»Der Brexit wird zigtausende von Arbeitsplätzen kosten«

Brexit: Wahllokal 2016 Foto: LavaBaron Lizenz: CC BY-SA 4.0

An der Universität Manchester unterrichtet Dr. Edgar Klüsener seine Studenten in den Fächern Neuerer Geschichte, Soziologie und Politik. Geboren ist er im Jahr 1962 in Herne, aufgewachsen ist er in Hagen. Seit 1998 wohnt der Westfale mit Frau und drei Töchtern in Manchester. Dort bekommt der Historiker und Autor mit deutschem Pass die Umwälzungen des Brexits direkt vor der eigenen Haustür mit. Doch der Kontakt zur alten Heimat ist noch nicht abgebrochen – noch regelmäßig besucht Edgar seine Eltern, die nach wie vor im Ruhrgebiet wohnen. Im Gespräch probiert Klüsener die vielen Widrigkeiten und Verwirrtheiten rund um den Brexit aufzuzählen.

Hallo Edgar Klüsener, wie nimmst du gerade die Stimmung in Großbritannien wahr?

Edgar Klüsener: »Es gibt zwei Aspekte, der eine ist natürlich, dass ich persönlich betroffen bin. Die Lage ist etwas kompliziert: ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, meine Frau die amerikanische und die englische, meine Kinder nur die britische. Je nachdem wie nun die Rolle von den EU-Bürgern geregelt wird – und das ist alles andere als klar im Moment – stehen wir nach dem Brexit vor einem echten Problem, wo wir dann leben können. Das ist in etwa meine persönliche Stimmung. Generell nehme ich eine sehr fremdenfeindliche Stimmung wahr, das Referendum und die dazugehörigen Kampagnen stellten klar heraus, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung keine Lust auf Ausländer hat.

Es gab einen BBC-Reporter der gesagt hat, dass speziell die deutsche Rolle für sehr viele Missverständnisse in der britischen Bevölkerung gesorgt hat. Nimmst du das auch so wahr?

»Ich glaube die Flüchtlingskrise im Allgemeinen hat da jetzt weniger reingespielt, aber speziell das Gefühl nach der weltweiten Wirtschaftskrise 2008/2009 ist sicher ein nicht zu unterschätzender Faktor. Denn die einzigen, die davon in der EU profitiert haben, das sind die Deutschen. Die EU und der Euro wird immer mehr als ein Instrument deutscher Machtpolitik wahrgenommen – so vor allem von der politisch rechten Szene hier in Großbritannien. Da werden so Stimmen laut wie: „Was soll das Ganze? Wir haben zwei Weltkriege gewonnen – und jetzt bestimmen die Deutschen wieder wo es lang gehen soll.“

Das klingt schrecklich…

»Ja! Was aber völlig vergessen wird, ist, dass Entscheidungen auf EU-Ebene unter Mitwirkung der Briten getroffen worden sind. Sie haben die wirtschaftliche Marschrichtung mitbestimmt. Auch die ganze Ost-Erweiterung hätte es ohne das United Kingdom nicht gegeben. Das andere Argument war natürlich: es kommen 80 Millionen neue Bürger durch den angeblichen Beitritt der Türkei in die EU, das hat hier Riesen-Schlagzeilen gemacht.«

Es ist außerdem ziemlich unfassbar, dass derzeit viele jüdische Briten gerade an der deutschen Botschaft Schlange stehen, weil sie die Staatsangehörigkeit wechseln wollen. Das sind unvorstellbare Begleitumstände, das der Antisemitismus plötzlich wieder so große Schatten in den europäischen Ländern wirft…

»Ja, das ist einfach grausam.«

Wie klingen derzeit die Gespräche von den Bürgern auf der Straße und an der Supermarktkasse – was nimmst du da wahr?

»Die Stimmung ist ganz klar, dass die Leute sagen, dass wir hier unter einer totalen Überfremdung leiden und das es besser wäre, wenn Großbritannien seine Geschicke besser allein in die Hand nimmt – ganz frei von der Dominanz von Brüssel und auch von Berlin. Diese Meinung wird auch unter meinen Freunden so vertreten, also von Leuten, die eigentlich relativ aufgeklärt sind.«

Viele Prominente, angefangen von Fußballtrainer Jürgen Klopp bis zum Slade-Sänger Noddy Holder, haben sich sehr kritisch zum Brexit geäußert. Manche verteidigen die Entscheidung, wie zum Beispiel Iron Maiden-Sänger Bruce Dickinson oder Beatles-Drummer Ringo Starr. Welche Äußerung zum EU-Austritt hast du als besonders falsch empfunden?

»Ich schüttle extrem mit dem Kopf, wenn ich höre, was Morrissey zu dieser Thematik zu sagen hat – aber er steht leider stellvertretend für weite Teile der Bevölkerung und ist nicht der einsame Verrückte auf den Weiten des Flures. Und Ex-Oasis-Kopf Noel Gallagher, der erst gar nicht zur Wahl gegangen ist – nun, da habe ich jetzt nicht mit gerechnet, dass der sich irgendwie „vernünftig“ äußern würde. Und bei Ringo Starr ist es ja so, dass vor allem diese Generation der Älteren für den Brexit gestimmt hat. Alle die noch unter 40 Jahre alt sind – da hat die überwiegende Mehrheit sich für den Verbleib in der europäischen Union ausgesprochen.«

Wird Jürgen Klopp denn von der britischen Bevölkerung als Meinungsgeber ernst genommen? Oder gibt es da Vorbehalte, weil er aus Deutschland kommt?

»Die Meinung von Klopp hat schon Gewicht. Er hat sich in den letzten zwei Jahren einen unglaublichen Respekt erarbeitet. Klopp hat ja vorgeschlagen, dass es eine zweite Abstimmung zum Brexit geben soll – und theoretisch wäre das auch möglich. Das Referendum an sich ist eh ein bisschen merkwürdig. Es hat im Vorfeld schon einige Merkwürdigkeiten gegeben – unter anderem, dass britische Staatsbürger, die im EU-Ausland arbeiten und leben, in großen Anteilen von der Wahl ausgeschlossen worden sind. Also ausgerechnet die, die am meisten betroffen davon sind. Es gab da eine Regelung, dass derjenige, der länger als 15 Jahre im europäischen Ausland lebt, in Großbritannien kein Stimmrecht mehr hat. Und das betrifft mal eben weit über eine Million Bürger.

Das ist nicht gerade wenig…

»Außerdem sind da mit nicht die Rentner gemeint, die in Spanien oder Italien leben – sondern größtenteils Leute, die von britischen Firmen ins Ausland geschickt worden sind. Das ist schon ziemlich kurios und nicht sonderlich demokratisch, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und Leute wie zum Beispiel meine Wenigkeit, die aus anderen europäischen Staaten kommen, waren auch von der Wahl ausgeschlossen. Mit der Ausnahme aber von Inseln wie Malta oder Zypern, weil Bürger des Commonwealth stimmberechtigt waren. Auch kanadische Studenten oder australische Zeitarbeiter durften abstimmen – und haben auch abgestimmt.«

Gibt es denn schon einen Fahrplan wie es wirtschaftlich nach dem Brexit weitergehen soll?

»Diese Frage beantwortet sich heute fast von selbst. Ende April 2018 sind die neuen Wachstumsdaten für das erste Quartal herausgekommen: die britische Wirtschaft ist in dieser Zeitphase nur um 0,1 Prozent gewachsen. Es gibt Zudem Autofirmen, die mittlerweile die Produktion herunterfahren. Und neben dem Service-Sektor lebt Großbritannien vor allem von der Autoproduktion. Falls es jetzt zu einem Austritt ohne Zollunion kommt, wird es ganz extrem schwierig für die Zulieferketten – und dann wird die Produktion viel eher auf das europäische Festland verlegt werden. Das gilt für General Motors, für Nissan und Toyota – eigentlich für fast alle Hersteller. Das wird zigtausende von Arbeitsplätzen kosten, die ersten 2-3.000 sind jetzt schon weggefallen. Weiter geht es mit der Service- Industrie. Wenn da jetzt viele zugewanderte Arbeitnehmer ihren Passport verlieren, ist das ganz besonders bitter für diesen Branchenzweig. Dann Gnade Ihnen Gott.«

Durch die Digitalisierung gibt es bald selbstfahrende LKWs und ein computergesteuertes System ohne Sachbearbeiter bei Stadtverwaltungen und im Bank-Verkehr. Das wird den Arbeitsmarkt noch weiter umkrempeln…

»Zum Teil funktioniert das ja heute schon so. Die Schufa ist da zum Beispiel sehr einflussreich und ein unermüdlicher Datensammler. Was die für Informationen über dich haben, das ist auch noch nicht sonderlich bekannt in der Öffentlichkeit. Wenn du beispielsweise versuchst einen Kredit aufzunehmen, der etwas höher vom Volumen ist, dann kannst du da ganz schnell an Grenzen stoßen – ohne das du weißt warum. In Großbritannien hat sich die Kreditvergabe wirklich zu einem Glücksspiel entwickelt. Derjenige, der einen Kredit beantragt, weiß in der Regel nicht mehr, warum sein Antrag abgelehnt worden ist.«

Wenn man die Geschichte von Großbritannien als Commonwealth Staat und Seefahrer-Nation betrachtet: hat es auch etwas mit dem britischen Stolz zu tun, dass schon im Jahr 1975 die Regierung unter Maggie Thatcher es abgelehnt hat, das Großbritannien ein vollwertiges Mitglied innerhalb der EU wird?

»Historisch hat England in den letzten Jahrhunderten immer eine Sonderrolle gespielt. Die verklärte Sehnsucht nach dem britischen Empire ist immer noch da. Das ist auch eins der Hauptargumente der Brexiter gewesen: wenn es zum Austritt kommt, dann gibt es das Commonwealth – und viele englisch sprechenden Länder, mit denen man Handelsabschlüsse vertraglich vereinbaren kann. Das Problem ist aber: diese Deals hätte man jetzt schon haben können, da man unter der Schirmherrschaft der EU verhandelt hätte – und nicht als einzelner Staat.«

Wie ist die Reaktion der Commonwealth Staaten hierzu?

»Die ist auch recht eindeutig. Indien hat England mal ganz dezent daran erinnert, dass sie nicht unbedingt willkommen sind. Denn umgekehrt ist es für Inder aktuell auch ziemlich unmöglich in Großbritannien zu studieren oder überhaupt Jobs zu finden. So sollen die Briten erstmal überlegen, wie sie sich in umgekehrter Richtung verhalten – damit sie überhaupt in die Nähe eines Freihandelsabkommens mit Indien kommen könnten. Ähnliche Stimmen gibt es auch aus anderen Commenwealth-Staaten. Und mit Amerika unter der Regierung Trump sind ziemlich viele Handelsabschlüsse hinfällig geworden.«

China und Indien haben in wirtschaftlicher Hinsicht atemberaubende Wachstumsraten und beide Länder sind milliardenschwere Bevölkerungen. Vielleicht ist in 30 Jahren die Sprache der Welt nicht mehr englisch, sondern chinesisch. Ist das denkbar?

»Darauf wird es hinauslaufen. Europa verliert nach wie vor an Gewicht, durch das Gebilde der EU nimmt man den Staatenverbund wahr – gerade im Vergleich zu den USA, Indien und zu China. Sollte sich Europa aufsplittern in unterschiedliche Nationalstaaten – und so eine Entwicklung ist ja durchaus möglich, wenn sich anschaut was beispielsweise in Ungarn oder Polen so los ist, dann wird sich die EU in den Hinterhof der Weltgeschichte bewegen: es gibt keine Einflussnahme mehr.«

Das klingt nicht gerade nach rauschhaften Zukunftsaussichten…

»Es wird so kommen, dass die europäischen Länder unter wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gesichtspunkten den neuen Großmächten ausgeliefert sein werden. Historisch gesehen, hat der politische und ökonomische Schwerpunkt in ganz frühen Zeiten schon immer in Asien gelegen. Die letzten 300-400 Jahre des europäischen Aufstiegs war viel eher ein Betriebsunfall der Geschichte. Es verschiebt sich gerade wieder dahin, wo die Welt vor zwei bis 3.000 Jahren stand. Und den mittleren Osten können wir im Moment komplett vergessen.«

Wenn man Regierungschefin Theresa May und Außenminister Boris Johnson mit Angela Merkel und Heiko Maas vergleicht: wo liegen die Hauptunterschiede?

»Boris Johnson tickt anders als jeder andere Politiker, den ich mir vorstellen kann – mit der Ausnahme von Donald Trump vielleicht. Der Mann ist ein notorischer Lügner, dem es aber nichts ausmacht bei der Unwahrheit erwischt zu werden. Theresa May kann ich schwer einschätzen. Sie war ja ursprünglich nicht für den Brexit, sie war in der Gegenkampagne aktiv. Eigentlich müsste ihr alles widerstreben, was sie derzeit vorwärts treibt. Andererseits kann sie aber nicht anders handeln, weil die Machtverteilung in Ihrem Kabinett so steht, dass sie immer unter Druck steht – auch wenn sie sich ideologisch nur einen Millimeter bewegt. Sie hat keine sonderlich ausgeprägte Entscheidungsfreiheit – so gut wie keine. Sollte sie von ihrer Linie abweichen, dann ist sie ihren Job direkt los.«

(Anmerkung: in Auszügen ist dieses Interview bereits in der Juni-Ausgabe von bodo erschienen)

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Walter-Stach
Walter-Stach
6 years ago

Persönliche Betroffenheit……

Die aller nächste Verwandtschaft -er Allgemeinmediziner, sie Unternehmensberaterin, beide seit langer Zeit in England wohnhaft, vorher in Neuseeland– ist dabei, den Umzug von England in die Republik Irland zu organisieren. Das geht deshalb relativ problemlos, weil sie keine Kinder haben.
Ich denke, so oder so ähnlich werden viele EU-Bürger handeln, die seit langer Zeit in England arbeiten und leben, und zwar in Zufriedenheit -materiell wie ideell.

Schade -für die Betroffenen. Und schade für England?

Angelika
Angelika
6 years ago

Ich las gerade mal in Reihe britische tweets zum hashtag Brexit.

Hier ein tweet in Übersetzung:
– Ich votierte für Brexit, weil ich will, dass Großbritannien aus einem korrupten System ausscheidet, nicht weil ich will, dass wir nicht zu Europa gehören. Die Agenda der EU ist die Zerstörung von Ländern und die finanzielle Dominanz einer Elite nicht gewählter Leute. –

Und so ist der Tenor einiger brit. tweets.

Differenzierung zw. Europa und EU. Ablehnung bis Abscheu der EU-Politik, der EU-Elite.

Und natürlich fühlen sich diese Briten als Europäer! Was denn auch sonst …

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