Es ist schwierig, in der aktuellen Situation im Nahostkonflikt eine nüchterne Perspektive zu bewahren, die für eine faire Beurteilung nötig wäre. Jeder Mensch mit Empathie kann das Leid der Zivilbevölkerung nur als das erkennen, was es für die Betroffenen bedeutet: unermesslichen Schmerz, ständige Angst und tiefste Verzweiflung. Dieses Mitgefühl ist verständlicherweise oft mit Empörung und Wut verbunden, denn diese Menschen sind dem Krieg wehrlos ausgeliefert und werden in großer Zahl aus ihren Heimatorten vertrieben.
Kein Wunder also, dass sich Proteste vor allem gegen Israel richten. Auf den ersten Blick scheint Israel die deutlich überlegene und rücksichtslosere Kriegspartei zu sein, die ihre militärische Stärke nutzt, um ihre Gegner ein für alle Mal zu besiegen. Dabei sind die Verluste auf israelischer Seite viel geringer, und die Zerstörungen sowie Vertreibungen im eigenen Land bleiben vergleichsweise überschaubar.
Widerstand gegen Fakten und mangelnde Vorstellungskraft
Erstaunlich ist jedoch, dass diese nachvollziehbare Empörung zwei entscheidende Tatsachen weitgehend ignoriert: Erstens kämpft Israel gegen zwei weltweit organisierte Terrorgruppen – Hamas und Hisbollah –, die seit Langem von einem klerikal-faschistischen Staat unterstützt werden, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung Israels ist. Zweitens haben Hamas und Hisbollah ebenfalls die Zerstörung des jüdischen Staates zu ihrem Ziel gemacht und führen seit Jahren einen grausamen, ungleichen Krieg. Dabei nutzen sie absichtlich palästinensische Zivilisten in großer Zahl als menschliche Schutzschilde.
Noch erstaunlicher ist, dass selbst die unmittelbare Ursache des aktuellen Konfliktes einer Art in der Empörung verfangenen Amnesie anheimfällt: das Massaker vom 7. Oktober 2023. Dieses Verbrechen wird in den meisten Protesten nicht einmal erwähnt, geschweige denn in seiner Dimension begriffen. Wenn man die Opferzahl auf die Einwohnerzahl Deutschlands hochrechnet, würde dies bedeuten, dass an einem einzigen Tag über 10.000 Menschen in Deutschland ermordet, gefoltert, vergewaltigt und verstümmelt worden wären – darunter Menschen jeden Alters.
Moral als Täter Opfer Umkehr.
Die moralische Empörung scheint also nur auf den ersten Blick nachvollziehbar. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch die Frage, welche Moral dahintersteht. Denn sie kümmert sich offensichtlich nur um das Leiden einer Seite und ignoriert die Umstände, unter denen Israel sich verteidigt. Es wird nur der aktuelle Krieg betrachtet, ohne sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen. Es wird nicht gesehen, dass Terroristen sich sogar hinter Kranken und Kindern verstecken und trotz ihrer militärischen Unterlegenheit nicht daran denken, ihre Waffen niederzulegen, um das Leid der Zivilisten zu beenden.
Einige, besonders unter den Linken, gehen sogar so weit, Israel mit den Nazis zu vergleichen, indem sie behaupten, dass die Israelis mit den Palästinensern das Gleiche tun wie die Nazis mit den Juden. Sie behaupten, Gaza sei wie ein Konzentrationslager. Das würde bedeuten, dass die jüdischen Gefangenen in deutschen Konzentrationslagern, so wie die Hamas Raketen auf Israel abfeuert, von diesen aus Raketen auf ganz Deutschland geschossen hätten. Diese Moral instrumentalisiert den Holocaust und begeht dabei auf groteske Weise eine historische Täter-Opfer-Umkehr.
Es gibt sogar die Ansicht, dass Israel sich nicht verteidigt, sondern seit seiner Gründung der eigentliche Angreifer sei. Laut dieser Meinung sei die Gründung Israels ein völkerrechtswidriger Angriff auf die Menschen, die zu jener Zeit in dem Gebiet lebten, das später Israel wurde. Das würde bedeuten, dass diejenigen, die Israel vernichten wollen, die eigentlichen Verteidiger sind und damit grundsätzlich im Recht, unabhängig von den Verbrechen, die sie begehen. Das wiederum würde suggerieren, dass Israel selbst für die Verbrechen gegen sich verantwortlich ist.
Die doppelte Schuld als antisemitisches Grundmuster
Bei genauerer Betrachtung ist Israel aus dieser moralischen Perspektive sogar doppelt schuld: Zum einen für die Vergehen, die es anderen antut, und zum anderen für die Vergehen, die gegen es selbst begangen werden. Auf diese Weise übernimmt diese Art der Moral, bewusst oder unbewusst, den eliminatorischen Kern des Nazi-Antisemitismus und überträgt ihn auf Israel. Israel muss vernichtet werden, unabhängig davon, welche Regierung es gerade führt. Aus dem Staat Israel als Heimat der Juden wird der Jude als Staat, sozusagen der „Jude unter den Staaten“.
Das Paradoxe an dieser Moral ist, dass viele Menschen, die so denken, sich selbst nicht als Antisemiten sehen, was zum Teil auch nachvollziehbar ist. Denn jede Diskriminierung von Juden wird von ihnen abgelehnt, ja bekämpft und ihre Integration in die Gesellschaften, in denen sie leben, befürwortet und befördert. Sie lehnen nicht die Juden als solche ab, sondern „nur“ die Gründung und/oder das Verhalten des israelischen Staates.
Was jedoch bedeutet, dass sie den Juden nur eine Existenzberechtigung als Einzelpersonen zugestehen, nicht jedoch als Volk, das wie jedes andere einen Anspruch auf ein eigenes geographisches Gebiet haben darf. Dass das, woraus sie selbst ihre nationale Identität schöpfen, zumindest aber was sie als eigenes Staatsgebiet und damit als sicheren Ort ihres Lebens empfinden, Juden als Volk nicht haben dürfen.
Das Narrativ der Vertreibung und die Umdeutung der Gründungsgeschichte Israels
Dabei spielt keine Rolle, dass Juden seit Jahrtausenden in dem Gebiet wohnen, das heute Israel ist, und dass die Gründung des Staates Israel von der UN beschlossen und von fast allen seiner Mitglieder anerkannt wurde. Ebenso wird ignoriert, dass den arabischen Palästinensern gleichzeitig ein eigener Staat angeboten wurde, der sogar weit größer sein sollte als Israel. Auch die Tatsache, dass Israel nicht die Absicht hatte, die arabischen Palästinenser aus ihrem Staatsgebiet zu vertreiben, sondern sie zu gleichberechtigten Staatsbürgern zu machen, wird nicht zur Kenntnis genommen.
Stattdessen hat sich bei vielen propalästinensischen Demonstranten und Agitatoren ein Narrativ entwickelt, das den Zionismus als den Hauptschuldigen und die Gründung Israels als feindliche Landnahme darstellt. Dabei wird aus den gewaltsamen Konflikten vor der Staatsgründung eine Geschichte der Vertreibung konstruiert, die mit der Realität, abgesehen von wenigen Ausnahmen, kaum zu tun hat.
Der Hauptgrund für die Flucht von etwa 700.000 arabischen Palästinensern war nicht die Gewalt der Zionisten, sondern die Kriegserklärung der arabischen Nachbarstaaten gegen den entstehenden jüdischen Staat. Diese Kriegserklärung verwandelte das Gebiet des neuen Staates – und praktisch ganz Palästina – in ein Schlachtfeld und machte es für alle seine Bewohner zur gefährlichsten Region im Nahen Osten. Die Ernsthaftigkeit dieser Bedrohung wurde durch den Beginn des Krieges am Tag der Staatsgründung Israels deutlich.
Die arabischen Palästinenser, die angesichts dieser Bedrohung fluchtartig das israelische Staatsgebiet verließen, taten dies in den meisten Fällen nicht freiwillig. Aber diejenigen, die nicht gegen Israel kämpfen wollten, hätten das nicht tun müssen, wie der heutige arabische Teil der israelischen Bevölkerung zeigt. Diejenigen, die gegen Israel kämpften und die Vernichtung des Staates und seiner jüdischen Bewohner befürworteten, taten dies in der Hoffnung, nach der Zerstörung Israels zurückkehren zu können. Eine absichtliche und massenhafte Vertreibung durch israelische Soldaten und Siedler gab es also, basierend auf den historischen Fakten, nicht.
Die palästinensische Identität und der islamische Antisemitismus
Aber es bleibt eine Tatsache, dass Hunderttausende vor dem Krieg und während dessen geflohen sind. Nach der Niederlage konnten oder wollten die meisten dieser Geflohenen nicht mehr zurückkehren. Diese Ereignisse führten dazu, dass die sogenannte Nakba (die „Katastrophe“) dauerhaft im Bewusstsein der Palästinenser und ihrer Unterstützer verankert wurde. Im Gegensatz dazu findet die Vertreibung von Hunderttausenden jüdischer Bewohner aus arabischen Gebieten nach dem Krieg kaum Erwähnung in der Geschichtsschreibung.
Gleichzeitig entwickelte sich eine palästinensische Identität, die sich zunehmend auf den Hass gegen Israel konzentrierte und diesen Hass zum zentralen Element machte. Schon vor der Gründung Israels wurde die Mobilisierung gegen den zukünftigen Staat von antisemitischen Vorwürfen und Unterstellungen geprägt. Diese führten dazu, dass Konflikte zwischen jüdischen und arabischen Palästinensern immer stärker von Hass durchdrungen wurden.
Für die jüdischen Flüchtlinge des Holocaust, die dem Antisemitismus in Europa knapp entkommen waren, zeigte sich in Palästina ein ähnlicher Hass, diesmal in Form eines tief verwurzelten islamischen Antisemitismus. Diese religiöse Komponente, die von einigen Historikern unterschätzt oder ignoriert wird, spielte eine bedeutende Rolle bei der Gründung Israels. Später wurde diese Feindschaft auch von orthodox-jüdischer Seite weiter angeheizt.
Die islamischen Führer zielten jedoch frühzeitig darauf ab, die vollständige Vernichtung der Juden und des jüdischen Staates zu erreichen, was sie auch öffentlich verkündeten. Der schnelle Erfolg ihrer Mobilisierung lässt sich nur dadurch erklären, dass unter dem scheinbar friedlichen Zusammenleben von Juden und Muslimen in Palästina bereits ein latenter Antisemitismus existierte. Dieser musste nur von arabischen Nationalisten und den islamischen Geistlichen gezielt aktiviert werden.
Eliminatorischer Islamismus und die Zweistaatenlösung
Viele Unterstützer der sogenannten „palästinensischen Sache“ verdrängen oder leugnen oft die religiös motivierte Entschlossenheit der palästinensischen Führung, Israel zu vernichten. Diese Haltung hält nicht nur bis heute an, sondern wurde und wird mit jedem erfolgreichen Verteidigungsschlag Israels noch verstärkt. Aus diesem Grund hatte ein Frieden zwischen Israel und den Palästinensern bisher nie eine echte Chance. Solange dieser islamistische, antisemitische Vernichtungswille die Führung und weite Teile der palästinensischen Bevölkerung prägt, bleibt ein Friedensschluss unwahrscheinlich.
Die palästinensische Führung hat sich wiederholt gegen eine Zweistaatenlösung entschieden. Diese Option wurde nur aus taktischen Gründen nicht völlig ausgeschlossen – vor allem, um weiterhin finanzielle Unterstützung durch die UNO zu erhalten. Ein großer Teil dieser Hilfsgelder wurde jedoch genutzt, um sich militärisch gegen Israel zu wappnen und Gaza in eine Hochburg des Terrors zu verwandeln. Dabei spielte auch die persönliche Bereicherung der führenden Funktionäre eine Rolle.
Spätestens seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 wird diese Realität zunehmend auch in Teilen der israelischen Gesellschaft erkannt, die zuvor noch an eine friedliche Zweistaatenlösung glaubten. In Wahrheit ist Israel – trotz seiner kleinen Fläche aus gutem Grunde hoch aufgerüstet– an der Frontlinie im Kampf gegen einen gut bewaffneten islamistischen Klerikalfaschismus, der bereit ist, die gesamte Region in Brand zu setzen, um sein erklärtes Ziel, die Vernichtung Israels, zu erreichen.
Der antisemitische Klerikalfaschismus und die Verhärtung der Fronten
Das ist der Grund, warum Hamas und Hisbollah ihren Kampf nicht aufgeben – trotz des jahrzehntelangen Leids der palästinensischen Bevölkerung. Dieses Leid ist ihnen gleichgültig, ja, sie nutzen es sogar gezielt für ihre Propaganda. Gleichzeitig hat dies auf israelischer Seite eine Hardliner-Front entstehen lassen, die keine Kompromisse mehr eingehen will. Diese Haltung beruht auf der Überzeugung, dass ein „Ende mit Schrecken“ besser ist als ein „Schrecken ohne Ende“.
Diese Fraktion weiß, dass viele Palästinenser, die jetzt unter den israelischen Bomben leiden, jubeln und feiern würden, wenn dasselbe der israelischen Bevölkerung widerfahren würde. Das haben sie bereits bewiesen: Frauen und Kinder tanzten vor Freude, als israelische Frauen und Kinder bei Terroranschlägen der Hamas massakriert wurden. In palästinensischen Gemeinschaften im Ausland – auch in Europa und Deutschland – wurden Süßigkeiten verteilt, um solche Angriffe zu feiern.
Angesichts dieser Realität bringt diese israelische Fraktion kein Mitleid mehr für diejenigen auf, die selbst kein Mitleid zeigen. Stattdessen setzt sie auf massive Gewalt, um die Hamas endgültig zu besiegen und den Iran in die Schranken zu weisen. Dabei werden auch viele zivile Opfer eher in Kauf genommen, als das Leben eigener Soldaten zu riskieren. Denn angesichts der zahlenmäßig kleinen israelischen Armee könnte ein hoher Verlust an Soldaten ihre Schlagkraft und damit die Existenz Israels gefährden.
Kein Frieden im Nahen Osten ohne die Eindämmung des Terrors
Die Hardliner in der politischen und militärischen Führung Israels haben auch das Vertrauen in die UNO und die internationale Solidarität verloren und das aus gutem Grund. Sie hören deswegen auch nicht mehr auf die zunehmenden Ermahnungen zur Mäßigung, selbst von Verbündeten. Stattdessen sind sie entschlossen, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen und – auch gegen den Widerstand eines Teils der eigenen Bevölkerung – ein für alle Mal zu Ende zu bringen. Vor allem aber sind sie überzeugt, dass, wenn sie erfolgreich sind, nicht nur die Kritiker im eigenen Land verstummen, sondern auch einige arabische Staatsführer erleichtert sein werden, dass sie die Hamas und Hisbollah beseitigt oder zumindest kampfunfähig gemacht haben.
Natürlich suchen Politiker wie Netanyahu, wie viele andere weltweit, auch persönliche Vorteile und nutzen solche Situationen für ihre politische Karriere. Zudem verbünden sich religiöse Extremisten in Israel mit den Hardlinern, die wiederum auf deren Unterstützung angewiesen sind. Dennoch ändert das nichts an der Tatsache, dass Israels Feinde ihre Vernichtungsziele nicht aufgegeben haben und auch bei einer kompromissbereiteren israelischen Regierung nicht aufgeben würden. Eine Alternative zu dieser harten Haltung ist daher nicht in Sicht, weswegen auch wohlmeinenden Kritikern Israels keine überzeugenden Lösungen einfallen.
Manche fordern ernsthaft, dass Israel nicht militärisch zurückschlagen, sondern nachgeben sollte, da Kriege neue Terroristen hervorbringen und der Terror so nie völlig ausgelöscht werden könne. Doch diese Logik führt zu einer gefährlichen Konsequenz: Wenn Hamas und Hisbollah weiter existieren und kämpfen können, könnten sie irgendwann so stark werden, dass sie Israel tatsächlich besiegen und – wie immer wieder angekündigt – vom Erdboden tilgen. Wobei dieses Argument zudem eine fragwürdige innere Logik enthält: Nach derselben Denkweise müsste man auch Mörder ungeschoren davonkommen lassen, weil es trotz ihrer Unschädlichmachung weiterhin Morde geben wird.
Der weltweite antisemitische Grundstrom
Das eigentliche Drama des Konfliktes liegt darin, dass die israelische Bevölkerung nicht irgendwohin ausweichen kann, während die islamistischen Führer – allen voran der Iran – aus religiöser Überzeugung und eigenem Machterhalt nicht bereit sind, nachzugeben. Die Hetze gegen Israel hat sich obendrein, angeheizt durch den Konflikt selbst, über Jahrzehnte tief in das Bewusstsein der arabisch-islamischen Massen eingeprägt, weil sie von den Führern in der Region immer wieder instrumentalisiert wurde, um ihre eigenen Interessen zu sichern.
Dieser Hass wird deswegen auch in den kommenden Jahrzehnten bestehen bleiben. Gleichzeitig hat sich der eliminatorische Antisemitismus, der tief im Islam verwurzelt ist, über den Islamismus weltweit ausgebreitet. Er verbindet sich zunehmend mit linkem Antisemitismus in den westlichen Staaten und lässt auch den christlichen Antisemitismus wieder aufleben. Es ist dieser globale antisemitische Grundstrom, dem Israel als jüdischer Staat nicht entkommen kann und der sich durch den wachsenden Islamismus im Nahen Osten besonders bei den Palästinensern immer weiter verschärft hat.
In diesem Kontext erscheint Israels Situation, trotz seiner militärischen Überlegenheit, beinahe aussichtslos. Egal, welche Maßnahmen das Land ergreift oder welche Regierung es stellt – seine Handlungen werden stets negativ ausgelegt werden. Was bedeutet , dass Israel auch in Zukunft in seinem Überlebenskampf mit erheblichem Widerstand und Isolation rechnen muss. Es ist erstaunlich, und zugleich eine große zivile und politische Leistung, dass es unter diesen Bedingungen immer noch ein demokratischer Staat ist und anscheinend auch bleiben wird.
Das moralische Dilemma Israels
Das ändert jedoch nichts daran, dass Israel sich sowohl in einer geostrategischen als auch in einer moralischen Zwickmühle befindet. Es hat die Wahl, entweder viele zivile Opfer in Kauf zu nehmen, die in einem asymmetrischen Krieg mit einer Terrororganisation, die Zivilisten als Schutzschilde benutzt, unvermeidlich sind – oder aufzugeben. Ein Dilemma das die Terroristen obendrein nicht haben: Für sie wird der Tod ihrer Zivilisten durch den Märtyrerstatus moralisch aufgewertet, während jeder getötete Israeli – einschließlich Frauen und Kinder – von ihnen und ihren Unterstützern als „gerechter Tod“ im Widerstand gegen die Besatzer angesehen wird.
Die Terroristen handeln aus einem dschihadistischen Verständnis heraus und glauben daher, dass sie selbst vor Gott keine Kriegsverbrechen begehen können, egal wie grausam ihre Taten sind. Israelische Soldaten hingegen, ob männlich oder weiblich, müssen sich für ihr Handeln im Ernstfall vor weltlichen Gerichten verantworten. Das liegt nicht nur daran, dass Menschenrechte in Israel einen hohen Stellenwert haben, sondern auch daran, dass Israel als demokratischer Staat über eine unabhängige Gerichtsbarkeit verfügt – im Gegensatz zu Gaza. Was nicht bedeutet, dass israelische Soldaten keine Kriegsverbrechen begehen können.
Aber Israels demokratische Verfassung sorgt dafür, dass es eine institutionalisierte moralische Kontrolle gibt, die durch öffentliche Regeln und persönliche Gewissenskonflikte verstärkt wird. Diese moralischen Hürden fehlen bei islamistischen Terroristen weitgehend, wenn sie überhaupt existieren. Die Gleichsetzung von Soldaten eines demokratischen Staates mit religiös fanatisierten Terrorgruppen ist deshalb nicht nur faktisch, sondern auch moralisch falsch. Soldaten sind klar gekennzeichnet und handeln innerhalb eines rechtlichen und moralischen Rahmens, während Terroristen weder gekennzeichnet sind noch solche Regeln akzeptieren.
Der doppelte moralische Standard
All das nutzt den jüdischen Israelis wenig, denn ihnen wird in der Regel nicht derselbe moralische Standard zugestanden wie anderen Völkern. Juden stehen besonders unter Beobachtung, vor allem von jenen, deren Vorfahren ihnen großes Leid zugefügt haben. Für diejenigen, die spätestens seit dem Holocaust aus einem kollektiven oder nationalen Schuldbewusstsein zumindest Verständnis für die Gründung Israels hatten, gilt jedoch, dass dieser Staat als jüdischer besonders friedfertig und zurückhaltend sein sollte – sowohl gegenüber seinen Nachbarn als auch auf der weltpolitischen Bühne. Ihnen erschien schon die Staatsgründung durch die Zionisten zu gewalttätig, obwohl die Gründung ihrer eigenen Staaten oft weitaus brutaler verlief.
Die notorischen Antisemiten hingegen hassten Juden vor der Gründung Israels, weil sie keinen eigenen Staat hatten, und nach der Gründung, weil sie einen haben. Ohne Staat galten Juden als ein Volk, das überall Unheil stiftet und die Nationen, in denen sie lebten, angeblich „rassisch“ vergiftet. Mit der Gründung eines eigenen Staates wurden sie zu einer angeblichen Bedrohung für den Weltfrieden, da sie nun, militärisch abgesichert, die Weltpolitik manipulieren und andere Nationen gegeneinander ausspielen können.
Beiden Gruppen – den Schuldbewussten und den Antisemiten – ist jedoch gemeinsam, dass sie mit Juden, die sich wehren und zurückschlagen, nicht umgehen können. Solche Juden werden misstrauisch beäugt. Es stört sie, wenn Juden sich nicht in ihr Dasein in der Diaspora fügen, sich nicht klaglos diskriminieren lassen, sondern laut werden, protestieren und sich organisieren. Es irritiert sie, wenn Juden nicht nur Teilhabe, sondern auch Macht einfordern, Ansprüche an die Mehrheitsgesellschaft stellen und Forderungen artikulieren.
Zwei Fraktionen, die sich annähern
Mit den zunehmenden Angriffen der Nachbarstaaten auf Israel und der immer heftigeren sowie erfolgreicheren Verteidigung des neuen Staates – einschließlich sicherheitsbedingter Landgewinne – haben sich die beiden Gruppen, die Israel ablehnen, allmählich angenähert. Für die notorischen Antisemiten war Israel von Anfang an nichts anderes als der „gehasste Jude“ in Form einer Nation. Für jene, die die Existenz Israels und sein Recht auf Selbstverteidigung zumindest akzeptierten, wurde die zunehmend gewalttätige Dynamik des Konflikts jedoch immer unangenehmer, weil sie sich zunehmend gezwungen sahen, dazu eine Haltung zu entwickeln und diese zu rechtfertigen.
Der Gedanke, dass der Konflikt hätte vermieden werden können, wenn Israel gar nicht erst gegründet worden wäre, führte bei dieser Gruppe nicht unbedingt zu offenem Antisemitismus, ließ aber den Antizionismus stetig wachsen. Viele dieser Menschen flüchteten sich in eine vermeintliche Neutralität, die auf der Annahme beruhte, dass Israel eine Mitschuld an den Angriffen trage. Diese Mitschuld wurde zunehmend systematisch gesucht, insbesondere in eher links orientierten Kreisen, wo das unbestreitbare Leid der Palästinenser immer mehr in den Vordergrund rückte.
Dadurch geriet nicht nur völlig aus dem Blick, dass dieses Leid von den Palästinensern selbst beendet werden könnte, wenn ihre Führung dies wollte. Es ermöglichte Teilen dieser Gruppe, Israel die Hauptschuld zuzuschreiben. Dadurch wurde ein moralisches Bündnis mit den notorischen Antisemiten möglich. Da diese Gruppe jedoch Antisemitismus ablehnte, wurde der Antizionismus zum gemeinsamen Nenner, hinter dem sich beide Gruppen weltweit vereinen konnten. Auf diese Weise entstand eine Allianz, die auf der Dämonisierung Israels als zionistischem Staat basierte, auch wenn die jeweiligen Motive unterschiedlich waren.
Der BDS als gemeinsames antizionistisches Dach
Die antiisraelische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) dient perfekt als organisatorisches Dach für diese globale Allianz und konnte sich so auch in den kulturellen und künstlerischen Szenen sowie an Universitäten westlicher Länder verbreiten. Dabei hat sie ein schlagkräftiges Boykottnetzwerk geschaffen, das sich vor allem gegen jüdische und jüdisch-israelische Kulturschaffende und Wissenschaftler richtet. Die ideologischen und programmatischen Überschneidungen mit der Hamas sind dabei offensichtlich: Während die notorischen Antisemiten innerhalb der Bewegung diese Verbindung offen betonen, wird aber auch von vielen anderen Mitgliedern und Unterstützern der Terror der Hamas als legitimer Widerstand angesehen und gefeiert.
Begleitend dazu hat der zunehmende Reichtum islamischer und islamistischer Eliten sowie Herrscher durch ihre finanzielle Unterstützung auch den antisemitischen Einfluss in der Kunst- und Kulturszene verstärkt. Dieses Geld floss direkt in den internationalen Kunst- und Kulturmarkt und beeinflusste Ausstellungen und Produktionen. Mittlerweile gehört es in diesen Kreisen fast zum guten Ton, sich zumindest antizionistisch zu positionieren, wenn nicht sogar die BDS-Bewegung aktiv zu unterstützen.
Auf diese Weise hat sich ein globales Netzwerk des organisierten Antizionismus gebildet, das eng mit dem islamistischen Terror verknüpft ist. Es bildet eine Art Mauer der moralischen Abwehr gegen Israel, in der selbst die schlimmsten Verbrechen gegen dieses Land und seine Bewohner als gerechtfertigt angesehen oder trotz eindeutiger Beweise als Lügen dargestellt werden. Der eliminatorische Antisemitismus, der den islamistischen Terror antreibt, ist so zu einem zentralen Bestandteil des Antizionismus geworden, einschließlich der ästhetischen und politischen Verherrlichung von terroristischer Gewalt.
Die pervertierte Moral als moralischer Standard
Die Moral ist dabei selbst nicht nur einseitig sondern zugleich pervertiert worden. Nicht die, die den Terror begehen und dabei Zivilisten als Geiseln und Schutzschilde nehmen, werden der Unmoral bezichtigt, sondern die, die sie bekämpfen. Nicht denen wird Völkermord vorgeworfen, die ihn als Ziel gegenüber den Israelis immer wieder propagieren und umzusetzen versuchen, sondern denen, die diesen Genozid an ihrem Volk verhindern wollen. Dabei wird absichtlich die zentrale moralische Frage ausgeblendet, wie man selbst in einer solchen Situation handeln würde. Einer Situation, in der die eigene Vernichtung im Zentrum steht und die sich allgemeinverständlich und zugleich bewusst zugespitzt in folgender Beschreibung konkret machen lässt.
Ein schwer bewaffneter Mann will dich und deine Familie umbringen. Dir ist bekannt, dass er das schon lange vorhat und dass er dafür vor nichts zurückschrecken wird. Er hält in der einen Hand eine Maschinenpistole im Anschlag und in der anderen sein eigenes Kind als Schutzschild vor seiner Brust. Seine Frau steht so vor ihm, dass er an ihr vorbei auf dich und deine Familie schießen kann. Du bist selbst bewaffnet, weil er das immer wieder und lauthals angekündigt hat. Die moralische Frage spitz sich also wie folgt zu: Gehst du das Risiko ein, auch die Frau und das Kind zu töten, um den Mord an dir und deiner Familie mit Sicherheit zu vereiteln.
Die Situation der israelischen Armee im Kampf gegen Hisbollah und Hamas sowie ihre Unterstützer ist zweifellos viel komplexer, aber die moralische Frage ist im Kern genau die gleiche. Wie viele unschuldige Opfer nimmst du in Kauf, um selbst nicht Opfer zu werden. Wobei sich bei einem von Seiten deiner Feinde asymmetrisch geführten Terrorkrieg die zusätzliche Frage stellt, welche Opfer unschuldig sind und welche nur unschuldig scheinen, bzw. verdeckter Teil des Krieges gegen dich sind. Was sich allerdings, und das ist das weitere Dilemma, erst dann genau feststellen lässt, wenn sie schon Opfer geworden sind.
Die Weigerung, sich zur fragen, wie man selbst handeln würde.
Was jenseits notorischer Antisemiten die Mehrzahl der Israelkritiker auszeichnet, ist die Nicht-Beantwortung genau der moralischen Fragen, denen zu stellen sich israelische Soldaten und ihre Vorgesetzten jeden Geschlechtes täglich gezwungen sind. Zum einen, weil sie sich weigern, die Fragen nach dem eigenen Verhalten überhaupt zu stellen, da ihnen so der moralische Wind aus den Segeln genommen werden könnte. Zum anderen, weil ihnen dazu, wenn sie sie sich stellen würden, nur eine in jedem Fall bedrückende Antwort möglich wäre.
Stattdessen stürzen sie sich lieber mit Verve auf das unmittelbar sichtbare Leid derer, die sie für die Opfer halten, und das ohne darüber nachzudenken, dass diese unter anderen Bedingungen auch Täter sein könnten, oder sogar waren. Die Opfer werden vielmehr zur ununterscheidbaren Projektionsfläche des eigenen Mitleids und damit, ob gewollt oder nicht, zu Bestätigern der eigenen Moral. Jeder begründete Zweifel an ihrem Opferstatus wird zu ihrer Infragestellung, was wiederum das Gebäude der überzeugenden Verurteilung Israel zum Einsturz bringen könnte.
So verhärten sich nicht nur die Fronten im realen Nahost Krieg sondern auch in der Debatte darüber. Auf der einen Seite wird aus Mitleid mit den Palästinensern Wut und Hass auf Israel, auf der anderen Seite entsteht eine Art Wagenburgmentalität, die jede Kritik an der israelischen Kriegsführung als antisemitisch diffamiert. Am Ende wird Israel dabei von beiden Seiten alleine gelassen, und es hat sich mittlerweile damit auch moralisch abgefunden. Es wird sich deswegen, bei allen immer noch vorhanden Selbstzweifeln und inneren Konflikten, in seinem militärischen Überlebenskampf von Niemanden mehr aufhalten lassen.