Kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft nimmt die Kritik an der Veranstaltung zu. Es herrscht ein großer Sinn für Wettbewerb, aber eben nicht im sportlichen Sinn – heißt: wer nicht mitzieht bei der flächendeckenden Sponsorenmesse wird durch den nächsten politisch fragwürdigen Standort ersetzt. Und unter Pandemie-Gesichtspunkten ist diese EM nur ganz schwer nachvollziehbar. Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit bezeichnet die Austragung an elf Spielorten in zehn Ländern als „unsinnig“ – und unsere Autoren kommen zum gleichen Ergebnis: die Abkürzung EM steht leider nur für „European Megaspreading“ und wirft möglicherweise die Restarts in Kultur, Gastronomie und Handel zurück.
Peter Hesse: Hallo Thommy! Der Fußball-Autor Dietrich Schulze Marmeling schrieb vor ein paar Tagen bei facebook unter dem Titel „Fußball, Pandemie, Menschenrechte“ einen Beitrag zur kommenden Fußball-EM. Er sagt, dass die Menschenrechtspolitik von der Fifa und der Uefa nur primär den Zweck verfolgen, dass Spiele und Turniere auch in autokratisch oder diktatorisch regierten Länder ermöglicht werden – denn nachdem die irische Regierung nicht garantieren wollte, dass Zuschauer ins Stadion dürfen, wurden die Spiele werden nach St. Petersburg verlegt. In ein Stadion, an dessen Bau nordkoreanische Zwangsarbeiter mitgewirkt haben. Wie immer zeigt sich die hässliche Fratze des Kapitalismus: für Geld verdienen geht man gerne über Leichen. Wie nimmst du das wahr?
Thommy Junga: Hallo Peter, diplomatisch ausgedrückt, hat sich die UEFA – ganz im Stile der großen Schwester FIFA – zuletzt um alles Mögliche gesorgt, sicher am wenigsten um Fußball. Die Turnierkonstrukte Nations League und Kontinental-EM dienen meiner Wahrnehmung nach so wenig dem Fußball wie der europäischen Völkerverständigung. Die fehlende Bereitschaft von UEFA-Chef Čeferin nach dem Platini-Aus gegenzusteuern, zeigt ja nur, dass es fast unerheblich ist, wer in der Verbandsblase am Steuer sitzt. Da herrscht ein großer Sinn für Wettbewerb, aber eben nicht im sportlichen Sinn – heißt: wer nicht mitzieht bei der flächendeckenden Sponsorenmesse wird durch den nächsten politisch fragwürdigen Standort ersetzt, der es eben nicht so genau nimmt mit Menschen- und Arbeitsrechten, dem Klima oder nicht zuletzt der Pandemieeindämmung. Das trübt nicht nur ein wenig die Vorfreude auf ein Turnier, sondern treibt einen mit Boykottgedanken um. Das wird zur Winter-Katar-WM nächstes Jahr vermutlich nicht besser.
Peter Hesse: Ansgar Brinkmann sagte mal recht hemdsärmlig, dass sich die Straße irgendwann den Fußball zurückholen wird. Das klingt recht bodenständig und irgendwie auch angenehm romantisch – aber die Realität sieht doch anders aus: es geht den großen Machern doch immer darum neue Märkte und Zielgruppen zu erschließen. Und wenn in der Mitte von der chinesischen Gesellschaft erstmal die Fußball-Ekstase um Viererkette, Offensivdrang und Pressing angekommen ist, werden Nachwuchsspieler sicher bald 600 Millionen kosten. Hast du eine Idee, wie man diesen Wahnsinn stoppen könnte – oder gewinnt am Ende doch der schnöde Mammon?
Thommy Junga: In gewisser Weise hat Ansgar Brinkmann recht. Ich kenne einige Leute, die mittlerweile wieder lieber zum Wuppertaler SV, zu Westfalia Herne oder Wattenscheid 09 gehen. Da hat der ehrliche und bodenständige Fußball vor Corona Boden gutgemacht.
Peter Hesse: Ja, das finde ich auch…
Thommy Junga Mehr als eine gemütliche Parallelwelt zu chinesischen Konzernklubs und italienischen Supercup-Spielen in Saudi-Arabien ist das allerdings bisher auch nicht. Daher ist es natürlich an den Fans mit den Füßen und vor allem mit der Fernbedienung abzustimmen. Der verzweifelten Hilferuf Juves und Reals nach einer noch zuverlässigeren Gelddruckmaschine und noch mehr Markt wurde ja zumindest vorerst nicht erhört. Dennoch: ab der nächsten Saison feiert zumindest schon mal die Conference League Premiere. Da treten dann die Gescheiterten aus der Europa League gegen die gar nicht mal so Guten aus den nationalen Ligen an. Bevor ich das allen Ernstes anschaue, suche ich mir lieber zum 47.Mal die die Highlights der WM 1990 raus.
Peter Hesse: Hach, 1990, das klingt nach Schweiß, Blut und den strammen Waden von Guido Buchwald. Aber bleiben wir mal beim Team, wo einst die Mannschaft der Star war, denn der DFB hat für das Team von Jogi Löw neue Gagen ermittelt. So winken Thomas Müller, Ilkay Gündoğan, Toni Kroos, Manuel Neuer und Co. Ganze 400.000 Euro Siegprämie pro Spieler für einen EM-Sieg und damit 100.000 Euro mehr als für den WM-Sieg 2014. Ob das das richtige Zeichen ist für Land und Leute, die Jobs verloren, Kredite nicht bedienen konnten, zwischen November-Hilfe und Kurzarbeitergeld jeden Euro dreimal umdrehen mussten – und nicht ansatzweise die privilegierten Luftschlösser genießen durften wie Fußballprofis? Das kommt schon schräg rüber – Demut ist nicht gerade eine Stärke vom Fußball. Aber wir als sentimentale Fans kommen ja doch nicht von dieser Droge – warum gibt es kein adäquates „Methadon-Programm“? Also Golfen, Formel 1 oder Basketball wäre für mich kein geeigneter Ersatz – wie sieht es bei dir aus?
Thommy Junga: Die Drogen-Allegorie ist wirklich zutreffend. Der Unterschied zu Golf, Formel 1 usw. liegt wohl in der emotionalen Tragweite des Fußballs. Er ist deine Geschichte, deine Kultur. Genau wie andere Drogen gibt der Fußball nicht nur, er nimmt auch. Wer sich darauf einlässt, der baut zwangsläufig eine echte emotionale Bindung auf. Über die vermutliche Kultur des Golfsports und seiner Anhänger leg ich mal den Mantel Schweigens. Unter den aktiven wie ehemaligen Nationalkickern sollen ja auch einige passionierte Golfspieler sein und das Leben in dieser Blase will ja auch finanziert werden. Da sind die zusätzlichen monetären Anreize 3 Wochen mit Würde und Herzblut den Adler zu tragen sicher gern willkommen. Ich erwische mich in letzten Jahren immer öfter dabei, dass ich mich frage „Jubelt der jetzt, weil er den Titel XY gewonnen hat oder weil er grade 150.000 Euro Prämie klargemacht hat?“ Wir haben uns alle schon sehr daran gewöhnt „So ist das Geschäft“ als Antwort hinzunehmen.
Peter Hesse: Willi „Ente“ Lippens sagte mal, dass er in den 1970er Jahren auch nicht für einen Sack Kartoffeln gespielt hätte. Heute ist es so, dass ein Top-Spieler der Bundesliga in einem Monat mehr verdient, als beispielsweise meine Eltern in ihrer kompletten Lebenszeit – zum besseren Verständnis: meine Mutter war Sekretärin, mein Vater selbstständiger Industriekaufmann. Und dieser auseinander fallende Leistungs-Spagat ist nicht mehr nachvollziehbar. Kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft mehren sich auch die Unverständlichkeiten an dem Turnier, welches am 11. Juni beginnt.
Thommy Junga: Vollkommen zu Recht…
Peter Hesse: Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit bezeichnet die Austragung an elf Spielorten in zehn Ländern „mit dieser Reiserei von Baku in Aserbaidschan über Sankt Petersburg bis Glasgow und Sevilla“ gegenüber der FAZ als „unsinnig“. Während Kinder mit Maske im Schulunterricht von Montag bis Freitag ein hohes Maß an Disziplin zeigen müssen, zeigen Fußball-Profis in der Pandemie ihre Maßlosigkeit: „Wir können alles! Und zwar überall auf der Welt!“ Wie die Spiele in England wegen der Ausbreitung der indischen Mutation ausgehen – nun das kann noch alles sehr speziell werden. Auch: der Musiker Olli Schulz darf in Trier kein Picknick-Konzert vor 500 Leuten geben, aber zu den EM-Spielen in München dürfen 14.000 Besucher ins Stadion. Und diese Logik hinterlässt bei weiten Teilen der Bevölkerung nur noch einen Kotzreiz.
Thommy Junga: So ein paar Tore schießt Geld dann doch. Aber der Versuch dieses Phänomen auszureizen hat wohl irgendwann in den Neunzigern eine ungesunde Richtung genommen. Heute betrifft das ja nicht nur allein das Geld, es tritt auch ein völlig verqueres Selbstverständnis im Profifußball zutage. Für mich war diese Szene in Berlin sinnbildlich, als die Delegation des FC Bayern trotz vereister Turbine und Nachtflugverbot Opfer einer großen Verschwörung wurde und einfach nicht starten durfte. Und dass, obwohl die Bayern in Katar ja Deutschland vertreten wollten. Für Otto Normalverbarucher ist das nicht mehr nachvollziehbar. Das findet – inklusive „klimafreundlichen“ Quarantäne-Privatflug von Thomas Müller – alles fernab der gesellschaftlichen Maßstäbe ab. Der Fußball verpasst da regelmäßig die Rolle des gesellschaftlichen Vorbilds einzunehmen. So steht die Abkürzung EM potenziell leider nur für European Megaspreading und wirft möglicherweise die Restarts in Kultur, Gastronomie und Handel noch zurück.
Jeder normale Arbeitnehmer muss sehen wie er in Coronazeiten über die Runde kommt, und diesen " Fußballern " verspricht man jedem 400.000 € , wenn Deutschland die EM gewinnt ! Das ist an Dreistigkeit nicht mehr zu überbieten. Ich hoffe nur, das Deutschland frühzeitig ausscheidet, das hat nichts mehr mit Fußball zu tun.