Im Juli 2022 sahen Meinungsforschungsinstitute die Grünen in der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl bei 25 bis 27 %. Noch im Oktober titelte der Focus „Grüne: In 12 von 16 Ländern regieren sie bald mit“. Weniger als ein Jahr später ist Ernüchterung eingekehrt. In Umfragen zur Bundestagswahl steht die Partei aktuell noch bei 12 – 16 %, in Bayern droht ein erheblicher Verlust von Sitzen und in den neuen Bundesländern könnten die Grünen in den kommenden zwei Jahren den Einzug in Landtage verpassen.
Jetzt sind Umfragen immer mit Vorsicht zu genießen, das steht außer Frage. Ein Trend aber ist zweifellos erkennbar. Die Gründe für diesen Trend sind vielschichtig, erinnern aber in frappierender Weise an die SPD der Merkel-Jahre. Und ähnlich wie die SPD wähnen sich auch die Grünen in der Rolle des Opfers. Von einer beispiellosen medialen Kampagne gegen die Grünen war im Kontext des Wärmeenergiegesetzes die Rede. Die Positionierung als arme Opfer nahm hierbei derartig obskure Züge an, dass selbst die taz titelte „Schuld sind alle anderen“.
Was die Grünen aktuell erleben ist jedoch weder keinesfalls beispiellos, es ist das Ankommen in der Realität. Die Grünen haben sich emanzipiert und treten nicht mehr nur als Anhang eines großen Koalitionspartners auf, sondern vertreten den eigenen Führungsanspruch in der Koalition selbstbewusst. Das erste Mal in der Parteigeschichte muss die Partei aber auf Bundesebene auch mit dem Lebensblut der Demokratie umgehen: Widerspruch. Auch in den Medien. Dass Medien hierbei mal mehr, mal weniger sachlich das politische Handeln kommentieren, ist Ausdruck der Pressefreiheit und der erwachsene Umgang hiermit integraler Bestandteil des politischen Tagesgeschäfts.
Parteien werden seit jeher stellvertretend als politischer Arm gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bewegungen und Gruppen verstanden, auch wenn diese gar nicht integraler Bestandteil der Partei sind. Das ist nicht trennscharf und der Partei selbst gegenüber genauso wenig gerecht, wie der Vorwurf, die FDP bestünde aus Hotelbesitzern, aber es ist eben Teil der tagespolitischen Realität. Jede Partei hat ihre Milieus und Wähler, das ist ebenso.
Im Falle der Grünen sind dies aktuell insbesondere die Klimaaktivisten, sprich Fridays for Future und die Letzte Generation. Über Jahre ist so eine inhomogene Gruppe gewachsen, die in der öffentlichen Darstellung und Wahrnehmung zu einer Bewegung geworden ist, die im Glauben an die völlige Alternativlosigkeit des eigenen Handelns gelernt hat, dass die eigenen Forderungen quasi per Definition positiv kommuniziert und eines Tages über die Grünen in politische Realität überführt werden. Getragen von einem Gefühl „das Richtige“ zu tun und einem medialen Zeitgeist, der insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Angeboten zu zumeist sehr positiv Rezeptionen führte, muss die Partei nun nebulöse Ideen und Forderungen in konkrete politische Maßnahmen, sprich Gesetze, überführen.
Für die Wähler hat dies Konsequenzen. Konnte man die Grünen bisher für das gute Gewissen und den wenig konkreten Feel-Good Ansatz „Wir müssen da was tun!“ wählen, bekommt die eigene politische Entscheidung jetzt ein Preisschild. Im Falle des Heizungsgesetzes war dies so hoch, dass zahlreiche Menschen Angst um ihren Wohlstand und ihre Existenz bekamen.
Dies führt zu Widerspruch und Diskussionen. Das ist Demokratie. Gesetze werden nicht von Gott gegeben, sondern sind am Ende ein parlamentarischer und auch gesellschaftlicher Kompromiss. Doch anstatt diesen Reaktionen und Sorgen Rechnung zu tragen, gehen Partei und politischer Dunstkreis den Weg der SPD. Bar jeder Selbstreflexion reagieren sie mit noch extremen Ideen und Forderungen.
Die Quintessenz politischen Handelns scheint dabei noch nicht angekommen zu sein: Politik ist ein Angebot. Und Angebote sind nie alternativlos. Und genau hier besteht der Konflikt zwischen politischer Partei und ideologischer Basis. Die Grünen werden von Gruppen getragen, die häufig glaubt, dass das eigene Handeln über jeden Zweifel erhaben und moralisch unfehlbar ist. Ein Ansatz, der umso mehr auf die eigenen Füße fällt, wenn Skandale wie die Graichen Affäre bekannt werden. Auch hier wurde keine „mediale Hexenjagd“, wie häufig kolportiert, veranstaltet. Es war der gleiche Umgang mit Skandalen, den andere Parteien längst kennen. Den Grünen und dem zugehörigen Dunstkreis mangelte es hier an Professionalität und Coolness.
Und noch mit einer zweiten Erkenntnis muss umgegangen werden: Entgegen dem Eindruck, man spreche quasi für „die Gesellschaft“ wird eben im Kern nur ein kleines Spektrum der Gesellschaft vertreten. Eine reale Mehrheit vertritt weder die Partei noch der gesellschaftliche Dunstkreis. Für Splittergruppen dieses Dunstkreises, wie beispielsweise die von Luisa Neubauer geführte „Fridays for Future“ Bewegung, die zuletzt sogar meint, qua Existenz und im Duktus päpstlicher Unfehlbarkeit politische Forderungen diktieren zu können, eine gänzlich neue Erfahrung. Die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, scheint indes aber unmöglich. Wie tief mittlerweile die Gräben innerhalb des grünen Spektrums sind, zeigte eine Diskussion zwischen Neubauer und Habeck, bei der sich beide regelrecht angifteten. Neubauer ließ sich zur Aussage hinreißen, „die Zivilgesellschaft werde nicht ewig schlucken, was man im Wirtschaftsministerium macht“. Dass die politische Entscheidung „der Zivilgesellschaft“ aktuell mutmaßlich zu einem Stimmverlust führte, wäre an diesem Wochenende Bundestagswahl, scheint unbemerkt zu bleiben.
Auffällig ist auch insbesondere, dass ja nicht das „linke“ politische Spektrum von dieser Entwicklung profitiert, sondern gerade mit der AfD eine diametral zu den Grünen stehende Partei. Und genau hierin besteht auch die Gefahr.
Umwelt- und Klimaschutz als politische Ziele sind nicht falsch, im Gegenteil. Während des letzten Bundestagswahlkampfes und der Sondierungsgespräche im Nachgang haben die Grünen es verstanden, sich sehr erfolgreich als die Partei zu positionieren, die Klimaschutz mit vernünftiger politischer Realität verbinden wollte. Genau dieser Ansatz der Vernunft ist jedoch zuletzt wieder den altbekannten, ideologischen Grabenkämpfen gewichen. Es ist ein mittlerweile weitreichend bekanntes Phänomen, dass überideologisierte Politik insbesondere politischen Rändern dient. In den jüngsten Wahlumfragen zeichnet sich ab, dass die AfD aktuell beste Chancen hätte, zweitstärkste Kraft im deutschen Bundestag zu werden. In den neuen Bundesländern ist die AfD mittlerweile sogar stärkste Kraft.
Ideologisch unnachgiebige Positionen und absolute Wahrheiten öffnen auch die Tür für Populismus. Zahlreiche der Argumente, die zuletzt beispielsweise gegen Wärmepumpen ins Feld geführt wurden, waren völliger physikalischer Blödsinn, der aber im weißen Rausch zweier unvereinbar aufeinanderprallender Gruppen untergeht. Die Folge ist eine Verschiebung der Debatte in einen immer tieferen und unüberwindbareren Graben. Ein grundlegend sinnvolles Ziel wird so konterkariert und der sachliche Diskurs über das Ziel und sinnvolle Maßnahmen erschwert. Auch hier zeigt sich die Parallele zur SPD, der es über Jahre nicht gelungen ist, grundlegend sinnvolle, sozialpolitische Ansätze und Ideen in der politischen Realität zu verankern.