Johan Simons, künstlerischer Leiter der Ruhrtriennale, stellte Anfang dieser Woche gemeinsam mit seinen Dramaturgen das Programm 2015 vor. Von Mitte August an wird das Festival mit Musiktheater, Schauspiel, Musik, Tanz und Installation nicht nur ein umfassendes Spektrum der Künste zeigen, sondern auch ein „Festival der Meinungen und der Verschiedenheiten“ sein. Viele wird freuen, dass dieses Jahr dem Schauspiel wieder Raum gegeben wird. Unter dem Leitmotiv „Seid Umschlungen“ werden drei Weltpremieren zu sehen sein. Von den etwa 140 Veranstaltungen werden über 30 Eigen- und Koproduktionen aufgeführt, darunter zahlreiche Neuproduktionen. Besonders auftrumpfen kann das Festival mit außergewöhnlichen Spielstätten, zu denen die alte Zeche Lohberg, der Duisburger Eisenbahnhafen und die Jahrhunderthalle in Bochum zählen. 2015 wird es zudem einen neuen Schwerpunkt auf ein innovatives Musikprogramm „Remix“ geben: Pop und elektronische Musik sollen auch jüngeres Publikum zur Ruhrtriennale locken.
Für Intendant Johan Simons sind die Spielorte an den alten Industriestandorten des Ruhrgebietes nicht nur ein schönes Ambiente, für ihn sind sie zentraler Bestandteil der Ruhrtriennale. Das Programm der diesjährigen Ruhrtriennale ist überraschend vielfältig und bietet neben Oratorien, Schauspiel und modernen Tanztheater, auch Musik- und Tanzabende mit Legenden der Elektro- und Popszene, wie The Notwist und Mouse on Mars. Eine Hommage an den legendären „Godfather“ of Minimal Music, Terry Riley, wird unter anderem von Ex-Battles Frontmann Tyondai Braxton gestaltet. Arne Deforce und Mika Vainio bieten finnische Experimental-Elektromusik, unbestrittener Höhepunkt wird jedoch gleich zu Beginn der Ruhrtriennale das Elektro-Fest „Ritournelle“ sein. Bis zum Morgengrauen werden DJ-Sets und Konzerte das gesamte Gelände der Jahrhunderthalle Bochum bespielen. Mittelpunkt bildet das Berliner Label City Slang. Zu Gast sind Künstler wie Caribou und Barnt. Der Essener Club Goethebunker produziert die Musikveranstaltung gemeinsam mit City Slang aus Berlin.
Mutige Experimente statt Komfortzone
Mutige Experimente, wie die Zusammenführung von Wagners „Das Rheingold“ mit Musik von Mika Vainio versprechen spannendes Musiktheater während der gesamten Spielzeit. Vainio ist einer der Künstler des finnischen Techno-Duos Pan Sonic. Neben U wie Unterhaltung wird es auch ernsthafte Themen geben. Simons machte deutlich, dass „Seid umschlungen“ doppeldeutig und doppelbödig ist. Umschlingen kann eben sowohl eine herzliche Umarmung, als auch ein einengendes, bedrängendes Erlebnis sein. Es gilt diese beiden Polen auszuloten. Simons will keine Komfortzone bieten: „Niemand weiß immer genau Bescheid über Richtung und Weg. Die Ruhrtriennale will nicht nur nett sein, sondern auch unangenehme Fragen stellen. Denn Kunst muss sich auch kritisch zur Gesellschaft äußern können und so ist unser Credo ist „Diese Freiheit ergreifen wir!“.
Johan Simons, den manche einen Theater-Berserker nennen, nimmt drei Schauspielproduktionen in sein Programm auf, die auf Romanvorlagen basieren. Fasziniert sei er, sagt Simons, von der Bildgewalt, der Sprachwucht und dem präzisen, gleichzeitig radikalen Ausdruck der Literatur von Marcel Proust, Émile Zola und dem Niederländer Louis Couperus.
Besonders gespannt kann man auf „Die Franzosen“ sein, die Umsetzung von Marcel Proust’s Jahrhundert-Roman ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ von Krzysztof Warlikowski. Der Roman beschriebt in langen Passagen die Schönheit, die nur durch genaues Beobachten erlebbar und wahrnehmbar wird. Zahlreiche Anspielungen und Assoziationen machen das Werk aus. Keine leichte Aufgabe also, daraus Theater zu machen. Regisseur Luk Perceval inszeniert Émile Zolas Roman „Die Rougon-Macquart“ und Ivo Hoves zeigt die Schauspieladaption von „Die stille Kraft“ nach Louis Couperus, einem der bekanntesten niederländischen Schriftsteller, der bis in die 30er Jahren auch in Deutschland populär war. Das Stück greift die aktuelle Spannung zwischen der westlichen und östlichen Welt und die Frage der „Werte des Abendlandes“ auf.
Zwei Höhepunkte: „Accattone“ in der Zeche Lohberg und „Das Rheingold“
Gleich zu Beginn der Ruhrtriennale wird deutlich, dass es Intendant Simons ernst ist mit dem Vorhaben, nah am aktuellen Geschehen zu sein. Die Eröffnung des Festspiels am 14. August, beginnt mit der visionären Debatte: „Die Zukunft der Arbeitslosen!“ Diskutiert wird über den Sieg oder die Niederlage einer Gesellschaft ohne Arbeit.
Dieses Thema wird auch in dem Eröffnungs-Stück „Accattone“ (Regie: Johan Simons) verhandelt, das auf dem Debütfilm des berühmten italienischen Filmregisseur Pier Paolo Pasolini basiert. Pasolini erzählt in dem Film von 1961 eine Geschichte mit Laiendarstellern über das „Subproletariat“ im Rom, das seinen eigenen Gesetzen folgt – eine moderne Geschichte. Spannend dabei ist, dass die Bewertung von Arbeit und Nicht-Arbeit bei den Protagonisten ganz anders ist, denn ein Bettler oder eine Hure sind bei Pasolini eigentlich die Höchsten in der Hierarchie. „Accattone“, mit Musik von Johann Sebastian Bach, wird ab dem 14. August 2015 in der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken gezeigt.
Mit Spannung kann man auch die Neuinszenierung von Richard Wagners „Das Rheingold“ erwarten. Regie führt Johan Simons, die musikalische Leitung übernimmt der griechische Dirigent Teodor Currentzis, ständiger Gastdirigent des SWR Sinfonieorchesters, der für die Aufführung sein Orchester MusicAeterna mitbringt. Currentzis hatte im letzten Jahr den Echo Klassik für die Operneinspielung von Mozart’s Figaro bekommen.
In Rheingold wird über die links-revolutionäre Auffassung von 1848 reflektiert, der auch Wagner anhing. Simons und Currentzis stellen die Frage: „Was können wir heute mit einer antikapitalistischen Botschaft und mit Wagners Idee eines ‚mythischen Erlebnisses‘ anfangen? Gezeigt wird das Stück in der Bochumer Jahrhunderthalle, die einige in ihren Dimensionen einer Industriekathedrale ein bisschen an die „Walhalla“ erinnert.
Höllenfahrten, Unterwelten und die Schöpfungsgeschichte
Ein Hauptmotiv der diesjährigen Ruhrtriennale sind die Unterwelten. Die ungewöhnliche Inszenierung „Orfeo“, wird von dem Ensemble Kaleidoskop nach Monteverdi aufgeführt. EIne ungewöhnliche Inszenierung des Klassikers: Alle Viertel Stunde haben die Zuschauer Zutritt zu einem „Musik-Parcours“. An den verschiedenen Stationen kann man Orpheus Versuch, Eurydike wieder zu gewinnen wortwörtlich miterleben. Das faszinierende Labyrinth der Mischanlage auf der Kokerei Zollverein bietet eine nahezu perfekte Spielstätte für das Stück der drei Regieseurinnen Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot.
Auch den verschiedenen Schöpfungsgeschichten widmet sich die Ruhrtriennale: Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ (Musikalische Leitung: René Jacobs) hat am 28. August Premiere. In das Szenenbild der Aufführung in der Kraftzentrale Duisburg wird eine simultan abgespielte Filminstallation eingebunden. Der Berliner Künstler Julian Rosefeldt reflektiert auf dieser zweiten Erzählebene Haydns idealistische Schöpfungsgeschichte und stellt sie der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts gegenüber. Das Oratorium, das auf John Miltons Vers-Epos „Paradise Lost“ und auf biblischen Psalmen beruht, setzt sich nicht nur mit der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte auseinander, sondern sieht das Musikstück als Ergebnis eines anthropozentrischen Weltbildes. Auch hier rückt der Mensch in den Vordergrund.
Ruhrtriennale als Talentschmiede und die Zuschauer mitten drin
Nicht nur alten Theater-Hasen bietet die Ruhetriennale eine attraktive Kunstplattform, sondern auch dem Nachwuchs wird eine große Chance geboten. Junge Kreative können sich an der Ausschreibung einer Masterclass für TheaterkünstlerInnen beteiligen. Zielgruppe sind Nachwuchskünstler, die noch in ihrer Ausbildung stecken oder am Anfang ihres Berufslebens stehen. Am Ende steht eine Aufführung unter dem Leitmotiv „Unter Welten“ im Rahmen des Campustriennale. Das Motto umfasst „Die verachteten und Verstossenen, das Vergangene. Das Verborgene und Verschüttete“. Spielorte werden der Ringlokschuppen Ruhr, das Schauspielhaus Essen und das Theater Oberhausen sein. Junge Künstler können sich zudem an Ausstellungen beteiligen. In leeren Schaufenstern in Duisburg, Dinslaken und Bochum werden ihre Werke während der Ruhrtriennale präsentiert.
Wer Theater nicht nur vor der Bühne, sondern auch dahinter erleben will, kann sich bei der Ruhrtriennale ab April als Statist bewerben. Rund 1000 Laien werden gesucht. Auch in dem „Festivaldorf“ sind die Besucher mitten drin. Das niederländische Atelier van Lieshout wird das Festivaldorf The Good, the Bad and the Ugly aufbauen. Die Installation ist nicht statisch, sondern soll ein lebendiger und chaotischen Ort für Künstler, Besucher, Festivalmacher und alle Neugierigen sein. In den Kunst-Datschen darf auch übernachtet werden.
Am Ende der Programmvorstellung betont Johan Simons: Es wird nicht nur tolle Kunst geben, sondern auch „gute Getränke und gute Gespräche“. Einer der besonderen Gelegenheiten zu Gesprächen bietet „Johans Saloon“. Dort will Simons nicht nur durch sinnlich wahrnehmbares Theater, Tanz und Musik seinen Zuschauern nahe kommen, sondern auch durch Gespräche. Das Programm in seiner Gesamtheit verspricht tatsächlich ein „Festival der Meinungen und der Verschiedenheiten“ zu werden – kurz gesagt – ein Festival der Künste!
Karten: Im Online-Ticketshop oder bei der Ticket Hotline: +49 (0) 221 28 02 10
Termine Premieren: Accattone (Premiere 14.08.), Das Rheingold (Premiere 12.09.), Die Schöpfung (Aufführung 27.08.), Orfeo (Premiere 20.08.) oder Prometeo (Premiere 08.09.)
Ruhrtriennale-Team: Johan Simons (Intendant), Jan Vandenhouwe (Dramaturgie), Joep van Lieshout (Künstler, Gründer von Atelier Van Lieshout), Jeroen Versteele (Dramaturgie), Tobias Staab (Dramaturgie), Dorothea Neweling (Dramaturgie), Vasco Boenisch (Dramaturgie), Cathrin Rose (Dramaturgie)
Ich fühle mich mit „Seid Umschlungen!“ überhaupt nicht wohl. Diese Publikumsorientierung ist auch nicht mutig, sondern anbiedernd, eventlastig, primär eine Effekthascherei. Schade!
@Reinhard Matern. Die Kritik kann ich nicht ganz nachvollziehen. Es sind ja keine Mainstream-Geschichten. Und umschlungen sein meint nicht das Publikum umschlingen (anbiedern) . Ein Event ist aus meiner Sicht höchstens die Elektro- Nacht. Aber ich persönlich mags, wenn es nicht nur bierernste Kunst gibt, sondern eine gute Mischung aus E und U. Außer natürlich man sieht die ganze Ruhrtriennale als Event an…
@ Ulrike: Ich kann nur für mich sprechen. Und ich gelte unter Freunden als ein ziemlich verkopftes Tier 😉 Ein Volksfest benötige ich nicht. Mich interessieren vor allem Neuerungen in Literatur, Musik, (Wissenschaften und Analytischer Philosophie). Ich habe, obleich ich im Presseverteiler bin, aus Vorsicht die Finger von einem Artikel gelassen, aber ein (vielleicht ungerechter) Kommentar musste sein 😉
@Reinhard Matern: Kritik ist ja sowieso immer erlaubt. Aber ich finde tatsächlich, dass im Programm auch viele Produktionen enthalten sind, die – auch intellektuell – in die Tiefe gehen. In dem Artikel habe ich allerdings nur eine Auswahl angesprochen, denn die Fülle des Programms hätte nicht in 1 Artikel reingepasst… https://www.ruhrtriennale.de/de/produktionen