Es gibt Artikel zum Tragen des Mund-Nase-Schutzes, die zuerst darlegen, dass es verständlich ist, dass wir uns alle nach Normalität sehnen, dass dazu auch das Ablegen der Maske gehört, und die dann erklären, wieso dieses Bedürfnisses zwar verständlich, aber derzeit unvernünftig ist, und wieso wir weiter die Masken tragen sollten. Und es gibt Artikel, die erklären, wieso sicherlich die Kennzahlen zur Pandemie nicht prickelnd sind, wieso wir alle achtsam sein sollte, und wieso dennoch der Einzelne nun seine verfassungsmäßigen Freiheitsrechte wahrnehmen sollte, und dazu dann eben auch das Ablegen der Maske gehört. Dieser Artikel ist keines von beiden. Er wird ohne große Schlussfolgerung enden.
Ab morgen wird mutmaßlich in großen Teilen dieses Landes, vielleicht sogar des Bundes, viel von dem fallen, was wir in den letzten Jahren als Corona-Schutzmaßnahmen hinnehmen mussten und hinnahmen oder auch hinnehmen wollten. Und das wirkt paradox. Über lange Monate haben wir uns daran gewöhnt, auf Inzidenzwerte zu starren, und die sind hoch, wie nie. Irgendwas mit 1600, wobei es letztlich egal ist, ob sie bei 1600 oder 1700 liegen, sie sind weit entfernt von zweistelligen Bereichen, die man noch im letzten Jahr angestrebt hat. Das macht ein subjektives Bedrohungsgefühl, zunächst auch unabhängig davon, ob die Bedrohung objektiv wirklich gegeben ist. Wir haben gelernt: höher als 50 ist nicht gut, und jetzt sind wir beim 32fachen von 50. Das kann doch nur weiterhin nicht gut sein.
Jeden Tag sterben Menschen, viele Menschen, an Corona. Und nein, dieses mit-Corona-Gesabbel hat niemals überzeugt. Jeder einzelne Tote ist einer zuviel. Wie bei jeder Krankheit. Wir wollen nicht, dass Menschen an Krankheiten sterben. Eigentlich wollen wir so gut wie nie, dass Menschen überhaupt sterben. Bei kaum jemanden in seinem Umfeld tendiert man zu der Aussage: „Ach, Mensch, der Gerd könnte eigentlich auch mal sterben.“ So sind Menschen nicht. Wir kümmern uns umeinander, zumal wenn wir einander mögen. Und deswegen wollen wir nicht, dass jemand an Corona stirbt. Da wirkt es kalt, wenn vorgerechnet wird, wieviele Menschen jedes Jahr an Krebs, anderen Viruserkrankungen oder wasauchimmer sterben. Wir rechnen – normalerweise – Tote nicht gegeneinander auf. Und ist da nicht auch weiterhin das Gebot der Stunde, die Mitmenschen durch das Tragen eines kleinen Stoffes im Gesicht zu schützen?
Zumal: aus wissenschaftlichen Studien der letzten Jahre haben wir gelernt, wie unfassbar gut das Tragen von Masken ist, um die Übertragung von Viren, hier des Corona-Viruses, zu unterbinden. Das Corona-Virus ist noch da – wieso also nicht seine Übertragung weiterhin verhindern?
Alles nachvollziehbar. Die spannende Frage ist aber: ab wann wollen wir keine Masken mehr tragen – unabhängig davon, ob wir das müssen oder nicht? Wann ist für den Einzelnen der Punkt gekommen, an dem er sagt: OK, das war es jetzt mit der Maske – weg mit dem Ding?
Wenn ich mich umhöre, und zugegebenermaßen tue ich das in meiner Echokammer, dann sind die Meinungen dazu gemischt. Die überwiegende Zahl sagt, dass sie die Masken weiter tragen will, bis die Inzidenzen geringer sind, einige benennen einstellige Inzidenzwerte, oder gar den Wert null, oder gar keinen Wert. Dann hört man, dass es einschlägige Empfehlungen von Wissenschaftlern geben muss. Das Problem: welche Wissenschaftler? Ein Streeck? Ein Drosten? Ein Wieler? Ein Lauterbach? Ist Locker-Lauterbach überhaupt noch ein Wissenschaftler, jetzt, wo er Bundesgesundheitsminister ist? Muss ein Paper im Peer-review veröffentlicht worden sein? Oder eine Meta-Analyse? Es ist so einfach nicht. Einige sagen, dass sie die Masken dauerhaft tragen werden. Weil die Erfahrungen insgesamt so sind, dass auch andere Erkrankungen seltener vorkommen, und das persönliche Sicherheitsgefühl dadurch steigt. Löblich. Aber: Was ist, wenn eine kritische Anzahl von Menschen im Supermarkt die Maske eben nicht mehr trägt. Ab wann ergibt dann meine individuelle Maske keinen Sinn mehr? Bei 20% ohne Maske, 50%, 70%, 90%? Und wie lange fühle ich mich mit Maske dann noch wohl, und will mich anders verhalten, als die Mehrheit?
Der Mensch ist kein streng rationales Wesen. Das ist gut so. Wir handeln aus Liebe, Hass, Trauer, Zuneigung. Das macht uns zu Menschen. Man kann das auch negativer sehen – aber man kann die grundsätzliche menschliche Natur nicht ändern. Die Evolution hat uns über Jahrmillionen zu dem gemacht, was wir sind. Und wir haben damit eine unvergleichliche Zivilisation erschaffen, voller Gefühl für das Gute und Böse, für das Schöne und Hässliche, und die Fähigkeit uns über diese Gefühle auszutauschen. Gefühle werden letztlich darüber entscheiden, wann der Einzelne die Maske ablegt.
Die bisher beschriebenen Weiter-Trager priorisieren dabei die Emotionslagen wahrgenommener Sicherheit und des Mitfühlens – was die ehrlichere Benennung von Solidarität ist. Beides kann durch Fakten gestützt werden, aber nur mittelbar hergeleitet werden. Sicherheit entsteht, wenn ich weiss, und das auch fühle, dass eine bestimmte Handlung für mich – und/ oder andere – nicht zu unangenehmen Konsequenzen führt. Wirklich wissen kann ich es erst, wenn ich das Verhalten zeige, und dann nichts passiert. Deswegen schielen wir auf die Entwicklung der Inzidenzwerte nach Ende der Lockerungsmaßnahmen, im Übrigen davon ausgehend, dass „die Anderen“ sich eben nicht weiter an die Hygienemaßnahmen halten, wir „Vernünftigen“ aber eben doch – ob das eine vernünftige Annahme ist, sei einmal dahin gestellt. Es gibt den unter Psychologen verbreiteten Witz – der wie viele Psychologenwitze nur eingeschränkt lustig ist – nach dem ein Mann durch die Straße geht und immer wieder mit den Fingern schnippst. Ein Passant spricht ihn an: „Wieso machen Sie das?“ Der Schnipser: „Um die Tiger zu verscheuchen.“ Passant: „Aber hier sind doch keine Tiger.“ Schnipser: „Sehen Sie, es funktioniert!“ Der Schnipser weiss nicht, was passiert, wenn er nicht mehr Schnipsen wird – und seine subjektive Sicherheit erhöht sich durch Schnipsen. Hier können Fakten greifen, und genau dies würde man therapeutisch versuchen: objektiv zu reflektieren, ob es wirklich eine Bedrohung durch Tiger gibt, und dann Stück für Stück den Schnipser dazu bringen, eben weniger zu schnipsen, so dass er für sich fühlt, dass das OK ist.
Bei Corona ist es aber so, dass das Virus da ist, und eine Zeit da bleiben wird. Und tötet. Und der Schnipser eben für sich benennen muss, wann er bereit ist, der Faktenlage soweit zu trauen, dass er das Schnipsen bereit ist zu verringern. Aber wenn der Schnipser eines aus den letzten Jahren gelernt hat, ist es, dass die Faktenlage nicht sicher war, die Einschätzungen ändern, neue Erkenntnisse alte Erkenntnisse verdrängten – Wissenschaft funktioniert so, aber es fühlt sich nicht immer gut an.
Es gibt aber noch eine andere Art der Schnipser: diejenigen, die mittlerweile nur noch schnipsen, weil ihnen gesagt wird, dass sie dies tun müssen. Eigentlich sind sie des Schnipsens müde. Sie sehnen sich nach der Zeit zurück, in der man nicht schnipsen musste/ sollte/ wollte. Auch dahinter steht ein Gefühl: das Gefühl mittlerweile der Beengtheit der Massnahmen überdrüssig zu sein. Der Wunsch nach der alten Zeit, und ja, diese Zeit erscheint dann so unfassbar viel besser als die heutige Zeit. Es geht um persönliche Freiheit, um Unbeschwertheit. Die Maske ist dabei letztlich ein Symbol. Und Symbole haben starke Wirkmächtigkeit. Und sicherlich spielt auch ein Hauch Trotz gegenüber der ersten Gruppe mit hinein. Nicht vergessen werden darf dann auch noch der rettende Blick über die Grenze. Geht das Leben in Schweden nicht schon länger ohne Schutzmaßnahmen weiter? Ist das Tragen der Maske nicht Ausdruck deutscher Engstirnigkeit und Übervorsichtigkeit, der Angst vor dem Leben und seinen Gefahren als solchem?
Letztlich ist kein echter Dialog zwischen den beiden Gruppen möglich, oder nur schwer möglich: Gefühle sind schwerlich diskutierbar, weil die Gefahr besteht, dass der Eindruck entsteht, dass der eine dem anderen eben die Rechtmäßigkeit der Gefühle absprechen will. Dies wieder führt zur Verringerung der Bereitschaft der Empathie dem Ersteren gegenüber – und so weiter.
Dazu kommt, dass der Lockerungs-Lauterbach eine fatale Rolle spielt: lange Zeit war er die warnende Stimme. Nun aber sendet er Doppelbotschaften: als Gesundheitsminister verantwortet er die Lockerungen, gleichzeitig warnt er vor ihnen. Was das bei den Bürger auslöst, ist ihm egal, oder er ist zu schwach, das ein oder andere klar durchzusetzen. Er ist ein schwacher Gesundheitsminister, ein wohlinformierter gleichwohl. Aber das bringt eben den Bürger nicht weiter.
Dieser Artikel schließt nicht mit einer Conclusio, oder einem wohlmeinendem Ausgleich zwischen den Positionen. Es wird spannend sein, zu sehen, ob, und wenn ja wann, der Ausgleich in der Realität stattfinden wird.
Warum lese ich in dem ganzen Text nichts von der Hospitalisierungsrate? Habe ich das was übersehen, oder ist dir diese weitaus entscheidendere Zahl egal, Sebastian?
Erst mal danke für den unaufgeregten Ton des Beitrags. Der hat bei dem Thema Seltenheitswert.
Bei zwei Dingen würde ich gerne sachlich mäkeln wollen.
1. Wenn die Helios-Kliniken melden, sie hätten eine zweistellige Prozentzahl an Patienten mit Corona in ihren Häusern, aber nur eine handvoll Patienten, die wegen Corona behandelt werden müssen, was ist dann an dem Faktum wegen oder mit Corona verstorben unverständlich?
2. FFP2-Masken sind – korrekt eingesetzt – ein sehr wirksamer Selbstschutz.
Womit die Maskenpflichtfreunde, so scheint mir, hadern, ist eine schnöde Selbsterkenntnis: Sie halten das Masketragen für richtig, würden es aber selber auch nicht mehr tun, wenn sie damit auffallen würden. Das ist menschlich zwar nachvollziehbar, aber leider argumentativ wenig beeindruckend.
Es ist keine Schwäche über die man groß lästern muß, weil fast jeder bei ähnlichen Settings ähnlich handeln würde. Es ist aber auch kein Grund über Andersdenkende mit Verbalinjurien herzufallen, wie es andernorts gerne geschieht.
Welch eine angenehme, unaufgeregte aber unterhaltsame Schreibweise, Danke für den Beitrag.