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Die Alternative für Deutschland (AfD), die teilweise als rechtsextrem eingestuft wird, plante ihren Wahlerfolg in Nordrhein-Westfalen in Gelsenkirchen zu feiern – einer Stadt, die seit Jahrzehnten dramatisch vom Strukturwandel und dem Niedergang der Industrie betroffen ist. Jedes zweite Kind lebt hier in Armut. Mit einer Arbeitslosenquote von 15,4 Prozent, der höchsten in Deutschland, ist Gelsenkirchen in vielen Quartieren ein sozialer Brennpunkt. Das Durchschnittseinkommen beträgt gerade einmal 18.000 Euro im pro Jahr. Rund 50 000 Menschen der 260 000 Einwohner leben hier vom Bürgergeld. Es gibt in der Stadt rund 6000 Wohnungen in sogenannten Schrotthäusern und viele von ihnen sind bewohnt. Hier dominiert die Armutszuwanderung aus Osteuropa und Sozialbetrug, der von kriminellen Schleusern und Vermietern organisiert wird.
Für die Wahlparty hatten sich prominente Parteimitglieder angekündigt. Darunter die in Albanien geborene Kreissprecherin Enxhi Seli-Zacharias, die einzige Frau in der 12-köpfigen Landtagsfraktion, sowie der NRW-Spitzenkandidat Kay Gottschalk. Auch der Landesvorsitzende Martin Vincentz wollte nicht in der Landeshauptstadt Düsseldorf, sondern im Gelsenkirchener Stadtteil Feldmark feiern. Die AfD hoffte, hier im Herzen des Ruhrgebiets und einstigen Zentrum der Sozialdemokratie, ein Direktmandat zu gewinnen.
Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Zwar erzielte die AfD mit 24,7 Prozent die meisten Zweitstimmen in Gelsenkirchen und lag damit knapp vor der SPD mit 24,1 Prozent. Dennoch reichte es nicht für ein Direktmandat, denn das ging an die SPD. Dieses Ergebnis spiegelt die politischen Verschiebungen in einer Stadt wider, die einst als Hochburg der SPD galt.
Obwohl der Ort der Party im Vorfeld absichtlich nicht bekannt gegeben wurde, haben sich etwa 20 Antifaschisten vor dem Lokal versammelt. Die anwesende AfD Prominenz fühlte sich massiv gestört und belagerte den Einsatzleiter der Polizei, dass er polizeiliche Maßnahmen einleiten soll und die Personalien feststellt. Sogar das BKA wurde ins Spiel gebracht und Beschwerden beim Innenminister angekündigt.
Das Ende der SPD?
Markus Töns hat zwar sein Direktmandat verteidigen können, aber die historische Niederlage der SPD geht auch auf sein Konto. Sein kurzes Interview in der WAZ verrät leider, dass er die Lage in Gelsenkirchen immer noch nicht verstanden hat: „Indem mein Team und ich hart gekämpft haben. Wir haben extrem viel gemacht: Haustürwahlkampf, wir waren um vier Uhr morgens bei minus vier Grad vorm Werkstor. Am Ende zählt, dass man ansprechbar ist für die Leute, und zwar über die Jahre, nicht nur im Wahlkampf. Man muss offen mit den Menschen über Probleme reden, ohne etwas zu beschönigen“. Viele Werkstore gibt es in der ehemaligen Stadt der Tausend Feuer leider nicht mehr. Seppelfricke und Küppersbusch sind schon seit Jahren Geschichte. Aktuell sind mehr als 2000 Arbeitsplätze bei BP bedroht, weil der Konzern sein Engagement in der Stadt beenden will, und die Anlagen stehen zum Verkauf. Das Töns Wahlkampf mit roter Marmelade als Werbegeschenk ihn nach Berlin befördert hat, entspricht nicht der Realität. Viele Menschen haben das Kreuz bei ihm gemacht, viele wohl zum ersten Mal, um den Kandidaten der AfD zu verhindern. Das zeigen Gespräche mit den Menschen in seinem Stadtteil Feldmark schon vor dem Wahltag. Politik ist wieder ein Thema in der Stadt. Die SPD hat die Probleme mit der Armutszuwanderung lange beschönigt. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Wenn ich das auf Veranstaltungen angesprochen und bei Pressekonferenzen nachgefragt habe, dann wurde das geleugnet und mir eine rechte Haltung unterstellt. Die Brandbriefe der Gelsenkirchener SPD mit der Bitte um Hilfe, sind erst vor ein paar Wochen an Olaf Scholz abgeschickt worden.
„Aber in Berlin wird selten darauf geachtet, denn andere Regionen haben diese Probleme nicht. Ich verstehe die Unzufriedenheit“, heißt es an anderer Stelle in dem Interview. Seit 1998 war die SPD mit einer Auszeit von vier Jahren an allen Bundesregierungen beteiligt. Also hat die SPD nicht auf die Probleme und Nöte in der Emscher Region geachtet. Markus Töns war 8 Jahre als Abgeordneter in Berlin und muss sich fragen lassen, was er für seine Heimatstadt erreicht hat.
Habeck auf Zeche
Vor einigen Jahren kam Robert Habeck zu einer Wahlkampfveranstaltung in die Zeche Oberschuir. Früher einmal ein Ort für Arbeit und Wohlstand, heute ein langsam zerfallender Ort für Kulturveranstaltungen. Er wurde konkret auf die Probleme der Stadt Gelsenkirchen angesprochen und welche Lösungen sich seine Partei vorstellt. Konkret versprach er eine Regelung der Altschulden der Kommunen, die Bekämpfung der Kinderarmut und eine Regelung für die Armutszuwanderung aus Osteuropa. Das Ergebnis seiner Zeit als Wirtschaftsminister der Ampelregierung ist bekannt. Von den notwendigen Maßnahmen ist nicht eine einzige umgesetzt worden, wobei die Altschuldenregel noch vor Ampelende beschlossen werden sollte.
Polizeipräsidenten und -innen
Die Stadt ist geprägt durch Kleinkriminalität, Diebstähle, Angriffe jugendlicher Gruppen auf Gleichaltrige, organisierten Sozialbetrug und kriminelle Schleusernetzwerke. Beim Lagebild Clankriminalität von Innenminister Herbert Reul (CDU) liegt Gelsenkirchen auf dem vierten Platz in NRW. Ein falsches Bild, denn bezogen auf die Zahl der Einwohner übernimmt die Stadt die Tabellenführung. Der neue Polizeipräsident Tim Frommeyer beschäftigt sich in erster Linie mit der organisierten Fanszene von Schalke 04, dem Verbot von Pyrotechnik im Stadion und der Fotofahndung nach vermeintlich gewalttätigen Fans. Damit macht er es seiner Vorgängerin im Amt gleich. Britta Zur nutzte Gelsenkirchen als politisches Sprungbrett und gehört jetzt zum Vorstand der Deutschen Bahn. In ihre Zeit fällt auch das Pilotprojekt Integrative Präventionsarbeit (IPA) in Ückendorf-Nord. Hier sollten Sozialarbeiter, Polizei und Ordnungsdienst als Ansprechpartner für die Bürger dienen. Gleichzeitig sollte die Integration der Zuwanderer verbessert werden. Bis zur Eröffnung des gemeinsamen Ladenlokals gingen 18 Monate ins Land und heute stehen die Bürger oft vor verschlossenen Türen. Geändert hat sich Stadtteil nichts. Maßnahmen gegen Fußballfans und Symbolprojekte sind eine bewährte Strategie für Aufmerksamkeit. Doch während solche Aktionen mediale Resonanz finden, bleibt die Bekämpfung organisierter Kriminalität eine deutlich größere Herausforderung.
Ein Blick zurück
Es wird gerne vergessen, dass Gelsenkirchen in der Vergangenheit immer schon ein guter Ort für rechte Parteien und Organisationen war. Vor dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) waren im Stadtrat von Gelsenkirchen bereits mehrere rechte Parteien vertreten. Die Republikaner (REP) erzielten bei der Kommunalwahl 1989 7,4 Prozent der Stimmen und erhielt fünf Sitze im Stadtrat. Bei der Kommunalwahl 2009 erreichte Pro NRW 4,3 Prozent. In der Nachkriegszeit war auch die Deutsche Zentrumspartei (DZP) im Stadtrat mit einem zweistelligen Ergebnis vertreten. In den 1980er Jahren fanden in Gelsenkirchen mehrfach Veranstaltungen der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG) am Volkstrauertag auf dem Friedhof Auf der Hardt statt. Die HIAG, gegründet in den 1950er Jahren, setzte sich für die gesellschaftliche Rehabilitation und juristische Unterstützung ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS ein. Ihre Aktivitäten stießen jedoch auf breite Ablehnung, da sie oft versuchten, die Verbrechen der SS zu relativieren oder zu leugnen. Trotz des öffentlichen Drucks fanden diese Treffen in den 1980er Jahren weiterhin statt, was auf die damals bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen und den Einfluss der HIAG zurückzuführen war. Erst durch gemeinsame Aktionen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) und der Autonomen Antifa wurde die Politik genötigt, die Friedhofssatzung zu ändern und solche Veranstaltungen zu verhindern. Nazis waren in den 80er Jahren auch auf der Straße aktiv. Es gab einen Brandanschlag von Neonazis auf die damalige Schulleitung des Ricarda Huch Gymnasiums, die sich besonders um Integration türkischstämmiger Schüler und Schülerinnen eingesetzt hat.
Strategie der gesellschaftlichen Hegemonie
Das die AfD ausgerechnet in dem eher bürgerlichen Stadtteil Feldmark zur Wahlparty einlädt ist kein Zufall, sondern kann als gut überlegt eingestuft werden. Im idyllisch gelegenen Restaurant „Waldhaus am See“ kommen in erster Linie Menschen mit etwas höherem Einkommen zum Essen. Die Partei verfolgt nicht nur die Strategie über die Parlamente, sondern will die gesellschaftliche Hegemonie erreichen. Dabei orientieren sich ihre Vordenker an Konzepten von Antonio Gramsci, einem Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens. Dies bedeutet, dass sie versuchen, gesellschaftliche Diskurse zu beeinflussen und langfristig die kulturellen und politischen Werte zu verändern, bevor sie direkte politische Macht anstreben. Durch gezielte mediale Präsenz, die Besetzung bestimmter Themenfelder und die Einflussnahme auf öffentliche Debatten versucht die Partei, die kulturelle Hegemonie zu verschieben und ihre politischen Ziele zu fördern. Dazu gehört auch das Eindringen in bürgerliche Zusammenhänge und Orte, die ihnen bisher verschlossen waren.
Der Inhaber des Waldhauses hat selbst einen migrantischen Hintergrund und sieht in der AfD eine normale Partei. Die Vermietung wird als rein geschäftlicher Vorgang betrachtet. Und die Kritik daran als „kommunistisch“ abgetan. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der zweite Geschäftsführer des Waldhauses Ulrich Nickel ist. Nickel ist mit seinem Reiseunternehmen ein bekannter Unternehmer in der Stadt, der mit seiner Stiftung soziale Projekte unterstützt. Auf unsere Nachfrage zu seinem Verhältnis zur AfD hat er bisher noch nicht geantwortet.
Ein Programm für die Besserverdienenden
In der Stadt haben 30 032 Menschen mit der Zweitstimme AfD gewählt. Das geschieht ganz unabhängig davon, was die Partei zur Lösung der lokalen Probleme anbietet. Bisher gibt es nur den Verweis auf die Migration, die für alles verantwortlich gemacht wird. Die Probleme in Gelsenkirchen haben allerdings bereits weit vor 2015 begonnen und liegen viel tiefer. Ein Blick ins Wahlprogramm der AfD zeigt, dass Menschen mit weniger Einkommen noch weniger Geld bekommen sollen, aber die Spitzeneinkommen 20 000 Euro mehr zur Verfügung haben werden. Die nächste Wahl zum Rat der Stadt und der Wahl eines neuen Bürgermeisters steht schon im September auf der Tagesordnung. Entscheidend wird sein, welche Konsequenzen die Parteien aus ihrer Niederlage ziehen.
Die richtigen Prioritäten setzen
Die Band Tocotronic singt auf ihrem aktuellen Album von der Bedrohung der demokratischen Gesellschaft: „Diese Menschen sind gefährlich, denn sie wissen, was sie tun. Darum muss man sie bekämpfen, denn es werden immer mehr“. Dabei könnte es so einfach sein. Studien und Befragungen gehen davon aus, dass eine lösungsorientierte Politik autoritäre Einstellungen und die rechte Wählerschaft zurückdrängt.
Schon vor drei Monaten rief der Chefredakteur der WAZ Andreas Tyrock die Parteien zum Wachwerden auf: „Wir wollen ernst genommen werden, wir wollen wertgeschätzt werden, wir wollen, dass Politik uns zuhört, wir wollen beteiligt werden. Und wir wollen, dass Politik sich um die Themen kümmert, die wirklich wichtig sind: Arbeit, Wohnen, soziale Gerechtigkeit, Bildung für unsere Kinder mit einem vernünftigen Schul- und einem ausreichenden Kita-Angebot. Wir wollen in Städten leben, die nicht verwahrlosen und so sicher wie möglich sind. Ja, wir wollen Menschen helfen, die Hilfe brauchen. Aber es muss leistbar sein. Und wir wollen nicht ausgenutzt werden von Menschen, denen dieses Gemeinwesen egal ist. Wir wissen, dass früher nicht alles besser war, aber wir wissen auch, dass vieles besser sein könnte, wenn diejenigen, die entscheiden und gestalten, die richtigen Prioritäten setzen würden. Wir stehen zur Demokratie. Und wir haben euch noch nicht aufgegeben, ihr etablierten Parteien, aber wacht endlich auf!“