Das Moersfestival erfindet sich neu


TALIBAM! BIG IMPAKT nennt sich die Spontanformation aus 9 Schlagzeugern und einem Synthesizer, die am Pfingstmontag um 21 Uhr nochmal ordentlich Alarm macht. Ein Tsunami aus Rythmus und Energie gibt einem erschöpft-aber-glücklichem Publikum in der Moerser Festivalhalle (die der örtliche Stromversorger stilsicher in ENNI.eventhalle umgetauft hat) für eine halbe Stunde den ersehnten Rest, bevor Festivalleiter Tim Isfort noch rasch ein paar Abschiedworte los wird: „Tschüss, bis zum nächsten Jahr.“ Eine recht lapidare Ansprache angesichts der Tatsache, daß soeben eins der bemerkenswertesten Moersfestivals der letzten Jahre zuende gegangen ist. Eine Rettung in letzter Sekunde, könnte man auch sagen – und der Patient ist bester Laune. Von unserem Gastautor Matthias Heße.

Der Reihe nach: 1972 als Internationales New Jazz Festival Moers an den Start gegangen, erobert sich das Pfingstevent rasch den Ruf als eines der wichtigsten Festivals für Free Jazz überhaupt. Auch wenn es aus konservativen Kreisen der Moerser Bürgerschaft permanente Anfeindungen ob des atonalen Krachs, der kiffenden Hippies, der Müllberge und nicht zuletzt des städtischen Zuschusses wegen ausgesetzt ist, spült es einmal jährlich internationales Renomee in das sonst eher verschlafene Städtchen westlich von Duisburg.
2006 kommt es dann zum Bruch des Gründers Burkard Hennen mit dem Kulturdezernenten, der Kölner Rainer Michalke übernimmt das Ruder. Da hat das Fachblatt Jazzthetik Moers schon längst als „alten Sack“ abgekanzelt, was dem Zustrom der Besucher und aufregenden Line-ups aber keinen Abbruch tut. Doch als die Förderung der Stadt im Zuge der Haushaltskonsolidierungen 2014 um ein gutes Drittel wegbricht, muß das „Jazz“ in eine ehemalige Tennishalle umziehen, um Kosten bei der Infrastruktur zu sparen.
Den Verlust an Volksfeststimmung um die alte Zeltbühne herum kann das Festival nicht wieder einholen – Programm und der Zuspruch beim zahlenden Publikum sind ungebrochen gut, doch in den Augen der Stadtbevölkerung ist das Ding ziemlich sang- und klanglos abgenippelt. Dazu kommen weitere finanzielle Engpässe, Michalke wirft hin.

Der Bassist und Ex-Traumzeit-Chef Tim Isfort übernimmt 2017 kurzfristig und strickt mit heißer Nadel das Moersfestival um, damit es überhaupt stattfinden kann. 2018 jetzt also ein amtlicher Neustart, und was sich bereits im Vorjahr andeutete, bestätigt sich: Isfort und sein Team haben sich nicht lange mit Renovierungsarbeiten aufgehalten, sondern gleich ein neues Fundament gegossen. „Verwalten wir nur eine Idee von 1972 oder wollen wir mehr?“, das war die Frage.

Vier sonnige Tage mit überbordendem, kontrastreichem Programm gaben die Antwort: Die junge Französin DOMi an Flügel, Laptop, Keyboard und ihr Partner Bobby Hall an Hammond und Percussion grooven und jazzen derart virtuos, energetisch und unverschämt unbefangen, als hätte das Genre noch nie ein Stäubchen angesetzt.
Josephine Bode an diversen Blockflöten in Kollabaration mit Ethan Everson (Piano) und Dodo Kis (ebenfalls Flöte) durchreisen in einem einstündigen Freiflug bizarre Klangwelten; Richard Dawson zerschreddert mit seiner Band, einer Art Anti-Kellyfamily, verstörend-schönen Celtic Folk; Bram Stathouders steuert per MIDI und Gitarre eine gigantische Kirmesorgel; dem Duo ZA! aus Barcelona gelingt es, mit schrägen Klängen und merkwürdigen Rhythmen auch die steifste Hüfte zum Tanzen zu bringen. In Moers ist alles möglich, das hat auch der Rolling Stone erkannt.

Neu ist: Die Zäune zwischen Haupt- und Nebenprogramm sind vollkommen eingerissen. Geheimes Herzstück des Festivals, die frei improvisierte Sessions mit unterschiedlichsten Musikern und Musikerinnen rutschen auf die große Bühne, es gibt intime Konzerte in Ladenlokalen in der Innenstadt, DJ-Sets im Freizeitpark, Fake-Bands mit Geheimfreibier, Konzerte unter Wasser im Hallenbad, hochkarätige Besetzungen zur Mitternacht in der Kirche. Die vier Tage Festival sind mit soviel Programm gespickt, daß niemand je alles hören kann – dafür shuttelt eine Bimmelbahn die Gäste zu den unterschiedlichen Orten. Daß einige Top-Acts aus der Halle dann nochmal umsonst und draußen zu hören sind, versöhnt dann auch die Moerserinnen und Moerser ohne Ticket endgültig mit ihrem Festival. Plötzlich feiern Menschen die fordernden Sounds von Spinifex (Niederlande), die noch beim Frühstück über dat kranke Zeugs gelästert haben – Volksfest is back again, und zwar besser denn je.

Die Begeisterung, Energie und Lebensfreude ist dieses Pfingsten groß und überall in Moers spürbar wie seit Jahren nicht mehr, kritische Stimmen sind natürlich ebenfalls zu hören. Nicht jedem paßt das Wagnis, das Festival so großzügig für andere Genres zu öffnen. Selbst wenn als Konstante bleibt, daß man hier alles zu hören bekommt, was man sonst nicht hört (und vieles exklusiv nur hier), ist diesem das Programm zu chaotisch, jene stößt sich an der jungenhaften Flapsigkeit, mit der es präsentiert wird. Doch Moers kann nur richtungsweisend bleiben, wenn es kein „alter Sack“ ist, und über diesen Verdacht ist es ab sofort eindeutig erhaben.

Der Innenhof des Moerser Schlosses, der Ort, an dem in den Siebzigern alles begann. Zur Zeit ist hier Baustelle, schicker soll es werden. Festival-Urgestein Peter Brötzmann beackert sein Saxophon und sorgt für nostalgischen Gänsehaut – nicht nur bei den wenigen Menschen, die hier rein passen, auch bei den zahlreichen Zaungästen. Und weil Tim Isfort sich erinnert, wie er als Kind selbst Zaungast beim Internationalen New Jazz Festival Moers war, sind Zäune auf dem Gelände allgegenwärtig. Bunt bemalt. Als Wegweiser, nicht als Grenzen.

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