Der Geschmack der Freiheit: „Naturcalvinismus hat dem Gaumen noch nie ein Wohlbehagen beschert“

Ute Cohen Foto: Raimar von Wienskowski Lizenz: Copyright


Die Berliner Journalistin und Autorin Ute Cohen nimmt in ihrem Buch „Der Geschmack der Freiheit“ ihre Leser mit auf eine Reise durch die Küchen Europas seit der Französischen Revolution.

Vor der Französischen Revolution war das mit dem Essen auch in Frankreich eine ziemlich einfache Sache: Einige wenige, vor allem Adelige, stopften alles in sich hinein, was ausgefallen und teuer war. Der Rest war meistens froh, wenn er abends nicht hungrig ins Bett gehen musste. Gegessen wurde zu Hause, entweder in einem kleinen Bauernhaus, einem Zimmer in einer der Städte oder im Schloss. Sich Gedanken darüber machen zu können, was auf den Tisch kommt, war das Privileg einer kleinen Schicht, für die alles, was auf den Tisch kam, auch der Repräsentation diente. Das hatte sich seit der Antike nicht geändert, die höheren Stände setzten auf Effekte, wie Ute Cohen in ihrem Buch „Der Geschmack der Freiheit“ über Gastmahl in Rom berichtet: „Ein Keiler mit Ferkeln aus Knusperteig wird aufgetischt, nach ausgiebiger Bewunderung wird das Wildschwein schließlich tranchiert, und – ach, grenzenloses Staunen! – aus dem Bauch flattern lebende Drosseln!“

Mit der Französischen Revolution änderte sich zumindest erst einmal in Frankreich alles: Die Köche, die arbeitslos geworden waren, weil ihre adeligen Arbeitgeber entweder geflohen, verarmt oder kopflos waren, mussten sich eine neue Beschäftigung suchen und erfanden, was damals revolutionär und neu war und für uns heute selbstverständlich zum Stadtbild und Alltag gehört: Das Restaurant. Zwar gab es immer Lokale, in denen sich Reisende ernähren konnten, aber um viel mehr als Sättigung ging es dabei in der Regel nicht. Das wurde nun anders: Die Köche begannen, die Küche des Adels an die Bedürfnisse und die wirtschaftlichen Möglichkeiten des vor allem bürgerlichen Publikums anzupassen. Essen wurde zunehmend zum öffentlichen und zunehmend politischen Akt: Cohen beschreibt in ihrem Buch den seit jener Zeit anhaltenden Konflikt zwischen Exzess und Selbstdisziplinierung, Puritanismus und Libertinage, und das tut sie mit einer Liebe zum Genuss. Im Mittelpunkt ihres Buches steht die französische Küche: Streng verbindlichen Regeln gehorchend, wie die Theaterstücke von Jean Racine und Pierre Corneille, legten die Köche der Grande Cuisine, die aus der Haute Cuisine hervorging, fest, welche Lebensmittel wie verarbeitet dem Gast präsentiert wurden. „Zum Beispiel“, schreibt Cohen, „musste Kalbfleisch zwangsläufig mit Spinat serviert werden.“

Ein Küchenprogramm für eine reiche Minderheit, wenn auch mit großem Einfluss. Parallel entstanden aber auch immer mehr Suppenküchen und Brasserien, die eine preiswertere und deftigere Küche anboten. Und es gab Aufstände gegen die Haute Cuisine, auch wenn sie weniger blutig verliefen wie die Französische Revolution: Nach dem zweiten Weltkrieg lockerten sich die Sitten: „Der Wunsch, sich des Ballasts der Vergangenheit zu entledigen, erfasste alle Lebensbereiche, alle Künste. In Frankreich wandten sich junge Cineasten wie François Truffaut und Jean-Luc Godard gegen herkömmliche Sehgewohnheiten und die konventionellen Erzählungen des kommerziellen Kinos. Truffaut erwies sich als ein Meister der Leichtigkeit, der existenzielle Themen mit leichten Kameras behände und ohne künstliches Licht auf die Leinwand zu bringen vermochte.“

Das Pendant zur neuen Leichtigkeit des Filmschaffens war die Nouvelle Cuisine. Ein neuer Begriff gab das Signal, sich von den etablierten Kochstilen abzusetzen. Frische und Einfachheit sollten eine als behäbig empfundene bürgerliche Küche ersetzen. Einer ihrer Stars, der vielleicht beste Koch des 20. Jahrhunderts, setzte sich allerdings schon bald wieder von der neuen Kochideologie ab: Nouvelle Cuisine bedeute schlicht „Nichts auf dem Teller und alles auf der Rechnung“. Er koche, zitiert ihn Ute Cohen, wie er es immer schon getan habe, „im Kessel, mit Butter, Sahne, Knochen und Gräten.“

In Deutschland, das bei Cohen wie alle anderen Staaten Europas nur am Rand vorkommt, sei die Entwicklung der Küche anders verlaufen. Man habe sich hierzulande zwar mit zunehmendem Nationalbewusstsein von Frankreich abgesetzt, aber weniger an dem orientiert, was auf die Teller des Adels kam, sondern auf die regionalen Traditionen gesetzt.

Die Debatte um das Kochen, die Freiheit, Utopie und Mäßigung wird über alle Kapitel des Buches geführt. Das ist Jean-Jacques Rousseau, „der eine frugale, ja spartanische Küche propagierte. Gesellschaftlichem Pomp und gastronomischer Ausschweifung setzte er in seinem Roman Émile (1762) Natürlichkeit und Einfachheit entgegen.“ Er sei der Ahne des „grünen“ Lebens. „So reizvoll“, stellt Cohen fest, „Rousseaus Naturverbundenheit aus der heutigen Sicht überreizter Städter auch sein mag, es liegt auch Strenge in ihr. Naturcalvinismus hat dem Gaumen noch nie ein Wohlbehagen beschert.“

Anders als Rousseau sah es der Philosoph Ludwig Feuerbach. Ihm, schreibt Cohen, sei es zu verdanken, dass der Leib wieder aufgewertet wurde gegenüber der entsinnlichten Vernunft. „Feuerbach denkt die menschliche Existenz vom Bauch her: »Der Mensch ist, was er isst.« Seine Philosophie des Essens gründet in Epikurs »Freude des Magens«, reicht aber über den hedonistischen Aspekt hinaus: Im Essen liegt der Anfang der Weisheit.“ Bekommen hat ihm das alles nicht, wie Cohen berichtet: „Feuerbachs Kollegen wiesen diesen materialistischen, leibfreundlichen Ansatz scharf zurück. Der unliebsame Philosoph wurde seiner universitären Funktionen entbunden und als Häretiker gebrandmarkt.“

In Italien sagte der Futurist und Faschist Tommaso Marinetti gar der „schlaffen Nudel“ den Kampf an und führte einen Krieg gegen die Maccaroni: Die von ihm und seinen Gesinnungsgenossen vorgeschlagene futuristische Küche konnte es, was den Genuss betraf, locker mit den Reden Mussolinis aufnehmen, wie Cohen zeigt: „Das Pollofiat (›Fiat-Huhn‹) war ein mit Stahlkugeln gefülltes Huhn, eine mit Schlagsahne servierte Hommage an das Fiat-Werk.“

Ute Cohens Buch führt durch die Geschichte der Küche. Beschreibungen von Prousts geliebten Madeleines folgen Exkurse in die Geschichte, die Philosophie und die Literatur sowie Einblicke in die Biografien bekannter Köche und deren Schicksale. Sie berichtet von dem Druck, unter dem Köche stehen, deren wirtschaftliche Existenz an der Bewertung ihrer Arbeit in Magazinen wie dem Guide Michelin oder dem Gault-Millau abhängt und sie sogar in den Selbstmord treiben kann. Der Leser erfährt von der Ausbeutung in den Küchen und lernt Rezepte kennen, die man durchaus auch mit überschaubarem Talent zu Hause nachkochen kann. Das Buch ist eine Entdeckungsreise, die auf jeder Seite wie ein gutes Essen mit Freunden Überraschungen bereithält und immer wieder auf die Freiheit, die alles thematisch verbindet, zurückkehrt, aber sich für ein bewusstes Essen jenseits des Exzesses einsetzt. „Geschmack und Freiheit“, schreibt Ute Cohen in ihrem Schlusswort, „seien fluide. Freiheit und Geschmack können sich äußern in philosophischen Lehren und Regeln, in Kochstilen und der Kunst des Genießens, niemals aber können sie ganz damit identifiziert werden. Im weiten Ozean von Geschmack und Freiheit kommen wir alle auf unsere Kosten. Ein Tropfen genügt.“

Ute Cohen:
Der Geschmack der Freiheit
Reclam, 24 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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