Der große deutsche Kolonialkrieg

Brennendes russisches Dort: Foto: Rudolf Kessler CC BY-SA 4.0

Heute vor 80 Jahren begann mit dem Überfall auf die Sowjetunion der große deutsche Kolonialkrieg. Sein Ziel war es, Siedlungsraum für Deutsche zu schaffen und die Bewohner Russlands, der Ukraine und Weißrusslands zu versklaven.

Heute vor 80 Jahren begann der Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten auf die Sowjetunion. Auf einer 2130 Kilometer langen Front, die von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte, griffen drei Millionen Wehrmachtssoldaten und 600.000 Mann starke Einheiten aus Italien, Ungarn, Finnland, Rumänien und der Slowakei die Sowjetunion an. Aus den Verbündeten, die sich 1939 noch Polen geteilt hatten und bis zuletzt enge Wirtschaftsbeziehungen pflegten, waren Feinde geworden.

Hitlers Ziel war schon in den 20 Jahren die Eroberung von Kolonien im Osten. Er hielt nichts davon, Territorien und Afrika oder Asien zu erobern. Hitler hielt einen europäischen Siedlungskolonialismus auf der Südhalbkugel schon aus klimatischen Gründen nicht für möglich. Kolonien dort machten nur Sinn, wenn man sich, wie Großbritannien, dafür entschieden hatte, eine Welthandelsmacht zu sein. 1928 schrieb er im nicht veröffentlichten 2. Buch: „Wenn Deutschland heute im Osten Europas nach Boden sucht, dann ist dies nicht das Zeichen überspannten Machthungers, sondern nur die Folge seiner Bodennot.“ Deutsche hätten über Jahrhunderte hinweg ihre Heimat verlassen müssen, weil das Land ihnen keine Perspektive bot. Die meisten von ihnen, in Hitlers Augen oftmals die Besten, wären nach Amerika gegangen. Dort gab es den Raum, den sie benötigten. Hitler wollte an die Ostexpansion des Deutschen Ritterordens anknüpfen. In „Mein Kampf“ schrieb er: „Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“

Schon strategisch war es ein anderer Krieg als im Westen. Die Sowjetunion sollte nicht auf dieselbe Art militärisch geschlagen werden, wie es mit Frankreich 1940 geschehen war. Die Wehrmacht zielte nicht, wie es der traditionellen deutschen Militärdoktrin nach Clausewitz entsprochen hätte, darauf ab, die Hauptstadt Moskau zu erobern und auf dem Weg dahin die Hauptmacht der Roten Armee zu vernichten. Gegen Frankreich war Deutschland mit diesem Vorgehen in den 70 Jahren zuvor in zwei von drei Kriegen erfolgreich gewesen.

Moskau war nur eins von drei Zielen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten: Mit Leningrad wollte Deutschland das Symbol des verhassten Bolschewismus zerstören, der Vorstoß über Ukraine in den Kaukasus sollte den Zugriff auf die Landwirtschaft und Ölförderung sicherstellen. Die schnellen Siege gegen Frankreich und Polen und das Desaster der Sowjetunion im Finnlandkrieg waren die Gründe, warum sich Deutschland für diesen waghalsigen Plan entschied, der sich bereits in der Anfangsphase als nicht umsetzbar erwies. Schon im August 1941 war den mit Deutschland verbündeten Japanern eine Verlangsamung des Vormarsches der Wehrmacht aufgefallen. Die Wehrmacht besaß nie die notwendige Stärke. Sie scheiterte militärisch daran, die Grundlagen für das eigentliche Ziel zu schaffen: den Aufbau eines mit dem Reich verbundenen Kolonialgebiets zu schaffen. Die Wehrmacht sollte bis zu einer Linie Archangelsk-Stalingrad vorrücken. In den westlich davon gelegenen Teilen des einstigen Polens, Tschechiens und der Sowjetunion sollten dann Deutsche und Nordeuropäer siedeln. Der Plan ging vom Tod von 30 Millionen Zivilisten allein durch Verhungern aus. Die Opfer des Eroberungskrieges wären noch dazugekommen. Die Überlebenden sollten als rechtlose Sklaven für die Eroberer arbeiten. Die in dem Gebiet lebenden Juden sollten ausnahmslos ermordet werden. Das Eroberungsziel wurde nie ganz erreicht. Allerdings starben 30 Millionen Militärangehörige und Zivilisten während des keine vier Jahre dauernden Krieges.

Außer in Polen, wo Deutschland die Kolonisation anging, wurden die Kolonisationspläne nie umgesetzt. Die sowjetischen Truppen schlugen die Wehrmacht schon im Winter 1941 vor Moskau. In Stalingrad stoppten sie die deutsche Expansion endgültig und begannen im Winter 1942/43 die Verbände der Wehrmacht nach Westen zurückzudrängen.

Die Tatsache, dass der Krieg gegen die Sowjetunion ein Kolonialkrieg war, hat sich immer noch nicht ganz durchgesetzt. Die deutschen Kolonien, soweit sie überhaupt im öffentlichen Bewusstsein sind, lagen demnach in Afrika, in der Südsee oder in China: Deutsch-Südwest, Deutsch-Südwest, Tsingtau, Samoa und Neu-Guinea. Der koloniale Charakter der Eroberungen Polens, Tschechiens, in Russland, der Ukraine und Weißrussland wird nur selten benannt.

Auch in den aktuellen postkolonialen Debatten kommt Osteuropa nur am Rand vor. Der Fokus liegt auf den Kolonien des Kaiserreichs. Übersehen wird dabei oft, dass schon der Vertrag von Brest-Litowsk, im März 1918 mit der jungen Sowjetunion geschlossen, die Grenzen des Deutschen- und des Habsburgerreichs weit nach Osten verschoben hatte.

Am Mangel an von Deutschland verübten Verbrechen kann das nicht liegen. Auch wenn die von den Deutschen ermordeten Juden aus ganz Europa kamen, die Gaskammern standen in den eroberten Ostgebieten. Aber schon der „Holocaust durch Kugeln“, für den beispielhaft das Massaker von Babi Jar steht, bei dem in der Nähe von Kiew über 30.000 Juden ermordet wurden, ist nicht allen präsent. Auf nahezu vollkommenes Desinteresse stößt die Ermordung von Millionen Zivilisten während der Kampfhandlungen, das in Brand setzen von unzähligen Dörfern, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen oft Mitten im Winter, die bestialische und häufig tödliche Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die sich vollkommen von der ihrer westalliierten Kameraden unterschied. Auch die Blockade von Leningrad mit ihren 1,1 Millionen Opfern allein unter der Zivilbevölkerung ist als einer der größten Kriegsverbrechen der Wehrmacht ein Thema, das eher beiläufig bedacht wird.

Die Leistungen und Opfer der Roten Armee werden bis heute nur sehr eingeschränkt wahrgenommen. Die verlorene Schlacht von Moskau und vor allem Stalingrad haben sich tief in das Gedächtnis gegraben – vor allem wegen der deutschen Opfermythen. Übersehen wird dabei, dass die geringe Zahl der Überlebenden Wehrmachtsangehörigen nach Stalingrad weniger an der grausamen sowjetischen Behandlung lag. Der Hauptgrund war die zu späte Kapitulation durch Paulus und der schlechte gesundheitliche Zustand der Landser. Kaum eine Rolle spielen die Opfer auf sowjetischer Seite.

Kaum gewürdigt wird der Kampf der Rotarmisten, die mit ihrem Mut und ihrem Willen das Land zu verteidigen unter ungeheuren Opfern nur die Wehrmacht schlugen, obwohl sie oft unter der Menschenverachtung und Unfähigkeit von Stalin und der Stavka, dem sowjetischen Oberkommando, zu leiden hatten. In Deutschland fast unbekannt ist die Operation Bagration.

Soldaten der 1. Baltischen Front bei einem Angriff in Mitau Foto: Доренский Л. Lizenz: Gemeinfrei

In Ihrem Verlauf wurde im Sommer 1944 die Heeresgruppe Mitte zerschlagen. Es war die größte Niederlage der deutschen Militärgeschichte. In Deutschland mag man sich an den Triumph von Marschall Konstantin Konstantinowitsch Rokossowski ungern erinnern. Viele der großen Schlachten Roten Armee wie die Schlacht von Rschew, die Operation Zitadelle und die Rückeroberung des Donezbeckens sind vergessen.

Es ist wichtig, das Deutschland sich seiner kolonialen Vergangenheit stellt. Es ist gut, dass der Völkermord an den Hereros thematisiert wird. Götz Alys Buch „Das Prachtboot“ verschafft den Verbrechen in der Südsee die nötige Aufmerksamkeit.

Der Krieg im Osten, der heute vor 80 Jahren begann, sollte allerdings auch endlich als das gesehen werden, was er war: Ein Kolonialkrieg. Nur eben einer, der scheiterte.

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Walter Stach
Walter Stach
3 Jahre zuvor

Stefan Laurin,

"gut so",
daß Du und wie Du an Beginn des deutschen Angriffskrieges gegen die UDSSR erinnerst nebst dessen Definition und deren Begründung als Kolonialkrieg .

"schlecht so"",
was mich aber nicht verwundert, ist der bisherige totale Verzicht auf kommentierende Beiträge dazu hier bei den Ruhrbaronen.

"Verzicht", weil man meine Meinung zum Kommentar teilt und sie, weil selbstverständlich, nicht für mitteilenswert hält?

"Verzicht", weil "man" es für angebracht hält, an den Krieg der Deutschen, speziell in der damaligen UDSSR, nicht erinnert werden will, u.a. deshalb, weil expliziert auch als Völkermorde gewollt und praktiziert wurde??

"Verzicht", weil "man" nicht will, daß sich Deutschland vor allem gegenüber Russland auch 8o Jahre nach Beginn des Überfalles der deutschen Wehrmacht auf die UDSSR seiner Verantwortung stellt und sich mit ihr auseinandersetzt mit der zwangsläufige Folgen, dieses stets (mit-) zu denken (mit-) zu bedenken, wenn heutzutage über "das russisch-deutsche Verhältnis" diskutiert wird, ?

"Verzicht" weil "man"……….?

Weil "man" in deutsch-völkischen Kreisen, weil "man" unter Faschisten, weil "man" unter arischen Rassisten auch heute noch bzw. heute mehr denn je grundsätzlich die Zielsetzung dieses Angriffskrieges gegen die UDSSR , die Kriegsführung, die damit einhergehenden Verbrechen der Wehrmacht und ihrer Hilfsorganisationen an der Zivilbevölkerung und an den Kriegsgefangenen in den deutschen Kriegsgefangenen-Lager für "gerechtfertigt" hält?

"Erfreulich" für mich, daß zumindest an einigen Schulen dieser Jahresstag im Unterricht erwähnt und über das Ereignis diskutiert wurde.

"Erfreulich" über den Tag hinaus sind für mich Anzeichen dafür, daß die deutsche Gesellschaft zunehmend bereit und fähig zu sein scheint, , sich mehr denn je "diese deutschen Krieges gegen die UDSSR und deren Völker" nebst aller damit einhergehenden Verbrechen und deren Folgen bewußt zu werden und sich ihrer Verantwortung zu stellen.
Ein Beitrag dazu ist u.a. der o.a. Kommentar von Stefan Laurin.!

Berthold Grabe
Berthold Grabe
3 Jahre zuvor

#1
Nein weil ich diese Form der Auseinandersetzung für sinnlos, akademisch und nicht zielführend halte.
Und nein es ist nicht wichtig, sich in dieser Form der Vergangenheit zu stellen.
Es ist nur wichtig sich der Vergangenheit bewusst zu sein, um die Gegenwart zu verstehen.

Emscher-Lippizianer
Emscher-Lippizianer
3 Jahre zuvor

@Walter Stach
#1

Ich habe mich seit Kurzem aus zeitlichen Gründen mit Kommentierungen zurückgehalten. Der obige Artikel ist meiner Meinung nach ein derartiger Volltreffer, daß mir eine Kommentierung vorgekommen wäre, wie die Parade von Führungskräftenachwuchs: "Es ist bereits alles gesagt, nur noch nicht von mir."

Nach einer Denkpause muß ich aber auch sagen, daß dieser Artikel zu gut und zu "rund" ist, um unter der Überschrift "Nicht kritisiert ist genug gelobt" abgelegt zu werden. Daher mein Lob an den Autor und meinen Dank an den Erstkommentierenden für den Denkanstoß.

Helmut Junge
Helmut Junge
3 Jahre zuvor

Es war nicht ein Krieg wie andere Kriege, sondern es war ein Kolonialkrieg, wie andere Kolonialkriege. Diese Botschaft war mir als Kind mitgeteilt worden. Und genau die wurde zwischenzeitlich vergessen. insofern ist der Gedanke, den Stefan Laurin formuliert, zumindest für die die heute aktiv im Leben stehenden Generationen vermutlich sogar neu. Und um die Gegenwart zu verstehen, muß man sich tatsächlich die Vergangenheit bewußt machen, aber @@Berthold Grabe, wie soll das ohne solche Artikel gehen? Die Aussage ist doch, daß Kolonialkriege genau so geführt wurden. Die Aneignung des Landes und die Versklavung der dortigen bevölkerung waren jeweils im Kriegsplan vorgegeben. Das ist der gemeinsame Nenner. Und wer sich dieser Logik entzieht, kommt auf manche merkwürdig falsche Erklärung für unsere Gegenwart.

thomas weigle
thomas weigle
3 Jahre zuvor

Was mich doch immer wieder erstaunt, ist die Tatsache, dass viele Russen deutsche Kriegsgefangene human behandelt haben. Das war nach dem,wie sich deutsche Truppen in diesem Raubkrieg benommen haben, nicht unbedingt zu erwarten. Auch nicht angesichts der Behandlung,die sowjetische Soldaten in deutschen Lagern erfahren hatten. Dieser Massenmord ist ja bis heute noch nicht so wirklich Thema gewesen. Es sei hier auch noch einmal an das würdelose Gezerre erinnert, als es um die Wiedergutmachung für die in Nazideutschland ausgepreßten osteuropäischer Zwangsarbeiter ging.Auch das ein übler Schandfleck dieses Raubkrieges, den das heutige Deutschland zu verantworten hat.

Laubeiter
Laubeiter
3 Jahre zuvor

Danke für den Artikel, sehr anregend. Man schämt sich, was Deutschland einmal geglaubt hat, tun zu dürfen. Worin liegen Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Angriffskrieg gegen den Nachbarn Russland und der Besitznahme Algeriens und Nigerias durch Frankreich und England? Es mag sein, dass unter den diversen, wirren und verbrecherischen deutschen Absichten für den Angriff auf Russland auch solche waren, die sich eine Kolonie vorstellten. Die Realität sah dann anders aus, daher finde ich die Absichten schwer zu untersuchen. Mir scheint, dass ein Krieg gegen den Industriestaat Russland 1940 etwas Anderes war als die Eroberung der Entwicklungsländer Algerien und Nigeria hundert Jahre früher.

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[…] werden, weil ihre Länder zuvor von den Deutschen besetzt und, zumindest was die Ukraine angeht, kolonialisiert worden […]

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