Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass ein Verbot der Vollverschleierung zulässig ist. Das freut natürlich alle, denen südländische Menschen auch ohne Schleier schon unheimlich sind. Je nach Rechtfertigungsstrategie wird dieses Verbot nun als Siegeszug der Integration gefeiert oder als sicherheitspolitischer Erfolg oder als Notwendigkeit zur Verteidigung unserer westlichen Werte. Als ob die westlichen Werte in Kleidervorschriften bestünden. Oder als ob jemand sich animiert fühlen würde, sich zu integrieren, wenn man seine gewohnte Lebensweise als kriminell etikettiert. Oder als ob Terroristen ihre Wumme nicht auch in einem weiten Mantel verstecken könnten. Ob sie erkannt werden ist denen übrigens nicht nur egal, weil sie ja sowieso im Himmel landen, sie hinterlassen sogar gerne mal ihren Ausweis am Tatort.
Gegen ein Verbot der Vollverschleierung sprechen viele Argumente. Aus meiner Sicht ist die Frage der Religionsfreiheit in diesem Falle gar nicht vordringlich. Aber das Argument der Verbots-Befürworter, dass die Religionsfreiheit hier nicht gelte, weil der Islam in den meisten Ausprägungen ja gar keine Burka vorschreibe, ist unsinnig. Denn die Religionsfreiheit ist ja nicht daran gebunden, welche religiöse Ausrichtung vorherrscht, sondern für welche sich ein Individuum entscheidet. Das ist der Sinn der Sache – es sind ja üblicherweise nicht gerade die Angehörigen der Mehrheitskulte, die verfolgt werden.
Aber selbst wenn die Vollverschleierung nicht von der Religionsfreiheit gedeckt wäre, so muss sie doch von der ganz allgemein Freiheit gedeckt sein. Schließlich ist jedem erlaubt, zu tun und zu lassen, was er will, solange er damit nicht die Freiheiten anderer einschränkt. Und zu konstruieren, dass das Tragen eines Schleiers andere Freiheiten einschränke, erfordert schon große Verrenkungen.
Die Befürworter sagen, sie wollten sehen, mit wem sie es zu tun haben. Kann es ein Recht darauf geben, das Gesicht eines anderen zu sehen? Diese Frage kann nur allgemeingültig oder gar nicht beantwortet werden. Schließlich kann es nicht sein, dass einer Muslima verboten wird, ihr Gesicht zu verhüllen, nicht aber jemanden, der dies aus anderen Gründen tut. Sei es, weil er einen Ausschlag im Gesicht hat oder weil es verdammt kalt ist und er sich ein Schal ums Gesicht wickelt. Wie viel Zeit hat ein Motorradfahrer, seinen Helm abzuziehen, bevor er für sieben Tage ins Gefängnis gesteckt wird?
Natürlich würde würde ein Verschleierungsverbot weit überwiegend muslimische Frauen treffen, aber das entbindet nicht von der Frage, was es in Bezug auf Menschen bedeuten würde, die aus anderen Gründen eine Verschleierung tragen möchten. Denn soll geprüft werden, mit welcher Motivation jemand sein Gesicht versteckt? Sollen muslimische Frauen, die versuchen, das Gesetz zu umgehen, indem Sie zum Beispiel einen Motorradhelm aufsetzen, nachweisen, dass sie dies nicht aus religiösen Gründen tun? Soll jemand, der sehr sonnenempfindlich ist und sein Gesicht verhüllt, nachweisen, dass er kein Moslem ist? Und wenn es so wäre, wäre es freilich doch Diskriminierung einer religiösen Gruppe.
Was soll das für ein Recht sein, das Gesicht eines anderen zu sehen? Wenn es eine Einschränkung der eigenen Freiheit wäre, nicht alles über mein Gegenüber zu wissen, wie ist es dann mit anderen relevanten Informationen? Muss man nicht verlangen, dass jeder ein Namensschild trägt? Es steht jedem frei, den persönlichen Kontakt zu einer Person, die ihr Gesicht nicht zeigt, zu unterlassen. In meinem privaten Leben kann ich interagieren, mit wem ich will. Ich muss ja auch nicht mit Leuten zu tun haben, deren Gesicht mir nicht passt. In Positionen aber, wo ich diese Entscheidungsfreiheit nicht habe, wo es eine Diskriminierung wäre, Menschen nur wegen ihrem Äußeren abzuweisen, da wäre es auch eine Diskriminierung, sie abzuweisen, weil ich sie gar nicht sehe. „Aber ich möchte gerne sehen, wie der andere guckt, ich möchte wisssen, mit wem ich es zu tun habe!“ Dann bitte auch Zwangseinführung der Videotelefonie. Und sobald technisch möglich, Telepathie. Schließlich will man ja eigentlich auch ganz gerne wissen, was der andere denkt. Geht halt bloß keinen was an. Und mein Gesicht geht auch keinen was an, wenn ich nicht will.
Und das Kulturargument? Was Teil unserer Kultur ist, steht nicht zur Debatte, denn es kann keinen Zwang geben, sich kulturellen Normen anzupassen, solange diese nicht die Freiheiten anderer betreffen. Nur weil es in Bayern zur kulturellen Norm gehört, Lederhosen zu tragen, wird niemand aus zivilisierteren Gegenden sich dieser Geschmacksverirrung anschließen müssen. Obwohl der Anblick moderner Großstadtkleidung für den lokalen Almbauern ungewöhnlich sein mag, würde niemand auf die Idee kommen, dort Trachtenzwang einzuführen. Selbstverständlich ist eine Burka um ein Vielfaches ungewöhnlicher, das ändert aber nichts daran, dass die Frage dessen, was bei uns kulturell üblich ist, nicht relevant sein kann. Ich will mit sehr vielem, was kulturell hier üblich ist, auch nichts zu tun haben. Wenn allein die Frage der Üblichkeit für ein Verbot reicht, sind wir auf dem direkten Weg zu entarteter Kunst.
Von diesen grundsätzlichen Fragen abgesehen, muss man sich aber auch anschauen, ob es den Betroffenen Frauen helfen würde, wenn so ein Verbot existierte. Denn selbstverständlich ist ist es nicht zu begrüßen, dass Muslimas unterdrückt werden. Selbstverständlich wollen wir fördern, dass sie unverschleiert gehen können. Selbstverständlich sind patriarchalische und mittelalterliche Gesellschaften, in denen Frauen unterdrückt werden, abzulehnen. Etwas nicht zu verbieten bedeutet nicht, dass man es gutheißt.
Wenn Menschen der Überzeugung sind, es wäre unanständig, Frauen unverschleiert gehen zu lassen, wenn sie sogar überzeugt sind, es handele sich dabei um ein göttliches Gebot, und wenn sie offenkundig in diesem Land und dieser Kultur noch sehr fremd sind, dann werden Sie sich durch ein Verbot mit Sicherheit nicht umstimmen lassen. Sie werden viel mehr von vornherein in eine ablehnende Haltung gedrängt.
Die Männer, die ihre Frauen ohne Schleier nicht heraus lassen, werden dies nicht plötzlich tun, nur weil es ein Verbot gibt. Es muss vielmehr befürchtet werden, dass diese Frauen dann gar nicht mehr vor die Tür dürfen und ihnen die Möglichkeit, sozial zu interagieren und vielleicht andere Lebensmodelle kennenzulernen, gänzlich genommen wird.
Darüber hinaus ist es überheblich, anzunehmen, dass jede Frau, die sich einer solchen Kleiderordnung unterwirft, willenlos und versklavt ist. Natürlich sind Niqab und Burka Symbole einer frauenfeindlichen Kultur. Das heißt aber nicht, dass die Frauen dort nicht ihre eigenen Strategien entwickelt haben, in dieser Kultur zu bestehen und nicht selbst wüssten, mit welcher Haltung sie dieses Kleidungsstück tragen wollen. Damit will ich nicht die Situation der Betroffenen verharmlosen, die unterdrückt und sprachlos gemacht werden. Ich will mich aber dagegen wehren, dass ein fremder Staat und eine fremde Kultur zu glauben wissen, wie jeder individuellen Frau in dieser Situation am besten geholfen ist.
Ein Verbot führt dazu, dass man das Unangenehme nicht mehr im Straßenbild sieht. Es würde aber nichts verändern. Es ist ein schnell beschlossenes Trostpflaster, das die Politik davon entbinden kann, sich ernsthaft Gedanken zu machen, wie man diese Frauen erreicht. Es ist günstig. Wenn man ihn wirklich helfen wollte, dann bräuchte man eine soziale Infrastruktur, Treffpunkte, Angebote für Frauen, die sich aus den Ketten ihrer Tradition befreien wollen, gut ausgestattete Frauenhäuser. Vor allem bräuchte man Angebote, die diese Menschen zunächst so annehmen wie sie sind, und ihre kulturellen Eigenheiten, vielleicht auch Eigentümlichkeiten, respektieren. Wenn man fremden Menschen unsere Kultur zeigen will, muss man erst mal mit ihnen ins Gespräch kommen. Durch ein Verbot erreicht man nur Schweigen.
Puhh….
Wenn ich ein Gesicht nicht sehen kann, bedeutet das für mich – unbewertet! – Alarm. Gilt derzeit für GSG, Burkas, Polizei, Feuerwehrleute, Skimasken etc. . Mag sich ändern, je mehr Roboter unseren Alltag und unsere Wahrnehmung beeinflussen. Derzeit mag ich Menschen, deren Gesichter glaubwürdige Spiegel ihrer Seele sind. Darauf verzichte ich nur ungern.
Wenn Menschen auf Strassen im Stoff leben. Keine Mimik zeigen, die Konturen verwischen, ist dies eine Situation, die ich selbst im Ausland für einen kurzen Zeitraum nur schwer ertragen kann.
Unterdrückung? Ich habe verhüllte Frauen erlebt, die ihren Mann in der Öffentlichkeit lautstark die Leviten gelesen haben. Es gibt auch extrovertierte Frauen, die das Besondere lieben und deshalb so auffallen wollen. D.h., es muss keine Unterdrückung sein, in vielen Fällen vermute ich hier aber explizite und implizite Zwänge.
Ich begrüße es, dass hier der Gesetzgeber Handlungsfreiheit bekommen hat. Wird eine persönliche Freiheit eingeschränkt? Ja, dafür wird aber so das Zusammenleben erleichtert und einige Kinder erleben ihre Mutter in der Öffentlichkeit mit voller Mimik und nicht nur als Person im Stoff.
Aktuell wird der Anteil der Frauen in schwarzen Mänteln und mit Kopftücher immer größer. Der nächste Schritt wird dann die vollkommene Verhüllung sein.
Wo sind nur die ausländischen Frauen in traditionellen weiten und bunten Hosen geblieben?
"Das Europa der Aufklärung existiert nicht mehr." Interessant ist nur noch, mit welchen absurden Verrenkungen viele, darunter auch der Autor dieses Artikels, diesen Zustand herbeireden bzw. rechtfertigen.
http://www.journal.lu/top-navigation/article/ueberzeugter-atheist/
Der Autor hat leider nichts verstanden.
Ein sehr gutes und hoffentlich wegweisendes Urteil.
"Das freut natürlich alle, denen südländische Menschen auch ohne Schleier schon unheimlich sind."
Natürlich.
"Als ob die westlichen Werte in Kleidervorschriften bestünden."
Haha, echt. Wer kommt nur aus sowas?
"Oder als ob jemand sich animiert fühlen würde, sich zu integrieren, wenn man seine gewohnte Lebensweise als kriminell etikettiert"
Wohl wahr. Wer macht sowas nur.
"Oder als ob Terroristen ihre Wumme nicht auch in einem weiten Mantel verstecken könnten"
Oder im Schritt, oder in der Kimme. Dies Verbot greift viel zu kurz. Kleidung muss also vollständig verboten werden, natürlich nur Muslimen. Ist es das, was der Autor vermitteln wollte?
"Gegen ein Verbot der Vollverschleierung sprechen viele Argumente".
Ja- simpel die Menschenrechte und, je nach Verfassung des jweiligen Staates die Grundrechte.
Da braucht man dann auch keine einleitenden Infantilitäten um dahingehend zu argumentieren. Das Leben könnte so einfach sein.
@Hopping Hipster: "Kleidung muss also vollständig verboten werden, natürlich nur Muslimen. Ist es das, was der Autor vermitteln wollte?"
Ist das jetzt so eine Art Ironie oder reden wir von zwei verschiedenen Texten?
Das kann ich verstehen, Martina M-B. Die Frage ist aber doch, ob man daraus ein Verbot ableiten kann. Und Menschen, deren Gesichter keine glaubwürdigen Spiegel sind gibt es auch unter den Unverschleierten genug.
@Robert, ob man daraus ein Verbot ableiten kann, ist für mich nicht die Hauptfrage. Denn die Frage ob ein Gesicht, gleichwohl verlogen, für mich zur Einschätzung der Person notwendig gesehen und analysiert werden kann, scheint mir erheblich zu sein. Ich denke, wir dürfen die Welt nicht nur unter juristischen Gesichtspunkten /Wieder so ein Wort mit Gesicht) sehen. Das, was Martina fehlt, würde auch mir fehlen, wenn ich im Leben klarkommen will. Wir können aber darüber streiten, ob es Welten, und zwar mit den entsprechenden Gesetzen gibt, in denen die Gesichter keine Rolle spielen. Das scheint für Frauen in vielen Teilen der Welt so zu sein.
Ein Gesicht das man nicht sehen kann, ist keins. Sonst würde es nämlich nicht Gesicht heissen. Wie schön, dass das jetzt auch ein paar Richter so sehen. 🙂
@Robert von Cube
"Ist das jetzt so eine Art Ironie oder reden wir von zwei verschiedenen Texten?"
Nein, das ist der gute, alte Spott. Ich weiss, die Frage war gar keine Frage- aber ich antworte trotzdem. :p
Im Kontext des ersten Abschnittes des Artikels finde ich die Reaktion übrigens sehr aufschlussreich; manche Leute essen scheinbar nie das, was sie selbst gekocht haben.
Helmut: Aber das genau ist halt die Frage des Textes: Ob ein Verbot sinnvoll ist. Ich habe ja auch andere Maßnahmen angesprochen, die m.E. sinnvoller sind.
@Hopping Hipster: Tut mir leid, ich versteh kein Wort.
Sehr guter Artikel!
paradox, Freiheit mit Verboten verteidigen zu wollen …
@Robert von Cube: Nicht mein Problem.
Robert: wenn jemand sein (ihr) Gesicht nicht zeigt, ist ein offener Umgang, z.B. Gedankenaustausch im persönlichen Gespräch kaum möglich, weil dazu eine Form der Rückkopplung durch die Mimik erforderlich ist. Darum könnte ich deine Lösungsvorschläge im letzten Absatz deines Artikels nicht umsetzen. Wenn jemand denkt, dazu in der Lage zu sein, kann er es versuchen. Ich habe aber starke Zweifel daran, daß das überhaupt funktionieren kann. Bisher hatte ich auch immer nur vom umgekehrten Ausgang solcher Experimente gelesen. Andere Beispiele in deinem Sinne fehlen noch. Wenn alle hinter einer Maske sind, ist man nicht so allein.
@Hopping H: Haha, okay, meins erst recht nicht. Wobei ich mich schon frage, warum man dann kommentiert.
Das ist also das Ergebnis von 300 Jahren Aufklärung: Nicht die genialen Entwürfe individuellen Intellekts bestimmen die Diskussion über die Zukunft unserer Gesellschaft, sondern die mit Religion durchsetzte kollektive Primitivität patriarchalisch-repressiver und misogyner Vorstellungen aus dem Mittelalter.In anderen Ländern wird über Robotik etc. gesprochen, Deutschland erlaubt sich sozial-religiösen Klimbim mit einer Höhlenreligion…
@MarkH. /17), wo finden Sie den" sozial-religiösen Klimbim mit einer Höhlen religion?"
In Deutschland wird an vielen Lehrstühlen über Robotik geforscht, und wir alle leben u.A. ganz gut davon, daß wir unsere Entwicklungen in dieser Technologie in der Welt verkaufen. Teuer verkaufen, was sogar wieder etliche Leute, die nie an technischen Themen gearbeitet haben aber zwar über Technik reden, doch nichts davon seit ihrer Schulzeit kapiert haben, deshalb nervt, weil sie den dafür erzielten Preis nicht als "fair" betrachten. Sie sprechen also über Robotik, und sagen Sie, verstehen Sie davon etwas?
Was Ihre genialen Entwürfe individuellen Intellekts durch die Aufklärung betrifft, frage ich mich, wieso Sie glauben, daß diese ausgerechnet von Menschen verteidigt würden, die diese Werte verachten, und lieber die Scharia einführen wollen. Aber das ist Ihr Problem. Diese Fragen müssen Sie mir gar nicht erst beantworten, weil ich Sie nach all Ihren unsinnigen Äußerungen nicht ernst nehme. Nebenbei werden Aufklärer wie Kant, weil Sie nach den postmodern angelegten Maßstäben etlichen Studierenden der Sozialwissenschaften als Rassisten gelten, neuerdings von denen verteufelt, vermutlich weil sie sich dann nicht mehr mit den komplizierten Schriften dieses Mannes auseinandersetzen müssen und deshalb klausuren schaffen können, die sie sonst nie geschafft hätten. Sie wissen nichts über die Aufklärer, und Sie wissen nichts über Robotik. Aber Sie erlauben sich darüber zu reden. Dürfen Sie.
@17:
Genau das! Traurig. Imaginäre Freunde sind offensichtlich sehr wichtig.
Ein wenig bis gar nicht erhellender Artikel, denn er wiederkäut lediglich sattsam bekannte und nicht mal die besten Argumente zur Debatte – schade.
Wenn der Beitrag in der Welt
https://www.welt.de/kultur/article129709143/Gericht-fuer-Menschenrechte-staerkt-Diktatur-des-Wir.html
die Urteilsbegründung des EGMR richtig wieder gibt, dann kann kein Freund rechtstaatlicher Ordnung über diesen Spruch des Gerichts glücklich sein. Der Begriff fällt bei Posener nicht, aber das, was die Richter anführen, hieß in Deutschland schon mal "gesundes Volksempfinden".
Danke! Die dort genannten Argumente für ein Verschleierungsverbot finde ich zwar aus genannten Gründen nicht überzeugend. Aber der Rest ergänzt meinen Beitrag sehr gut.