Wolfgang Herrndorf hat sich das Leben genommen. In den Abendstunden des 26. August 2013, am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals, hat sich der Autor seine letzte Würde erhalten, indem er den Zeitpunkt seines Todes selbst wählte und nicht der Krebserkrankung überließ, die bei ihm 2010 diagnostiziert wurde. Von unserem Gastautor David Johansson.
Obwohl ich nur Herrndorfs „Tschick“ gelesen habe, und das auch noch sehr spät, als dieses grandiose Coming-of-Age-Roadmovie-Buch sich längst etabliert hatte, hat mich die Meldung unerwartet getroffen und tief bewegt.
Klar, wie viele habe ich nach der Lektüre von „Tschick“ die Recherche-Maschine angeworfen und bin bei Herrndorfs Blog gelandet, habe seine Einträge eine Weile verfolgt, mitgetrauert, aber irgendwann auch wieder das Ganze aus den Augen verloren. Das Leben geht schließlich weiter. Sagt man so, und so lange man das sagen kann, stimmt es ja auch, irgendwie.
Aber die Nachrufe zu Wolfgang Herrndorfs Tod, die Tatsache, dass er das Ende seiner Reise selbstbestimmt angetreten ist, haben in mir einen Flashback ausgelöst und eine Episode in meinem Leben wieder offengelegt, die ich hoffte vergessen oder zumindest verdrängt zu haben. Aber die menschliche Psyche ist ein grausames Arschloch und erinnert einen unerbittlich an die furchbarsten Dinge.
Es ist 1998 und mein Vater befindet sich in den letzten Zügen einer Krebserkrankung. Ein aggressiver Blasenkrebs, vermutlich ausgelöst durch mindestens zwei Schachteln Filterlose am Tag und nicht gerade mäßigen Alkoholkonsum.
Metastasen hier und da, vermutlich austherapiert, aber uns Kindern, mein Bruder ist 19, ich bin 17, sagt keiner was. Und wir fragen nicht.
Ich selbst habe keine Ahnung, wie eine Krebserkrankung abläuft, wie ein Mensch stirbt. Zeigt einem ja auch keiner in der Schule oder sonst wo.
Dass mein Vater bei uns zu Hause im Wohnzimmer, dürr wie ein Skelett, von der Familie gepflegt wird, ist für mich ein Zeichen, dass es aufwärts geht, weil ich in die andere Richtung nicht sehen möchte, und wieso sonst sollte man ihn denn wieder zu uns nach Hause lassen, während meine Mutter als einzige der Familie genau weiß, dass sich unser Wohnzimmer in ein kleines Hospiz verwandelt hat.
Als mein Vater sich noch verständlich ausdrücken konnte redete er manchmal davon, dass es gut wäre, den Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen, z.B. mit einem Auto mit voller Absicht gegen eine Wand zu fahren, das wäre doch was.
Jetzt liegt er da und für die Chemotherapie in Witten müssen wir ihn zu zweit in einen Rollstuhl heben, den er eigentlich zum Kotzen findet. Würdelos.
Einmal liegt er nachts wimmernd auf dem Boden, weil er sich mit letzter Kraft aus dem Bett geschoben hat.
Es ist drei oder vier Uhr, aber mein Vater möchte gerne zu seinen Freunden in die Stammkneipe.
Wo niemand ist, die geschlossen hat, aber mein Vater liegt auf dem Boden und weint wie ein kleines Kind, weil er möchte, dass alles wieder so, wie vor dem Krebs ist.
Trotzdem glaube ich noch immer, dass es bald bestimmt wieder aufwärts geht.
Und dann kommt der Tag der schwersten Entscheidung meines Lebens.
Mein Bruder ist nicht da, meine Mutter muss kurz einkaufen, ich bleibe bei meinem Vater. An Hausaufgaben ist eh nicht zu denken, Schule seit Monaten egal.
Erst sitze ich nur so da, dicht neben meinem Vater,
frage ihn, ob er Wasser haben möchte oder ob ich Miles Davis anmachen soll oder den Fernseher, ob ich ein Fenster öffnen soll oder, herrgott noch mal, ob ich ihm irgendwie helfen kann mit irgendwas.
Es bilden sich Tränen in den Augen des gerade einmal 52 Jahre alten Mannes.
Ganz langsam kommen die Worte mit einer Stimme, die fremd klingt.
Mein Vater bittet mich, ihn umzubringen.
Ich bin 17 Jahre alt, der einzige im Haus, und mein Vater bittet mich, ihn umzubringen.
Stille umgibt mich.
Es gibt eine Pistole im Haus, auch Munition.
Beides ist im Schrank über dem Fernseher versteckt, hinter Meyers Konversationslexikon von 1889.
Ich weiß das und mein Vater weiß, dass ich es weiß.
Die Pistole stammt von einem Mandanten und muss aufbewahrt werden, weil sie mal Teil irgendeines Verbrechens war.
Eigentlich gehört sie weggeschlossen, aber mein Vater, der Anwalt, hat sie dort gelagert, falls es irgendwann mal einen Einbruch geben sollte.
Eigentlich völlig absurd, eine Pistole hinter schweren Büchern in einem hohen Schrank aufzubewahren, wenn man sich damit im Zweifelsfall wirklich verteidigen möchte. Menschen sind nicht logisch.
Ich rücke einen Stuhl zum Schrank, öffne die oberen Regaltüren und wühle hinter der alten Gesamtausgabe.
Ich finde Waffe und Patronen, der Mechanismus ist wie im Fernsehen, es ist ganz einfach, die kleinen Metallkörper ins Magazin zu bekommen.
Ja, ich finde Waffe und Patronen, aber nicht den Mut, meinem Vater den Wunsch zu erfüllen.
Ich bin zu schwach, ich versage massiv, obwohl ich vorher eigentlich fest entschlossen war.
Statt meinem Vater eine Kugel, schießen mir Gedanken durch den Kopf.
Was, wenn in zwei Wochen ein Wundermittel gefunden wird?
Was, wenn er durch die Metastasen im Kopf nicht mehr klar denkt und das eigentlich gar nicht will?
Was meiner Mutter sagen, wenn sie zurückkommt?
Scheiße, scheiße, scheiße. Ich kann das nicht.
Kann das irgendjemand?
Ich lege die Waffe zurück, schließe die Regale und stelle den Stuhl zurück.
Ein Vogel fliegt gegen die Scheibe. Es ist eine Elster, ich erschrecke kurz.
Mein Vater und ich sehen uns an, er nickt bzw. versucht zu nicken, weil er versteht, was er mir beinah gerade angetan hätte und als meine Mutter zurückkommt, sieht es so aus, als wäre nichts geschehen. Es ist August.
Im September 1998 stirbt mein Vater an einem sonnigen Tag.
Er wird Geschichte und Geschichten.
Ich werde vermutlich nie verstehen, warum er mich damals um diese eine Sache gebeten hat.
Warum nicht meinen Bruder, warum nicht meine Mutter?
Verdammt, warum nicht den Arzt, der ein Jugendfreund meines Vaters war und sowieso schon die Schmerzen mit allzu großzügigen Morphiumgaben eindämmte?
Mein Vater wollte sich nicht die Blöße geben oder schwach erscheinen, das war es.
Aus irgendeinem Grund konnte er das bei mir.
Und jetzt, 15 Jahre später, mit Wolfgang Herrndorfs Freitod konfrontiert, meldet sich meine verdammte Psyche und sagt mir: Du hättest es tun sollen, denn dein Vater konnte nicht mehr.
Aber die Wahrheit ist, dass es mich zerrissen hätte für den Rest meines Lebens. Es wäre richtig gewesen. Und es wäre falsch gewesen.
Es tut in beide Richtungen weh.
Vielen Dank für diesen Text…
Ich schließe mich dem Dank an.
Ich wollte meiner Großmutter diesen Wunsch erfüllen, aber ich habe mich nicht getraut.
Hermann van Veen: Der Mann der so gerne nicht mehr leben wollte: https://www.youtube.com/watch?v=F2cEaWQVsUU Das Lied berührt mich sehr.
Danke.