Eine Arte-Dokumentation zeigt, wie Europa trotz einzelner herausragender Unternehmen bei der KI-Revolution droht abgehängt zu werden.
“In vielen, vielen Jahren werden wir zurückblicken und erkennen: Das war der Moment, in dem sich alles verändert hat”, sagt zu Beginn der Arte-Dokumentation “Schlaue neue Welt – Das KI-Wettrennen” der chinesische Schriftsteller Chen Qiufan. Nachdem das US-Unternehmen OpenAI im November 2022 ChatGPT 3.0 für die Öffentlichkeit freigab, ist Künstliche Intelligenz ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Seitdem sind zahlreiche weitere generative KI-Modelle herausgekommen. Die Leistungsfähigkeit dieser Systeme nimmt rasant zu. Dem heute aktuellen ChatGPT 4.0 soll bald die Version 5.0 folgen. Hunderte von Millionen nutzen diese Technologie heute schon im Alltag. Sie verfasst zunehmend Texte, die in Medien veröffentlicht werden, erstellt Bilder und Videos nach Sprachbefehlen und ist ein Konversationspartner, mit dem man einfach auch Spaß haben kann. Was wir heute sehen, sind nur die Anfänge einer technologischen Revolution, die unseren Alltag auf jeder Ebene verändern kann. Sie besitzt viele Chancen und ist natürlich nicht risikolos. KI kann, wie in China, zur Überwachung eingesetzt werden, Millionen Jobs kosten, aber in Verbindung mit Robotik auch das Problem des Mangels an Pflegekräften lösen oder die Produktivität erhöhen, indem sie die Menschen von lästigen, sich wiederholenden Aufgaben befreit oder auf neue Ideen bringt. Vielleicht erleben wir auch die Entstehung einer von Menschen geschaffenen, intelligenten Art auf diesem Planeten, mit der wir, wenn es gut läuft, in Zukunft zusammenleben werden. Wie es ausgehen könnte, wenn es schlecht läuft, kann seit Jahrzehnten in Hunderten von Science-Fiction-Romanen nachgelesen werden. Die Veränderungen, die auf uns zukommen, da sind sich alle einig, die in der Arte-Doku zu Wort kommen, werden größer sein als bei der industriellen Revolution vor über 200 Jahren oder dem Aufkommen des Internets vor gut 30 Jahren.
“Schlaue neue Welt – Das KI-Wettrennen” gibt die Lage Ende des vergangenen Jahres wieder und zeigt, wo die drei großen Wirtschaftsräume USA, China und Europa im Wettbewerb gegeneinanderstehen. Wissenschaftler, Journalisten, Politiker und Unternehmer kommen zu Wort, geben ihre Einschätzung, reden über Chancen und Risiken. Sie beschreiben eine Welt, in der eine Revolution begonnen hat, deren Folgen unabsehbar sind, die aber ganz sicher das Leben der Menschen für immer verändern wird.
Einer von ihnen ist Jonas Andrulis,der Gründer und Chef von Aleph Alpha. Ihm war vor einem Jahr klar, dass sich in den kommenden 12 Monaten entscheiden wird, wer in dem Rennen mithalten kann oder auch nicht, in dem es um Jobs, Technologieführerschaft, Macht und militärische Überlegenheit geht. Aleph Alpha ist es gegen Ende des Jahres gelungen, 500 Millionen Euro an Investorengeldern einzusammeln und Kunden in der Industrie und der Verwaltung zu gewinnen. Es ist auf dem Weg, die deutsche Staats-KI zu schaffen, der auch Behörden vertrauen. Das Unternehmen bietet seinen Kunden eine KI, die mit ihrem eigenen Datenbestand trainiert wird, damit sie sicherer ist und an die eigenen Bedürfnisse angepasst werden kann. KI in der Tradition der deutschen Industrie, die sich ja auch auf hochwertige Speziallösungen und, mit Ausnahme der Automobilindustrie, nicht auf den Massenmarkt konzentriert. Aleph Alpha ist so etwas wie ein digitaler Maschinenbauer. Und es ist ein mittelständisches Unternehmen, das schon heute keine Chance mehr hat, zu den ganz großen aufzuschließen. 500 Millionen Euro sind viel Geld, aber Microsoft hat in OpenAI, dem Unternehmen, das ChatGPT entwickelt hat, 10 Milliarden Dollar investiert. Und während Aleph Alpha Rechenzentren in Zusammenarbeit mit der US-Computerlegende Hewlett Packard aufbaut, plant Microsoft gemeinsam mit OpenAI den Bau eines Rechenzentrums für 100 Milliarden Dollar. Die Summe ist höher als die Marktkapitalisierung der meisten DAX-Unternehmen: Mercedes-Benz, BMW und die Münchener Rück sind deutlich weniger wert als die Investitionssumme, die Microsoft in Rechenzentren steckt.
Trotzdem ist sich Han Xiao, der 2020 das KI-Unternehmen Jina AI mit Hauptsitz in Berlin und Büros in Shenzhen und Peking gründete, sicher, dass am Ende China und nicht die USA den Markt dominieren wird. Auf einer Konferenz in China seien an nur einem einzigen Tag 30 neue KI-Systeme vorgestellt worden. Große Konzerne wie Baidu, das chinesische Google, waren ebenso dabei wie Startups und mittelständische IT-Unternehmen. Die Grundlage des chinesischen KI-Booms, erklärt er, wurde von Microsoft gelegt, das dort sein größtes Entwicklungszentrum außerhalb der USA betreibt. Viele Gründer chinesischer KI-Unternehmen haben dort ihre Karriere begonnen.
Ruhig, aber eindringlich und kenntnisreich, beschreibt die Dokumentation den Aufstieg einer neuen Technologie, bei der, und das wird sehr deutlich, Europa heute schon abgehängt ist. Neben mangelndem Kapital hat Wirtschaftsminister Robert Habeck einen wichtigen Grund für diese Entwicklung verstanden: „Wir sind der Wirtschaftsraum, der, was die Regulierung betrifft, immer vornweg dabei ist“, sagt er über Europa in der Dokumentation. „Und natürlich verbindet sich damit ein bisschen die Sorge, dass man zu viel Kreativität aus dem Markt nimmt. Was die Regulierung betrifft, sind wir besser in Europa als was das Inverkehrbringen von Technik angeht. Leider.“
Ein Beispiel dafür ist der vom Europaparlament beschlossene AI-Act. Zwar sind sich auch die US-Unternehmen sicher, dass eine Regulierung der KI notwendig ist. Bill Gates, Elon Musk, Mark Zuckerberg und Sam Altman, der Chef von OpenAI, haben die Regierungen immer wieder aufgefordert, KI zu regulieren. Sundar Pichai, der CEO von Google und Alphabet, erklärte, das EU-KI-Gesetz sei ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass KI auf eine Weise entwickelt und genutzt wird, die der Gesellschaft insgesamt zugutekommt. Aber die USA haben die europäischen Regeln nicht übernommen.
Denn die EU hat mit dem AI-Act eine umfassende Regulierung der Künstlichen Intelligenz beschlossen, die sehr regulativ ist und großen Wert auf den Schutz der Bürgerrechte und die ethischen Aspekte der KI-Nutzung legt. Ähnlich wie bei der Datenschutzgrundverordnung setzt die EU eher auf strenge Regulierungen. Die USA setzen hingegen eher auf freiwillige Maßnahmen und Leitlinien für die Entwicklung und Nutzung von KI. Ein Beispiel dafür ist die “AI Executive Order”. Sie fordert ein Risikomanagement in Bereichen wie Cybersicherheit, Biosicherheit, Datenschutz, Bürgerrechte, Diskriminierung sowie Auswirkungen auf die Arbeitswelt und fördert öffentlich-private Partnerschaften für KI-Innovation und leitet Maßnahmen zur Unterstützung der KI-Forschung ein. Die Europäer sehen vor allem die Risiken, die USA eher die Chancen.
Aber Habeck scheint gelernt zu haben: Der strenge AI-Act der EU wurde mittlerweile auf Druck Deutschlands und Frankreichs gelockert, wobei Unternehmen wie Aleph Alpha und Mistral aus Frankreich wohl ihren Regierungen klar machen konnten, dass nichts gewonnen wäre, wenn Europa im weltweiten Wettbewerb durch seine Regulierungsfreudigkeit noch weiter zurückfallen würde. Sie werden nun weniger streng reguliert als ursprünglich vorgesehen. Ob das ausreicht, um Europa im KI-Spiel zu halten? Schon heute verlassen Tech-Talente den Kontinent und gründen ihre Unternehmen in den USA, wo die Regeln lockerer, die Gehälter für Experten höher und die Investitionen in Startups in vollkommen anderen Dimensionen bewegen. Und ist die risikoscheue und bürokratische EU dabei, den Anschluss bei einer Technologie zu verlieren, die künftig entscheidend dazu beitragen wird, welche Weltbilder verbreitet werden? Denn auch das werden die KI-Systeme tun: Wer sie programmiert, hat Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen. China hat das verstanden und setzt alles daran, dass sein autoritäres Weltbild nicht unter Druck gerät. Zum Glück halten die USA bislang erfolgreich dagegen, während Europa seine Chancen durch seinen Bewahrungswillen zu verspielen droht.