Im Ruhr Museum in Essen läuft die Ausstellung „Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“. Sie zeichnet mit Hunderten Fotos die Geschichte des Ruhrgebietsfußballs nach.
Auch kleine Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Ein eher großer dieser Schatten ist die Ausstellung „Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“ im Ruhr Museum Essen, die Teil des Kulturprogramms der im kommenden Jahr in Deutschland stattfindenden Fußballeuropameisterschaft ist. Sie wurde gemeinsam vom Deutschen Fußballmuseum Dortmund und dem Essener Ruhr Museum, dass sich selbst als Heimatmuseum des Ruhrgebietes sieht, organisiert. Mit 450 Fotos, ausgewählt aus dem Fotoarchiv des Ruhr Museums, in dem sich vier Millionen Bilder befinden, davon 60.000 zum Thema Fußball, zeichnet sie die Geschichte des Fußballs im Ruhrgebiet nach.
Dass die Ausstellung ausschließlich in Essen und nicht auch in Dortmund zu sehen ist, liegt an den Räumlichkeiten. Präsentiert wird sie im ehemaligen Kohlebunker der Zeche Zollverein. Nach Ansicht von Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums, der perfekte Ort. Auf der Pressekonferenz beschwor der dann auch sämtliche mit dem Ruhrgebietsfußball verbundene Mythen: Wissenschaft, Kultur, Technologie und Innovationen seien die großen Treiber und Perspektivgeber des Reviers, das sich in den vergangenen Jahrzehnten transformiert und neu definiert habe. „Der Fußball als Identitätsstifter ist dabei zur verlässlichen Konstante geworden. Er ist für die Menschen da, gerade im Ballungsraum Ruhrgebiet mit seinen vielfältigen Formen des kulturellen Austauschs, mit seinen rund fünf Millionen Menschen aus 170 Nationen.“ Heinrich Grütter, der Direktor des Ruhr Museums, legte nach: „Unsere Ausstellung präsentiert mit faszinierenden Fotografien die Vergangenheit und Gegenwart einer der aufregendsten Fußballregionen in Deutschland.“
Und eine der aufregendsten Fußballregionen ist das Ruhrgebiet ohne Zweifel: Nirgendwo finden sich so viele große Vereine auf so engem Raum: Borussia Dortmund, Schalke 04 und der VfL Bochum spielen in dieser Saison, wenn auch mit höchst unterschiedlichem Erfolg, in der 1. Liga, der MSV Duisburg und Rot Weiss Essen immerhin in Liga 3.
Bis in die 50er Jahre, sagte Grütters bei der Vorstellung der Ausstellung, hätten die Mannschaften aus dem Revier den Fußball in Deutschland dominiert. Mehr als ein Dutzend von ihnen spielten in der höchsten damaligen Spielklasse, der Oberliga West. Neben den heute noch bekannten Namen waren das zum Beispiel die schon 1892 gegründete Spiel- und Turnvereinigung Horst-Emscher aus Gelsenkirchen, Westfalia Herne, die Sportfreunde Katernberg aus Essen oder der TSV Marl-Hüls. Viele von ihnen gibt es nicht mehr: Horst-Emscher ist ebenso Geschichte wie Sportfreunde Katernberg. Andere sind in die sportliche Bedeutungslosigkeit abgesunken: Die Gegner von Westfalia Herne heißen in der Westfalenliga heute nicht mehr Schalke oder Dortmund, sondern Hordel, Wiemelhausen oder Obersprockhövel.
Mit dem Niedergang des Bergbaus und der Stahlindustrie ging die Ära des Erfolgs für die Ruhrgebietsvereine zu Ende. Vor allem die Zechen, sagt Grütters, waren von Anfang an große Unterstützer der Clubs gewesen. Bergleute seien für Training und Turniere freigestellt worden, Stadien und Übungsplätze wären auf den Betriebsgeländen angesiedelt gewesen. Nach der Einführung der Bundesliga schaffte es nur noch ein Verein aus dem Ruhrgebiet Meister zu werden, das allerdings fünf Mal: Borussia Dortmund gewann die Meisterschale 1995, 1996, 2002, 2011 und 2012.
Sicher, in der Ausstellung im ehemaligen Kohlebunker stehen die großen Clubs im Zentrum. Schalke 04, Borussia Dortmund, RWE, VfL und MSV. Aber auf den Bildern sind nicht nur Spieler oder Manager wie Rudi Assauer zu sehen, der stolz mit der Zigarre im Mund die Pokalschale hochhält. Viele Fotos zeigen Fans: Jubelnde Frauen, die nach dem Wiederaufstieg der VfL Bochums 2021 durch die Straßen ziehen, aber auch einen RWE-Anhänger mit T-Shirt und Vokuhila-Frisur, der nicht nur jedes Ruhrgebietsklischee erfüllt, sondern tatsächlich für ein Lebensgefühl steht, dass sich zum Glück bis heute in Teilen des Reviers erhalten hat. Die Bilder zeichnen auch die Geschichte des Ruhrgebiets nach.
Auf heutigen Fotos von Spielen in Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Essen oder Duisburg wirkt die Luft so öde und sinnlos wie im Schwarzwald. Willy Brandts Schreckensvision vom blauen Himmel über dem Ruhrgebiet, sie ist längst Wirklichkeit geworden. Auf älteren Bildern hingegen ist die Industrie zu sehen, die das Revier prägte, bevor es nach ihrem Ende in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit stürzte. Hochöfen und Zechen bilden die Kulisse für Turniere auf Rasen- und Aschenplätze. Kinder kicken in Straßen, deren Häusern keinen Anstrich brauchten, weil schon der Kohlenstaub sie in Heimeliges grau und schwarz tauchte. Schon die Kinder, das zeigen Dutzende Bilder, nehmen Fußball ernst. Diesen Ernst strahlt der dunkle und gedrungene Kohlebunker aus und bestätigt damit Neukirchners Einschätzung als idealer Ausstellungsort.
Viele der gezeigten Fotos stammen von Pressefotografen, vor allem der WAZ, und Sportfotoagenturen wie Firo. Unter den Bildern sticht ein großformatiges Werk des Künstlers Andreas Gursky „Dortmund“ heraus: 2009 fotografierte er die sogenannte „Gelbe Wand“, die Südtribüne des Westfalenstadions, wo die Fans des BVBs Schulter an Schulter stehen. Das Foto Gurskys war der Höhepunkt des Jahres: Dortmund gelang es damals nicht, sich für einen internationalen Wettbewerb zu qualifizieren und im eigenen Stadion gelang gegen den Erzrivalen Schalke kein Sieg. Aber Teil eines Kunstwerks zu sein, wird den Fans ohne jeden Zweifel viel Trost gespendet haben.
Lohnt der Besuch der Ausstellung? Ja. Alle, die sich für Fußball und das Ruhrgebiet oder auch nur für eins von beiden interessieren, werden auf ihre Kosten kommen. Dass Kulturstaatsministerin Claudia Roth von Ausstellung begeistert ist, sollte niemanden abschrecken. Den ganzen Tag wird man sicher nicht in dem Kohlenbunker verbringen. Aber wenn man schon einmal da ist, kann man sich auch die Zeche Zollverein und die benachbarte Kokerei, seit 2001 Weltkulturerbe, anschauen. Und das Ruhrmuseum ist tatsächlich das Heimatmuseum des Ruhrgebiets. Wer wissen will, wie es dort früher aussah, begibt sich auf eine lange Reise zurück in der Zeit: Die ältesten Exponate sind rund 2,9 Milliarden Jahren alt und stammen aus der Erdfrühzeit, als Bakterien begannen, die Sauerstoffhülle der Erde zu produzieren. Geschlechter sollten von der Evolution erst 1,7 Milliarden Jahre später hervorgebracht werden. Selten entsprach zu betrachtende Vergangenheit so sehr dem Zeitgeist. Andere Funde verweisen auf die Zeit, in der das Ruhrgebiet am Rand eines tropischen Meeres lag. Viele ältere Bürger des Ruhrgebiets sagen nach dem kalten und verregneten Frühjahr, dass es damals besser gewesen sei als heute.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World