Den Deutschen geht es bei ihrer Erinnerungskultur vor allem um sich selbst

Eine muslimische Gruppe demonstriert 2014 in Dortmund zusammen mit Neonazis gegen Israel. Foto: Laurin

Unser Schweizer Gastautor Emrah Erken (@AtticusJazz) hat Zweifel an der deutschen Erinnerungskultur. 

Facturusne operae pretium sim, si a primordio urbis res populi Romani perscripserim, nec satis scio nec, si sciam, dicere ausim, quippe qui cum veterem tum volgatam esse rem videam, dum novi semper scriptores aut in rebus certius aliquid allaturos se aut scribendi arte rudem vetustatem superaturos credunt. „Ob ich dabei bin, etwas herzustellen, was der Mühe wert ist, wenn ich von der Gründung der Stadt an die Geschichte des römischen Volkes beschreibe, das weiß ich nicht, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich nicht wagen, dies zu behaupten, da ich ja sehe, dass dieses Thema sowohl von alters her bekannt als auch oftmals behandelt wurde: Immer wieder neue Schriftsteller meinen, sie könnten entweder in der Geschichte etwas Genaueres anführen oder in ihrer Schreibkunst die raue Altertümlichkeit überwinden.“ Mit diesen Worten beginnt das 142 Bücher umfassende Monumentalwerk «Ab urbe condita» (Von der Gründung der Stadt an) des im Jahr 14 n. Chr. verstorbenen römischen Geschichtsschreibers Titus Livius aus der heutigen italienischen Stadt Padua. Nicht alle Teile davon sind erhalten; faktisch wichtiger: Sehr vieles, worüber er schrieb, ist nicht historisch, sondern vielmehr legendär, und er verfolgte den Zweck Rom, die Römer und vor allem auch die römische Geschichte zu glorifizieren, um für Römer seiner Zeit Vorbilder zu kreieren. Er verfolgte mithin politische Zwecke, die ihn nicht wesentlich von anderen römischen Geschichtsschreibern wie beispielsweise Tacitus oder Gaius Julius Caesar unterschieden.

Das Besondere bei Livius ist allerdings, dass er auch über historische Begebenheiten schrieb, die vollständig in das Reich der Fantasie gehören, wie beispielsweise über die beiden Zwillinge Romulus und Remus, die beiden legendären Stadtgründer, die angeblich von einer Wölfin gesäugt und großgezogen wurden. Mittlerweile sind mehr als zweitausend Jahre vergangen, seit Livius sein Werk verfasst hat und die Geschichtsschreibung auf der Welt hat sich nicht sehr wesentlich verändert. Die Geschichte diente schon immer dazu, den Lesern eine Vorbildfunktion zu vermitteln oder das pure Gegenteil davon.

Als ich ein kleiner Junge war und noch in der Türkei lebte, habe ich das sehr unmittelbar miterlebt. Die Geschichte der Türkei und des türkischen Volkes hatte keine dunklen Flecken, es sei denn, es war politisch gewollt. Das betraf beispielsweise die letzten Herrscher des Osmanischen Reiches, die in der damaligen Geschichtserzählung der Türkei negativ dargestellt wurden. Sie hätten die Türkei und die Türken an die ausländischen Mächte verkauft, um ihr Thron und ihr Reichtum zu behalten. Auch wenn das nicht komplett von der Hand zu weisen ist, wurden andere dunklen Seiten der türkischen Geschichte nicht nur nicht behandelt; sie wurden schlicht negiert, wie beispielsweise der Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915. Noch heute wird dieses Verbrechen von der offiziellen Türkei und der überwiegenden Mehrheit der türkischen Bevölkerung negiert oder schöngeredet. Es habe kriegsbedingte gegenseitige Massaker gegeben, ist das allerbeste Eingeständnis, welches man über diese Historie seitens der Türken bekommen kann.

Damit ja nicht der falsche Eindruck entsteht, dass so etwas ausschließlich bei den Türken existieren würde. Auch in meiner jetzigen Heimat, der Schweiz, sieht es nicht wesentlich besser aus. Man denke an den Bundesbrief von 1291, der als Gründungsurkunde der Schweiz gilt, der allerdings erst im 19. Jahrhundert diese Bedeutung bekam oder an den legendären Wilhelm Tell, dessen Historizität mehr als nur zweifelhaft ist, an die Schlachten gegen Karl dem Kühnen im 15. Jahrhundert, der von den wackeren Eidgenossen gleich dreimal auf den Deckel bekam, an die mahnenden Worte von Bruder Klaus, dem Nationalheiligen der Schweiz, der die Schweizer dazu aufrief, sie sollen sich nicht in «fremde Händel» einmischen, an die schmachvolle Niederlage bei der Schlacht von Marignano des Jahres 1515, als die Eidgenossen genau das nicht taten und sich in ausländische Abenteuer verstrickten oder an die Annahme vieler Schweizer, dass die allgemeine Mobilmachung, das sogenannte «Reduit» und General Guisan sie vor dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg bewahrt hätten.

Die historische Realität der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges war auf jeden Fall komplexer. Da ich diesen fragwürdigen Umgang mit den historischen Realitäten sehr früh erkannt hatte, hatte ich sehr lange eine große Bewunderung gegenüber den Deutschen. Anders als die Türken, die den ersten Völkermord des Zwanzigsten Jahrhunderts konsequent negierten, waren die Deutschen ganz anders und hatten sich ihrer historischen Vergangenheit gestellt. Sie hatten sogar etwas kreiert, das sie «Erinnerungskultur» nannten. «Das ist wunderbar!» dachte ich zumindest bis vor einigen Jahren. Erste Risse bei meiner Wahrnehmung über die Deutschen und ihren Umgang mit ihrer Geschichte entstanden, als ich im Jahr 2008 Berlin zum ersten Mal besuchte und das Holocaust-Mahnmal sah. Mitten im Zentrum ihrer Hauptstadt hatten die Deutschen eine Art Gedenkstätte bauen lassen und auf einer Gesamtfläche von rund 19.000 Quadratmetern mit 2.711 Betonstelen errichtet, um an die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Juden zu erinnern.

Für mich war schon beim ersten Mal, als ich dieses Denkmal klar, dass die implizite Botschaft dahinter «Seht her, so groß ist unsere Schande!» war, zumindest im Unterbewussten. Sowohl das Denkmal als auch die Botschaft dahinter nahm ich schon damals als megalomanisch wahr und konnte nicht nachvollziehen, warum man diese Gedenkstätte errichtet hatte. Auch schon damals fragte ich mich, wie die Deutschen diesen Ort und dessen Würde schützen wollten, dies insbesondere wegen dessen Größe. Außerdem werden Denkmäler für die Ewigkeit gebaut und nicht für einige Jahrzehnte oder für ein Jahrhundert. Ich fragte mich, wie die Deutschen einen solchen Ort in 300 Jahren rechtfertigen wollten, wenn alle, die eine Erinnerung an die Zeit des Holocaust hatten inklusive deren Enkel längst verstorben waren. In der Folge fragte ich mich auch, warum die Deutschen so etwas getan hatten. Warum suhlten sie sich in dieser historisch wenig schmeichelhaften Vergangenheit?

Mit der Zeit und aufgrund gewisser Ereignisse, die sich in den Folgejahren ereignen sollten, bekam ich eine Antwort. Den Deutschen ging es bei ihrer sogenannten «Erinnerungskultur» gar nicht um die ermordeten Juden. Diese waren zweitrangig. Auch ging es ihnen nicht um die lebenden Juden. Auch diese waren ihnen mehr oder weniger gleichgültig. Es ging bei dieser sogenannten «Erinnerungskultur» derjenigen, die sich gar nicht erinnern konnten, weil sie diese Zeit gar nicht miterlebt hatten, vor allem um sie selbst. Ich erkannte einen neurotischen Umgang mit der eigenen Geschichte, die sich im Laufe der Zeit bestätigte. Obwohl in der Nachkriegsgeschichte viele ehemalige Nationalsozialisten Staatsämter bekleidet hatten, obwohl die Deutschen einen berühmten und gefeierten Dirigenten von Weltruhm hatten wie Herbert von Karajan, der von 1933 bis 1945 Parteimitglied bei den Nazis war. Axel Schildt hat in seinem Buch „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“ gezeigt, wie viele Nazis in den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften der jungen Bundesrepublik arbeiteten. Die Feuilletons waren fest in der Hand ehemaliger Redakteure von Goebbels Prestigewochenzeitung „Das Reich“.

Mit diesen Nazis konnte Deutschland gut leben, es störte sich lange nicht an ihnen. Aber je weniger es von ihnen gab umso mehr wurde der Begriff ausgeweitet. Als rechtsradikal und Nazis gelten längst nicht mehr nur die Neonazis und die AfD. Jeder der nicht wokelinks ist muss damit rechnen, als rechtsradikal beschimpft zu werden. Auf den Demonstrationen gegen die AfD in den vergangenen Monaten wurde nicht nur die CDU so bezeichnet, selbst die Ampel-Parteien wurden zum Teil wegen ihrer Flüchtlingspolitik mit der AfD in einen Topf geworfen.

Bemerkenswert war aber auch die von Angela Merkel ab 2015 mutwillig herbeigeführte Massenzuwanderung aus Syrien und anderen muslimisch geprägten Staaten. Sie tat das im Wissen darum, dass dieses Land sich seit der Gründung des Staates Israel im dauerhaften Kriegszustand mit dem jüdischen Staat befand. Sie musste auch wissen, dass die überwiegende Mehrheit der Syrer aus lupenreine Antisemiten besteht und dass in Syrien praktisch keine Juden mehr leben. Der berühmte syrisch-stämmige Politikwissenschaftler Bassam Tibi hatte auch während der Massenzuwanderung aus Syrien eindrücklich geschildert, dass er als Antisemit nach Deutschland gekommen war, weil er in seinem Herkunftsland nichts anderes gelernt hatte und erst durch seine jüdischen Lehrer Max Horkheimer und Theodor W. Adorno umgepolt worden war.

Angela Merkel, die im Jahr 2008 vor dem Knesset angegeben hatte, dass die Sicherheit Israels «deutsche Staatsräson» sei, liess nicht nur diese Zuwanderung zu. Sie erlaubte auch ihrem Chefdiplomaten bei den Vereinten Nationen Christoph Heusgen eine antiisraelische Haltung. Mein Eindruck über diese sogenannte «Erinnerungskultur» derjenigen, die sich gar nicht erinnern konnten, wurde insbesondere auch dann bestätigt, als Angela Merkel beim Evangelischen Kirchentag, der zwischen 24. Und 28. Mai 2017 stattfand, neben Scheich al-Azhar saß, der im sunnitischen Islam eine ähnliche Rolle hat wie der Papst. Nur wenige Tage zuvor hatte MEMRI, eine Organisation zur Beobachtung islamischer Medien des Nahen Ostens, ein Interview mit dem Scheich al-Azhar im ägyptischen Fernsehen veröffentlicht. Nachfolgend die deutsche Übersetzung der MEMRI-Publikation: Scheich von Al-Azhar über jüdisch-muslimische Feindseligkeit: Die Juden haben damit angefangen. Der Scheich von Al-Azhar, Ahmad Al-Tayyeb, sagte, dass die Juden die Feindseligkeit gegenüber den Muslimen ausgelöst hätten, indem sie die Botschaft des Propheten Mohammed abgelehnt hätten. In einem Interview mit dem ägyptischen Fernsehsender Channel 1 vom 5. Mai sagte Scheich Al-Tayyeb, dass die Juden „tatsächliche Maßnahmen ergriffen haben, um den islamischen Ruf in seinen Anfängen zu vereiteln, zu töten und zu begraben“. Obwohl seit dem Aufkommen des Islam 1.400 Jahre vergangen sind, so der Scheich von Al-Azhar, „leiden wir immer noch unter der zionistisch-jüdischen Einmischung in die Angelegenheiten der Muslime“. Ahmad Al-Tayyeb: „Der Koran beschreibt die Beziehung zwischen den Muslimen und den Christen als gut. Zwischen ihnen gibt es Freundschaft, Barmherzigkeit und so weiter und so fort. Dies steht im Gegensatz zu der Art und Weise, wie die Beziehung zwischen den Muslimen und den Juden dargestellt wird. […] „Die Juden sind diejenigen, die die Feindseligkeit ausgelöst haben. Obwohl einige von ihnen vor der Ankunft des Propheten Muhammad voraussagten, dass am Ende der Zeit ein Prophet kommen würde und dass sie gemeinsam die Heiden, die Ungläubigen und die Polytheisten bekämpfen würden, zeigten sie sich nach der Ankunft des Propheten Muhammad feindselig. Das ist manchmal die Natur des Menschen. Sie haben ihre Feindseligkeit nicht nur bekundet. Sie ergriffen konkrete Maßnahmen, um den islamischen Ruf in seinen Anfängen zu vereiteln, zu töten und zu begraben. […] „Der Koran sagt: ‚Ihr werdet gewiss die Juden und die Polytheisten unter den Menschen am stärksten in ihrer Feindseligkeit gegenüber den Gläubigen finden.'“ Interviewer: „Ja.“ Ahmad Al-Tayyeb: „Daher bestätigt dieser Teil des heiligen Verses, dass die Beziehung zwischen den Muslimen einerseits und den Juden und den Polytheisten andererseits von Feindseligkeit geprägt ist.“ Interviewer: „Aber sie wurde von der anderen Seite begonnen, von den Juden und den Polytheisten.“ Ahmad Al-Tayyeb: „Ja, wir verstehen auch aus dem Vers, dass diejenigen, die den Zustand der Feindseligkeit begannen oder ihn erklärten, nicht die Muslime waren. Sie haben ihre Feindseligkeit gegenüber den Juden und Polytheisten nicht bekundet. Es ist genau andersherum. […] „Das ist eine historische Tatsache, die sich nie ändern wird. Auch heute noch… Sehen Sie, wie wir unter dem globalen Zionismus und dem Judentum leiden. Wir Muslime haben im Laufe der Geschichte friedlich mit den Christen koexistiert. Das Aufkommen des Islam liegt 1.400 Jahre zurück, und doch leiden wir immer noch unter der jüdisch-zionistischen Einmischung in die Angelegenheiten der Muslime. Das bringt die Muslime in große Bedrängnis. […] „Sogar in ihrer Gesetzgebung gibt es sehr seltsame Dinge. Zum Beispiel ist es erlaubt, von Nicht-Juden Wucher zu verlangen. Dinge, die zwischen Juden verboten sind, sind zwischen Juden und Nicht-Juden erlaubt. Sie folgen einer schrecklichen, grundlegenden und bezeugten Hierarchie, und sie schämen sich nicht dafür, weil es in der Thora steht. Sie bezieht sich auf das Töten, auf die Versklavung und so weiter. Daher stellen sie ein Problem dar, das die Beziehungen nicht nur zu den Muslimen, sondern zu allen anderen Nationen behindert.“

Seit einigen Jahren wurde dem neurotischen Verhältnis der Deutschen mit ihrer eigenen Geschichte eine neue Ideologie hinzugefügt. Ich spreche vom Postkolonialismus, einer Ideologie, die darauf ausgerichtet ist, den Westen, die Menschen im Westen, deren Geschichte und Kultur zu dämonisieren und damit den Westen zu dekonstruieren. Die Postcolonial Theory Ideologie ist pseudowissenschaftlich und gänzlich politisch motiviert. Sie behandelt ausschließlich westliche Imperialismen und den westlichen Kolonialismus, während der arabische, der türkische, der aztekische, japanische, chinesische, russische Imperialismus komplett unberücksichtigt bleiben. Das ist durchaus gewollt, weil man den Menschen im Westen zeigen will, wie schlecht sie sind und wie schön doch die Welt wäre, wenn der Westen gar nicht existiert hätte. Aufgrund des selbstzerfleischenden Geschichtsverständnisses der Deutschen hat diese neue Ideologie in Deutschland einen fruchtbaren Boden gefunden. Die documenta 15, die im Jahr 2022 stattfand, war geprägt vom Postkolonialismus. Da die Postcolonial Theory Ideologie strukturell antisemitisch ist und die Postkolonialisten von der Vernichtung des Staates Israel träumen, war allerdings auch der Widerspruch vorprogrammiert. Auf der einen Seite stand das Geschichtsverständnis der Deutschen mit dem neurotischen Scham gegenüber den Verbrechen der braunen Vorväter gegenüber den Juden und auf der anderen Seite eine strukturell antisemitische Ideologie, deren Ziel ein zweiter Holocaust ist. Mit Staunen und großer Spannung beobachte ich seither den Balanceakt der Deutschen zwischen diesen beiden Ideologien und wie sie sich zwischen diesen beiden widersprüchlichen aber ebenso fragwürdigen Dogmen zu halten versuchen. Mal schauen, wohin diese Reise hinführt.

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