Länge von 15 Minuten diente der täglichen Einläutung des Feierabends (Kinder sind im Bett) und als Grundlage politischer Meinungsbildung.
Tagesschau-Gong Die charakteristische Erkennungsmelodie der → Tagesschau existiert seit 1956. Wurde seitdem viermal überarbeitet, jedes Mal gegen Protest der Zuschauer. Keine Bange, hieß es dann regelmäßig, der T. bleibe gleich, nur halt ein bisschen anders. Die letzte geplante Neuvertonung 2012 wurde durch ein Veto der Komponistenwitwe abgelehnt – die Melodie sei nicht ähnlich genug.
Tetra Pak „Schützt, was gut ist“, z.B. Milch während des Transports. In einem Leben trinkt der Durchschnittsdeutsche 6.921 Liter Milch. Bei einem Marktanteil von 80 % für T.P. kommt man somit auf einen Verbrauch von ca. 5536 T.P. pro Menschenleben, Saft, Wein und Sojamilch noch gar nicht eingerechnet.
Tod Unwiederholbares, absolut einzigartiges, niemals kopierbares Ende eines individuellen Lebewesens.
The Grey Album Enorm erfolgreiches → Mashup-Album von DJ Danger-Mouse aus dem Jahr 2004, der das White Album der Beatles und The Black Album von Jay-Z in den Mixer warf und etwas richtiggehend Neues schuf. Verboten durch das Musik-Label EMI, dadurch erst recht berühmt geworden und im Netz tausendfach geteilt (→ Détournement, → Original, → Remix, → Sample).
Tschechow, Anton Russischer Dramatiker im ausgehenden 19. Jh. mit Gespür für Unglück, Zeitstillstand und hilflose Utopien. Zu seinen Erfindungen gehören jene Figuren im Morast ihrer Seelenleiden, die ein glückliches Zeitalter heraufziehen sehen – allerdings erst in „tausend Jahren“ (Onkel Wanja).
Turritopsis nutricula Glockenförmige Quallenart aus der Familie der Oceaniidae mit 4 mm Durchmesser und einem → göttlichen Geschenk: Die T. ist der bisher einzige bekannte Vielzeller, der dem Prinzip nach biologisch unsterblich ist. Das Individuum kehrt nach der Fortpflanzung in den Zustand vor der Geschlechtsreife zurück, ohne dass es zu genetischen Veränderungen kommt (→ Menschenaffen).
Verschiedenartige Geschichtsauffassung Essay mit sperrigem Titel von Heinrich Heine (1797–1856) aus dem Jahr 1830. Stellt darin den Optimismus des Fortschritts dem Pessimismus eines traurigen Kreislaufes („Alle irdischen Dinge sind nur ein trostloser Kreislauf: Ein Wachsen, Blühen, Welken und Sterben“) gegenüber, verwirft dialektisch geschult beides und entwickelt ein Drittes.
Warhol, Andy Pop-Art Künstler im 20. Jh., der Staffelei und Farbpalette aus dem Fenster warf und mit seinen Ideen in eine Fabrik einzog (→ Fordismus). Von W. ist die Aussage berühmt geworden: „I love to do the same thing over and over again“ (→ Campbell Soup Company, → Postmoderne, → Wiederholung).
Werther Hauptfigur aus → Goethes berühmtem Briefroman von 1774, die sich von der Idylle der Natur und der Natürlichkeit eines Mädchens zu einer Serie herzzerreißender Beschreibungsversuche unwiederhol- und zu Werthers Leidwesen undarstellbarer Augenblicke verleiten lässt (→ Kopie, → Original).
Wiederholung Im Theater eines der wichtigsten Forschungsobjekte. → S. Becketts Formel „Das Gleiche noch mal anders“ bringt die Schwierigkeit auf den Punkt: Damit eine Szene im jeweiligen Jetzt funktioniert, muss sie wiederholt und zugleich völlig neu erfunden werden.
Wiederholungszwang Von Sigmund Freud erstmals ausbuchstabierte und später von Jaques Lacan auch „Automaton“ genannte gespenstische menschliche Eigenart, Schmerz auslösende Gedanken, Handlungen, Träume oder Szenen immer und immer wieder zu wiederholen – z.B. im Konflikt-, Konsum- oder Suchtverhalten sowie bei der Partnerwahl.
Witzischkeit kennt keine Grenzen Schunkelfähiger Ohrwurm, der die gleichnamige Fernseh-Show in Hape Kerkelings Film Kein Pardon (1993) eröffnete. Gesungen von Showmaster Heinz Schenk als Showmaster Heinz Wäscher. Zeitlose Metapher für die Samstagabend-Amüsierhöllen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen des 20. Jahrhunderts.
Zeit Jenseits der Frage, ob sie nun an sich existiert oder nur ein Produkt unseres vergänglichen irdischen Bewusstseins ist (die Philosophen haben sich darüber die Köppe eingehauen), muss man doch vermuten, dass ihr Empfinden körperlich bedingt ist: Einer Raupe etwa wird unser → Alltag vorkommen wie ein Film in 64facher Geschwindigkeit. Wer Mitgefühl für singende Raupen entwickeln will, sollte das berücksichtigen (→ Zuschauer).
Zitatrecht Die Erlaubnis, unter Angabe der Quelle gemäß §63 deutsches UrhG, wörtlich übernommene Textstellen in eigenen Arbeiten zu wiederholen, sofern diese Arbeiten eine eigene ‚Schöpfungshöhe’ aufweisen. Wird allgemein begründet mit der kulturellen Weiterentwicklung einer Gesellschaft (→ Guttenberg, Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu, → Hegemann, Helene, → The Grey Album).
Zombies im Kaufhaus (auch: Zombie oder Dawn of the Dead) Kultfilm von George A. Romero (1978), in dem sich vier Menschen in einer Shopping-Mall vor eindringenden Zombie-Massen verschanzen. Unvergessen ist die Mutmaßung der Bedrohten, dass die Untoten einem → Wiederholungszwang erliegen und an jenen heiligen Ort zurückkehren, zu dem es sie auch zu Lebzeiten am heftigsten hinzog (→ Freiheit).
Zott „Die Genuss-Molkerei“ mit „Leidenschaft für Milch“, Expertise für Käse- und Joghurtspezialitäten und mit Stammsitz in Mertingen, Bayern (→ Fetisch). Reimt sich auf → Gott.
Zuschauer Sollte sich bei Vorstellungen vom → Goldenen Zeitalter die → Freiheit nehmen, bei zwischenzeitlicher → Erschöpfung den Saal zu verlassen und nach ein paar Dehnübungen mit Bierchen oder Wässerchen wieder an seinen Platz zurückzukehren.
Zwerge auf den Schultern von Riesen Selbsteinschätzung von Künstlern oder Wissenschaftlern mit Benehmen, die den eigenen Weitblick mit der Genialität ihrer Vordenker erklären.
Adam Erster → Mensch, geschaffen aus Erde und Gottes-Atem. Zunächst geschlechtsloser Gärtner im → Garten Eden. Nach unerlaubtem Fruchtgenuss und Versteckspiel mit Gott später erster Feld-Arbeiter. Zeugte mit seiner Frau → Eva Kain, Abel u.a. Gilt in der jüd.-chr. Tradition als Stammvater aller Menschen. Verstarb im Alter von 930 Jahren.
Ein herzliches Dankeschön für die tatkräftige Unterstützung beim Verfassen geht an Hannah Sophie Martell und Matthias Seier.