Der britische Publizist und Wissenschaftler Kenan Malik ist ein Kritiker der Identitätspolitik. Mit „Das Unbehagen in den Kulturen“ ist nun erstmals ein Buch von ihm in deutscher Übersetzung erschienen.
Wie Menschen sich selbst sehen und wie sie von anderen gesehen werden, ist entscheidend für den Zusammenhalt und die Entwicklung einer Gesellschaft. Adel, Bauern, Bürger und Klerus war lange eine gängige Unterscheidung der verschiedenen Gruppen. Im absolutistischen Frankreich gab es mit dem Adel, dem Klerus und Bauern und Bürgern drei Stände. Bürgertum und Arbeiter waren in kapitalistischen Gesellschaften, in denen Bauern, Adel und Pfarrer keine so große Rolle mehr spielten, die wichtigste Einteilung und das Deutschland der Wirtschaftswunderjahre bildete sich gerne ein, dass es auf dem Weg zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ sei, wie es ihm der Soziologe Helmut Schelsky Mitte der 50er Jahre sagte.
All diese Unterscheidungen blicken auf den Menschen als ein politisches und wirtschaftliches Wesen. Sie markieren seinen Stand in einer Gesellschaft und ermöglichen so, diesen und seine Folgen zu kritisieren: Wieso erwirtschaftete der dritte Stand den Wohlstand Frankreichs, den Adel und Klerus verjubelten? Wird sich das Bürgertum auf lange Zeit gegen die Arbeiterklasse behaupten können oder wachsen beide Schichten mit steigendem Wohlstand zusammen? Und wieso entscheiden die einen politisch mit und die anderen nicht?
Noch heute wirken diese Kategorien der Unterscheidung modern. Moderner jedenfalls als die heute übliche Unterscheidung der Menschen nach Kulturen. Dass die eine Gefahr für die Gesellschaft ist, beschreibt Kenan Malik in seinem Buch „Das Unbehagen in den Kulturen“. Er zeigt auf, wie Unterscheidungen nach Herkunft und Religion in den vergangenen Jahrzehnten in Großbritannien die Unterscheidung nach Klassen ablösten und beschreibt die Kämpfe junger Einwanderer. „In den 1960er und 1970er Jahren dominierten vier große Themen den Kampf um politische Gleichberechtigung: Der Widerstand gegen diskriminierende Einwanderungskontrolle, der Kampf gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz, der Kampf gegen rassistische Überfälle und – besonders explosiv – das Problem der Polizeigewalt. Diese Probleme. Jedes für sich und gemeinsam beinhalteten nicht die Forderung nach kultureller Identität, sondern die Forderung nach politischer Gleichbehandlung.“ Die, die nach Großbritannien kamen, wollten wie alle Briten behandelt werden. Das ist vorbei und Kenan Malik kritisiert das Konzept der multikulturellen Gesellschaft, in der die Herkunft entscheidend ist und gesellschaftliche Unterschiede zementiert und nicht mehr beseitigt werden sollen.
In Großbritannien begann diese Politik 1981, nachdem ein Schwarzer mit einer blutenden Wunde in einem Polizeiwagen festgesetzt worden war und die Beamten keinen Notarzt verständigten. Aus einem Handgemenge entwickelte sich ein Scharmützel, aus einem Scharmützel Unruhen, an denen bis zu 5000 Personen teilgenommen haben sollen und die schnell auf weitere Städte übergriffen. Als Reaktion auf die Unruhen wurde nicht etwa dafür gesorgt, dass die Polizei alle Bürger gleich behandelte, sondern es wurden Migrantenbeiräte gegründet. Sie waren von da an die Ansprechpartner der „weißen“ Politiker. Und mit dem Geld, das sie hatten, sorgten sie dafür, dass die Migranten sich immer als Migranten fühlten, festgelegt auf die Kultur und Sitten eines Landes, mit dem sie nichts mehr zu tun hatten. Der Blick der Politik änderte sich. Aus jungen, dunkelhäutigen, armen Jugendlichen wurden so Bangladeshis – und nur unter diesem Label konnten sie Hilfe erwarten. Malik schreibt, dass eine junge Frau heute keine Chance hätte, Geld für ein Förderprogramm für arme Jugendliche in ihrem Stadtteil zu bekommen. Erst wenn sie es als ein Programm für Muslime mit einem Einwanderungshintergrund aus Bangladesh bezeichnen würde, gäbe es eine Chance auf Unterstützung. Arm alleine sei schon lange keine Kategorie mehr, welche die Politik interessieren würde. Und weil die Gesellschaft in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Kulturen aufgeteilt sei, gäbe es auch keinen gemeinsamen Kanon an Werten mehr. Jeder „Kultur“ werden zunehmend eigene Regeln zugestanden.
Niemand will dem anderen mehr zumuten, sich an allgemeingültige Werte wie Gleichberechtigung zu halten. Auch die Unterdrückung von Frauen wird mittlerweile als Ausdruck kultureller Eigenart respektiert. Kenan Malik spricht sich gegen eine Angst vor den „Fremden“ aus, die von einer ethnischen Homogenität der Gesellschaften träumt, die es in Wirklichkeit nie gab, und ebenso ist er dagegen, alles unter dem Banner der Multikulturalität zu akzeptieren. Er will einen Dialog auf der Basis der Werte der Aufklärung, die für sich nicht westlich, sondern universell sind.
Kenan Malik
Das Unbehagen in den Kulturen
Edition Novo
Interessant! Ich werde mir das Buch besorgen, weil da jemand versucht, einen Weg vorzudenken, der die derzeitige Entwicklung der Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die mehr einer Erstarrung gleicht, neue Impulse zu geben.
Mit der ersten Hälfte des Artikel konnte ich wenig anfangen. Dass aber auch aktuell in D immer wieder Förderprogramme für bestimmte Gruppe aufgelegt werden, regt mich schon seit Jahren auf.
Warum müssen bspw. Kinder im Fernsehen als Teilnehmer eines Förderprogramms für sozial schwache gezeigt werden.
Lernförderung bzw. Förderung kann auch unabhängig vom sozialen Status notwendig sein.
Diese Einteilungen stigmatisieren.
Irgendwie sieht es danach aus, dass in einem Förderantrag einfach nur die Buzzwörter gezählt werden, ohne dass bewusst wird, welcher Schaden damit angerichtet wird.
Integration gelingt nicht, wenn möglichst viele versch. Merkmale gesucht und gefunden werden.