Das Versagen der UNO bei der Erdbebenhilfe für Syrien

Zerstörung nach dem Erdbeben in Syrien Foto: Tasnim Lizenz: CC BY 4.0

Die Erklärungsnot der internationalen Gemeinschaft, warum sie bei dem verheerenden Erdbeben Anfang des Jahres keine sofortige Hilfestellung geleistet hat, ist groß und wirft Fragen hinsichtlich ihrer Verantwortung auf. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.

Mit so etwas wie herkömmlicher Logik ist Syrien unter der Führung von Baschar al-Assad nicht wirklich zu verstehen. Was anderswo Machthabern nachträglich schaden würde, kommt dem syrischen Diktator am Ende sogar zugute. Das war so, als er etwa Giftgas gegen die eigene Bevölkerung einsetzen ließ und im August 2013 in den Ghoutas bei Damaskus über 1.500 Menschen kläglich zu Tode kamen.

Statt für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, begann damals ein Prozess, an dessen vorläufigem Ende die Wiederaufnahme in die Arabischen Liga steht. Aus dem Paria Assad wurde mithilfe Russlands ein Partner in einem Abkommen zur Vernichtung der

syrischen Giftgasbestände, die es eigentlich vorher ja gar nicht gegeben haben soll. Dass Assad sich auch an dieses Abkommen nachweislich nicht gehalten hat, spielt da ebenso wenig eine Rolle wie weitere Giftgaseinsätze in den Folgejahren.

Ganz ähnlich sieht es nun mit dem verheerenden Erdbeben aus, das die Osttürkei und Nordsyrien Anfang dieses Jahres verwüstete. Sofort eilten arabische und andere Staaten herbei, um Damaskus Hilfe zu leisten, wobei jeder Beteiligte ganz genau wusste und weiß, dass das syrische Regime extrem korrupt ist und sich seit Jahren schamlos aus UN- und anderen Hilfstöpfen für die Bevölkerung bedient. Das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung, so sie nicht zu erklärten Loyalisten des Regimes gehört, interessiert dieses bekanntlich wenig, weshalb es auch systematisch Krankenhäuser, Bäckereien, Schulen und andere zivile Infrastrukturen in Rebellengebieten bombardieren ließ.

Die größten Schäden richtete das Erdbeben in Idlib und Nord-Aleppo an, zwei Gebieten, die bis heute außerhalb der Kontrolle des Regimes stehen und von diversen islamistischen und anderen Milizen, teils von der Türkei unterstützt, beherrscht werden, und in Afrin, in das die türkische Armee 2018 einmarschiert ist. Nun war von Anfang an klar, dass der syrische Staat seiner internationalen Verpflichtung, Zugang zu allen betroffenen Menschen im Land zu ermöglichen, nicht nachkommen würde, denn in Assads Augen ist jeder in Syrien, der außerhalb seines Zugriffs lebt, ein Terrorist.

Jede Organisation, die dort Hilfe leistet, unterstützt dieser Logik zufolge Terroristen. Arbeitet sie auch im Rest Syriens, droht ihr der Verlust aller Genehmigungen, denn das syrische Regime nutzt laut der Menscherechtanwältin Sara Kayyali seine »Souveränität, um humanitäre Akteure zu bestrafen, die als widerspenstig gegenüber den Regierungsvorgaben angesehen werden.«

»Ausländischen humanitären Helfern wurde in der Vergangenheit häufig das Visum verweigert oder nicht verlängert, wenn die Organisationen, für die sie arbeiteten, in von der Opposition kontrollierten Gebieten tätig waren oder Missstände durch die Regierung anprangerten. Ganze Organisationen, die in von der Opposition gehaltenen Gebieten arbeiteten und die Verbrechen der Regierung offen anprangerten, wurden als Terroristen abgestempelt.«

Versagen der UNO

Bekanntlich ist die UN als suprastaatliche Organisation verpflichtet, mit Regierungen zu kooperieren, auch wenn diese brutale und mörderische Regime sind und nur Teile ihres Territoriums kontrollieren. Seit Jahren steht die Weltorganisation deshalb für ihre Syrienhilfe in der Kritik, und auch nach dem Erdbeben war sie offenbar unfähig, schnell und effizient zu reagieren. Schon im März wurden deshalb Fragen laut, weshalb die UNO derart langegebraucht habe, um überhaupt aktiv zu werden:

»Die Verzögerungen seitens der UNO bei der Bereitstellung lebensrettender Hilfe für die syrischen Opfer des verheerenden Erdbebens im vergangenen Monat waren unnötig«, so Rechtsexperten gegenüber der BBC. Laut ihnen hätten die Vereinten Nationen nicht auf die Erlaubnis der syrischen Regierung oder des Sicherheitsrats warten müssen und eine breitere Auslegung des Völkerrechts anwenden können.

Es dauerte eine Woche, bis die UNO die Genehmigung des syrischen Präsidenten erhielt, zusätzliche Grenzübergänge zu öffnen, um den Zugang zum von der Opposition kontrollierten Nordwesten zu ermöglichen. Die UNO selbst erklärte, es sei von entscheidender Bedeutung, die Opfer des Erdbebens innerhalb von 72 Stunden zu retten, bestritt aber die Feststellungen der BBC, dass sie anders hätte handeln können. Dies läge, so ein Sprecher der UN, an der fehlenden Zustimmung seitens der Regierung in Damaskus.

Allerdings zog dieses Argument selbst innerhalb der engen Grenzen, die UN-Agenturen gesetzt sind, diesmal laut Ansicht internationaler Rechtsexperten nicht: Marco Sassoli, Sonderberater des Anklägers am Internationalen Strafgerichtshof, sagte, dass die Genfer Konventionen – die Grundlage des humanitären Völkerrechts – einen Rahmen für die UNO bieten, um Hilfe zu leisten, ohne die Erlaubnis Syriens einholen zu müssen. ›Die Genfer Konventionen, denen Syrien beigetreten ist, enthalten eine Bestimmung, die besagt, dass eine unparteiische humanitäre Einrichtung allen Konfliktparteien ihre Dienste anbieten kann‹, betonte er gegenüber BBC.«

Syrischer Zivilschutz einzige Hilfestellung

Dass sie in einem solchen Notfall ein klares Mandat hätten, auch ohne Einwilligung der syrischen Regierung dringend nötige Hilfsteams nach Nordsyrien schicken zu können, schien die zuständigen Vertreter der UN in Damaskus nicht weiter zu interessieren. Erfahrungsgemäß haben nach einem Erbeben nur jene Verschütteten eine Überlebenschance, die binnen der ersten drei Tage gefunden werden. Kurzum, wie Hanny Megally, Mitglied einer Independent Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic gegenüber Reuters erklärte: »In einem Notfall wartet man nicht auf eine Erlaubnis, um zu handeln, und das war es, was uns schockiert hat.«

Es wurde aber gewartet. Letztendlich gelangten gar keine UN-Rettungsteams nach Idlib oder Aleppo. Diese Aufgabe blieb dem syrischen Zivilschutz White Helmets überlassen, der Tag und Nacht das Unmögliche versuchte, um möglichst viele Leben zu retten. »Die Freiwilligen retteten 2.950 Menschen aus den Trümmern und bargen die Leichen von 2.172 Menschen an 182 Stellen.« Dies taten sie ohne Hilfe der UNO, wie Raed al-Saleh, Chef der Organisation, kritisiert:

»Im Nordwesten Syriens mussten wir tun, was wir mit der begrenzten vorhandenen Ausrüstung und den wenigen Arbeitskräften tun konnten. Lassen Sie es mich klar sagen: Die Weißhelme haben in den kritischsten Momenten der Rettungsmaßnahmen keine Unterstützung von den Vereinten Nationen erhalten, und auch jetzt haben wir keine Zusage für eine Unterstützung, um unsere Einsatzfähigkeit wiederherzustellen und bei den Wiederaufbau- und Rehabilitationsmaßnahmen zu helfen. Nach dem Erdbeben dauerte es vier Tage, bis internationale Hilfsgüter über den einzigen für UN-Hilfslieferungen zugelassenen Grenzübergang Bab al-Hawa nach Nordwestsyrien gelangten.

Die erste Lieferung mit Zelten, Unterkünften und grundlegenden Gütern war bereits vor dem Erdbeben geplant gewesen. Es gab nichts, das uns bei unseren Rettungsbemühungen helfen konnte. (…) Das Versagen der UNO, auf diese Katastrophe schnell zu reagieren, ist beschämend. Als ich bei der UNO nachfragte, warum die Hilfe nicht rechtzeitig ankam, erhielt ich als Antwort: Bürokratie. Angesichts einer der tödlichsten Katastrophen, welche die Welt seit Jahren heimgesucht hat, waren der UNO anscheinend die Hände durch Bürokratie gebunden.«

Statt der benötigten Hilfe gab es ein paar bedauernde Worte. Auf Twitter erklärte Martin Griffiths, Koordinator für Nothilfeeinsätze der UNO: »Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen. Sie fühlen sich zu Recht im Stich gelassen. Sie hofften auf internationale Hilfe, die nicht angekommen ist.«

Ganz anders sah es hingegen in den vom Regime kontrollierten Gebieten aus: binnen kürzester Zeit waren dort UN-Rettungsteams im Einsatz. Wäre solche Hilfe auch in den Norden gekommen, ist sich Fadel Abdul Ghany, Vorsitzender des Syrischen Netzwerks für Menschenrechte, sicher, hätten Dutzende Leben mehr gerettet werden können: »Die Vereinten Nationen haben hier fahrlässig gehandelt. Das ist unverständlich, ungerechtfertigt, unmoralisch und illegal.«

Geschenk für Assad

Mit den Millionen, die nach Syrien überwiesen wurden, betrieb das Regime den üblichen Schindluder: Wie diese Gelder verwendet wurden und werden, ist bestenfalls intransparent, wie Natasha Hall unterstreicht, die sich jahrelang mit den Auswirkungen humanitärer Hilfe in Krisenregionen befasst hat. Von Zelten, die auf dem Schwarzmarkt zum Verkauf angeboten werden, erzählten Menschen aus Syrien ebenso wie davon, dass »es bereits viele Berichte darüber gibt, wie Regierungssoldaten einschränken, wer Hilfe bekommt. Es gibt auch solche über den Verkauf von Hilfsgütern auf dem Markt, was sehr typisch ist. Und es gibt Berichte über vom Iran unterstützte Milizen, die wieder in Aleppo einmarschieren – eine Stadt, die sie belagert hatten –, aber dieses Mal Hilfsgüter verteilen.«

Man sei also mit einer Situation konfrontiert, »in der zig Millionen Dollar in ein Katastrophengebiet fließen, in diesem Fall in ein Gebiet, in dem es noch viele andere Probleme gibt. Gibt es dafür keine wirklich guten Kontrollmechanismen, ist unklar, ob die Menschen die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Und es ist ebenso unklar, ob die Aufgabe von Druckmitteln in dieser Zeit zu mehr Stabilität in Syrien oder der Region führen wird.«

Zu Recht kritisiert Natasha Hall, dass es keinerlei Auflagen gab, wie Syrien die Hilfsgelder zu verwenden habe, wie es ebenso völlig an jedweder Kontrolle mangle: »Der größere Rahmen ist, wie viele Länder bereit waren, den Trend zur Normalisierung mit dem Regime zu beschleunigen oder zumindest die Räder der Normalisierung zu schmieren. Es gab viele Länder, die bereit waren, auf den Zug zur Normalisierung aufzuspringen, wenn sie es nicht schon zuvor getan hatten. (…) Das Problem hier ist, dass es keine Leitlinien und keine Vorgaben bei diesen Gesprächen zu geben scheint.«

Für Assad war das Erdbeben, das Zehntausende Syrerinnen und Syrer in noch größere Not stürzte, de facto also eine Art Geschenk. Nicht etwa geriet er für das komplette Missmanagement nach der Katastrophe – es dauerte Tage, bis er sich beispielsweise in den betroffenen Gebieten überhaupt zeigte – in die Kritik, sondern konnte den Normalisierungsprozess mit den Nachbarstaaten sogar noch beschleunigen, den er seit Langem anstrebt. Erneut musste er nichts tun, ja, nicht einmal irgendeine Veränderung versprechen, um in Riad von seinen Amtskollegen der Arabischen Liga empfangen zu werden. Und auch in Europa würden einige Regierungen zu gerne vergessen, welche Verbrechen auf das Konto des syrischen Regimes gehen und zum Business as usual zurückkehren.

Für Assad und seine Unterstützer in Teheran und Moskau, ohne die er keine Woche überleben würde, zeigt sich einmal mehr, dass seine Politik von Erfolg gekrönt ist; alles Gerede über Menschenrechte, Staatsverbrechen und Ähnliches im Westen war und ist nämlich gar nicht so gemeint: Wenn es darauf ankommt, verstößt die UN sogar in Syrien gegen geltendes internationales Recht und lässt lieber Menschen sterben, als sich mit Assad anzulegen – unter anderem auch, weil er jederzeit die wenigen Grenzübergänge in die Türkei für UN-Hilfslieferungen schließen lassen kann. Dafür muss nur Russland, das weiterhin im UN-Sicherheitsrat sitzt, aktiv werden.

So gesehen, hat sich die selbsternannte internationale Staatengemeinschaft de facto zur Geisel des Damaszener Regimes gemacht und ihm ein effektives Machtmittel in die Hand gedrückt, denn Millionen von Syrern sind völlig von Nahrungsmittelhilfen abhängig. Humanitäre Hilfe ist nämlich längst nicht nur ein Politikum, sondern auch eine Waffe, die Despoten, Autokraten und Warlords sehr effizient einzusetzen verstehen.

Der Artikel erschien bereits auf Mena-Watch

 

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