In den kommenden Jahren werden in der Industrie zahlreiche Arbeitsplätze wegfallen. Auch wenn es bislang oft statt zu Entlassungen nur zu Stellungstreichungen kommt und Betroffene im Dienstleistungsbereich neue Arbeitsplätze finden, wird sich die soziale Spaltung vergrößern.
Am 4. Dezember vergangenen Jahres veröffentliche das Social-Media-Team der Bundesregierung eine frohe Botschaft: Noch nie seien so viele Menschen in Arbeit gewesen. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes lag die Saison- und Kalenderbereinigte Anzahl der Erwerbstätigen mit Wohnsitz in Deutschland im Oktober 2019 bei 45,15 Millionen. Ein Jahr zuvor waren es noch 44.85 Millionen gewesen. Trotz schlapper Konjunktur und Fast-Rezession hatte die Zahl der Beschäftigten noch einmal zugelegt. Die Arbeitslosenquote lag bei 4,8 Prozent. 2005, vor Beginn des zehnjährigen Booms, lag sie noch bei 11,7 Prozent.
Doch das Menschen am Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen bedeutet erst einmal nur, dass sie am Abend müde nach Hause kommen. Ob sie von ihrer Arbeit leben, ja vielleicht sogar gut leben können, das kann man aus den Beschäftigungsstatistiken nicht herauslesen.
Man kann mit einem Job Millionen im Jahr verdienen oder weiterhin auf staatliche Leistungen wie HartzIV, Wohngeld und Lebensmittelmarken angewiesen sein.
Es kommt also darauf an, dass es ausreichend Arbeitsplätze gibt, in denen viele gut verdienen. Fehlen sie, nimmt die Spreizung der Einkommen ab. Programmierer im Silicon Valley schaffen es locker auf ein Jahresgehalt von über 300.000 Euro. Ihre Kindermädchen, Poolboys und Putzfrauen können sich in der Regel nicht mal eine einfache Wohnung in Städten wie Mountain View oder Cuppertino leisten und reisen täglich viele Stunden mit dem Bus an, um ein Einkommen zu erzielen, mit dem sie gerade so um die Runden kommen.
In allen westlichen Staaten hat die Spreizung der Gehälter in den vergangenen Jahrzehnten stark zugenommen. Es sind in fast allen entwickelten Volkswirtschaften des Westens viele neue Jobs entstanden und gleichzeitig nahm der GINI-Koeffizient, der die Ungleichheit der Verteilung von Vermögen misst, zu. Seit den achtziger Jahren sind die Einkommen immer ungleicher verteilt, nahmen die Gehälter für gut qualifizierte in vielen Branchen massiv zu während sie für Menschen mit mittlerer und niedriger Qualifikation sanken. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die ab den 70er Jahren im Folge der ersten Ölkrise 1974 einsetzende und sich in den 80er Jahren beschleunigende Deindustrialisierung. Ob im Rust-Belt in den USA, Nordfrankreich, Nordengland oder dem Ruhrgebiet – Millionen Jobs in der Industrie sind weggefallen. Oft waren sie gut bezahlt. Facharbeiter in der Industrie konnten sich Wünsche wie den Bau eines eigenen Hauses oder das Studium der Kinder leisten. Auch wer keine Ausbildung hatte, verdiente in der Industrie noch immer ein Einkommen, das ein Leben ohne große wirtschaftliche Sorgen ermöglichte.
Der Trierer Historiker Lutz Raphael hat in seinem Buch „Jenseits von Kohle und Stahl – Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom“ die Geschichte der Deindustrialisierung in Frankreich, Großbritannien und Westdeutschland beschrieben. Raphael stellt fest: „Kaum waren in den drei westeuropäischen Ländern die meisten Spuren proletarischer Existenzweise beseitigt worden, brach ein neues Zeitalter der Prekarität an.“
Die Deindustrialisierung war für ihn eine Zäsur: „Erstmals seit langer Zeit hat die Deindustrialisierung wieder Gewinner und Verlierer in den Gesellschaften Westeuropas produziert. Der wirkungsmächtige »Fahrstuhleffekt« des Nachkriegsbooms, der (fast) alle Berufsgruppen und Schichten in höhere Etagen von Einkommen und sozialer Sicherheit, von Bildungschancen und Konsummöglichkeiten befördert hatte, setzte Ende der 1980er Jahre aus.“ Seitdem nahmen nicht nur die Einkommensungleichheit wieder zu. Auch soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Einkommensarmut und Vermögenslosigkeit und schlechte Jobs „wurden zusammengenommen wieder prägend für die Lebenswirklichkeit zwar nicht der Mehrheit, aber doch eines erheblichen Teils der westeuropäischen Bevölkerung. Vor allem dem Verlust gut bezahlter Arbeitsplätze in der Industrie war es geschuldet, dass dieser Fahrstuhl nicht mehr für alle funktionierte, denn von den neuen Dienstleistungsjobs gab es bei weitem nicht genug, außerdem waren sie häufig schlecht bezahlt, boten keine Beschäftigungssicherheit und nicht immer das, was man eine halbwegs zufriedenstellende Arbeits- und Berufserfahrung nennen könnte.“
Doch die Deindustrialisierung verlief nicht in allen drei europäischen Staaten oder auch den USA gleich. In der Bundesrepublik ist die Industrie nach wie vor ein wesentlich bedeutenderer Wirtschaftsfaktor als in Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. In Deutschland betrug nach den Zahlen der Weltbank 2018 der Anteil des verarbeitendes Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt 27,97 Prozent. In Frankreich (19,5 Prozent), Großbritannien (18 Prozent) und den USA (18,21 Prozent) liegt er deutlich niedriger.
In den kommenden Jahren könnte sich die Bundesrepublik diesen Ländern annähern. Die beiden wichtigsten Industriebrachen, der Fahrzeug- und der Maschinenbau, stecken in der Krise. Alleine in der Automobilindustrie sind, inklusive Zuliefererbetrieben, 1,6 Millionen Menschen beschäftigt. Wie viele es in Zukunft sein werden ist offen. Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) fürchtet einen Verlust der Hälfte der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie. Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig. Elektroautos benötigen weniger Teile und sind einfacher gebaut, neue Zölle und Importbeschränkungen führen zu mehr Verlagerungen von Betrieben ins Ausland und Produktionsrückgängen, hohe Energiekosten, die oft marode Infrastruktur gerade im ländlichen Raum, in dem die meisten Industriebetriebe heute ansässig sind, gehören sicher zu den größeren Belastungen. Alleine im vergangenen Jahr hat die Automobilindustrie den Abbau von 50.000 Arbeitsplätzen angekündigt. Nach Ansicht von Clemens Fuest, dem Präsidenten des Münchener Ifo-Instituts, kein Grund zur Sorge: „Die Lage in der Automobilindustrie ist ernst“, sagte Fuest im November der WAZ. „Ein massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit ist aber derzeit nicht zu erwarten, weil gleichzeitig in anderen Bereichen neue Arbeitsplätze entstehen, vor allem im Dienstleistungssektor.“
Was Fuest nicht sagt: Die Jobs im Dienstleistungssektor sind deutlich schlechter bezahlt. Auf Anfrage der Jungle World hat das Statistische Bundesamt Listen mit den Einkommen in verschiedenen Branchen zusammengestellt. Die Einkommensunterschiede bei vergleichbaren Qualifikationen sind groß: Das Jahresdurchschnittseinkommen lag in der Industrie über alle Qualifikationen 2018 bei 56.143 Euro brutto. Im boomenden Dienstleistungbereichen wie Verkehr und Lagerei, zu dem Amazon und DHL gehören, waren es 39.475 Euro. Eine Fachkraft verdiente in der Industrie 2018 Brutto 42.997 Euro, eine ungelernte Kraft mit einer einfachen Tätigkeit 31.294 Euro. Die Gehälter im, Dienstleistungsbereich lagen mit 37.375 Euro Brutto (Fachkraft) und 24.159 Euro Brutto (Ungelernt) deutlich niedriger.
Der Wegfall jedes Industriearbeitsplatzes bedeutet Einkommensverluste. Es ist ein recht gut bezahlter Arbeitsplatz, der für künftige Beschäftigte nicht mehr zur Verfügung steht und dessen Verlust für die Betroffenen mit harten Einkommenseinbußen verbunden ist. Man muss schon so gut verdienen wie Fuest als Leiter eines Wirtschaftsforschungsinstitutes, um in dieser Entwicklung kein Problem zu sehen. Es bedeutet nichts anderes als massive Einschnitte und, gesamtgesellschaftlich gesehen, eine Zunahme der Lohnspreizung, ja, eine Schrumpfung der Mittelschicht, zu der Facharbeiter in der Industrie vom Einkommen her zählen. Einer der Gründe, für die Einkommensunterschiede: In der Industrie ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad hoch, auch in mittelständischen Unternehmen ist ein Betriebsrat üblich. Die Deindustrialisierung wird also nicht nur gut bezahlten Arbeitsplätze kosten, sondern auch Gewerkschaften wie die IG Metall schwächen.
Dass die Folgen der Deindustrialisierung in der Öffentlichkeit kaum wahr genommen und wenn wie von Fuest heruntergespielt werden, hat Gründe, die Raphael auch in seinem Buch beschreibt: In den Zentren gibt es heute kaum noch Industrie und Industriearbeiter, beides ist aus dem Bewusstsein vieler, darunter auch Journalisten und Wissenschaftlern, verschwunden so dass sich die Legende ausbreiten konnte, die Industrie spiele keine Rolle mehr. Dabei ist ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung seit über 20 Jahren stabil, durch ihre Exportleistungen finanziert sie den Wohlstand in der Bundesrepublik. Aber die starken Industriestandorte heißen nicht mehr Berlin, Köln oder Hamburg. Die drei Regionen mit dem höchsten Anteil an Industriebeschäftigten sind Südwestfalen Villingen-Schwenningen und Heidenheim an der Brenz. Fast jeder zweite arbeitet hier in der Industrie, fast alle Jugendlichen, auch Flüchtlinge, finden sofort einen Ausbildungsplatz, es gibt kaum Arbeitslose und die Einkommen sind hoch. Wie lange es dort noch so sein wird, bleibt abzuwarten.
Der Artikel erschien in ähnlicher Form bereits in der Jungle World
[…] https://www.ruhrbarone.de/deindustrialisierung-die-gut-bezahlten-jobs-fallen-weg/177963 […]
Der Punkt ist doch, warum in der Industrie mehr verdient wurde. Aus meiner Sicht ist hier der hohe Grad der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ein wichtiger Punkt.
Es ist doch nicht anzunehmen, dass viele Tätigkeiten in einem industriellen Großunternehmen deutlich komplexer sind als die in kleineren Handwerksbetrieben etc.
Dann muss natürlich darauf geachtet werden, dass die Produktivität stimmt und Dienstleistungen noch abgenommen werden.
Auch in der Industrie gibt es doch viele Service-Gesellschaften / Dienstleister, die dann zu günstigeren Preisen gearbeitet haben.
Auch das Industriemodell passt nicht mehr so richtig, denn viele andere Länder erschaffen aktuell sehr viel. Die Industrie lernt davon. Hier besteht die Kernkompetenz darin, irgendwelche Barrieren zu zerstören, die Schaffende hemmen. In anderen Ländern können neue Anlagen geplant und auch gebaut werden.
Es wird offen, ob wir einen Erfolgsschlager wie unsere Beauftragten für Gedöns auch international exportieren können. Ich habe meine Zweifel. Im Ruhrgebiet ist es ein Beispiel für Strukturwandel, wenn man aus der Industrie wegrationalisiert wurde und jetzt Beauftragter für irgendwas ist.
Das Silicon Valley ist doch auch nicht mehr das , was es war.
Dann darf auch nicht vergessen werden, dass insbesondere auf dem Arbeitsmarkt mit geringen Qualifikationen viele Neubürger ihre ersten beruflichen Schritte machen, damit die Konkurrenz erhöhen und final auch geringere Löhne verursachen. Dass zusätzlich Produktivität gehemmt wird, weil Lohnkosten günstiger sind als Optimierungen , ist ein auch ein Thema.
Insgesamt ist alles deutlich komplexer. Aber wir können uns nicht alle gegenseitig die Haare schneiden.