Es ist erst Montag, und ich habe schon das Wochenbudget an Rotz und Wasser verheult, damit ich pünktlich zum Filmstart am 6. Februar von einer wahren Geschichte berichten kann, ein Tabu der spanischen Zeitgeschichte. Im Originaltitel „El maestro que prometió el mar“ verfilmt Regisseurin Patricia Font das Schicksal des katalanischen Lehrers Antonio Benaiges, der sein Versprechen, die Kinder zum Meer zu bringen, während des spanischen Bürgerkriegs unter General Franco nicht einlösen kann.
Bis heute sind Antonios Überreste nicht auffindbar. Es sind zu viele Massengräber. Warum dieser blutige Konflikt ein Vorspiel auf den Zweiten Weltkrieg war und ein Generationentrauma prägt, zeigt eine kleine gehütete Fotografie einer Dorfschulklasse in der Provinz Burgos, deren Tragik über die Momentaufnahme hinaus fortdauert.
Mir geht der Film sofort nah. Als ehemalige Studienrätin empfinde ich es als ungerecht in unserem reichen Land, wenn Kinder meiner Herzensstadt noch nie den Dom, noch nie eine Kinderoper auf den Bühnen Kölns oder noch nie die Stadtbibliothek von innen gesehen haben. Kinder sollen Kinder sein dürfen. Das ist ein simpler Anspruch an gute Bildung. In dem Hauptprotagonisten Antonio treffe ich einen Gleichgesinnten, mit Frohmut gespielt von Enric Auquer. Kein Rohrstock, keine Kontrolle, kein Drill, nur das endlose Meer.
Wo ist mein Anker, welche Segel setze ich, wie überwinde ich die Angst vor der unbekannten Tiefe, wie lasse ich mich von Welle zu Welle neugierig treiben, wie atme ich das Rauschen ein und wie schmeckt das Salz auf meiner Oberlippe – in all diesen Herausforderungen taucht der gewissenhafte Lehrer in die individuellen Lebensreisen seiner Schüler ein. Er tut das anders als die anderen Lehrer vor ihm. Wieso es Pioniere innovativen Denkens oft nicht leicht haben und warum Bildung auch immer ein gutes Stück Widerstand bedeutet, führt der Vorspann informativ ein.
Die Kamera nimmt uns in der Eröffnungssequenz kommentarlos in die minutiöse Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit mit. Mehrere Archäologen legen behutsam Knochenfunde frei und nummerieren die Zuordnung. Es müssen Hunderte, Tausende sein.
Es ist das Jahr 2010. 75 Jahre nach dieser einen kleinen Fotografie, die Zeuge einer herzergreifenden Lerngemeinschaft, aber auch eines unaufgeklärten Verbrechens ist, begibt sich Ariadna, in voller Fokussierung gespielt von Laia Costa, auf die Spuren von Antonio. Er war der Lehrer ihres Großvaters Carlos, dem nicht mehr viel Zeit bleibt, noch Antworten zu bekommen. Einst wohnte er als plötzlicher Waise bei dem couragierten Lehrer, weil sein Vater von spanischen Faschisten interniert wurde.
Der Film wechselt in die Vergangenheit. Die Farbigkeit des Landlebens tränkt sich in ein achtsames Graublau, wie die glitzernde Meeresoberfläche geküsst von Spaniens Sonne. Das Leben ist einfach, das Leben ist schön. Antonio freut sich auf seine neue Aufgabe als Dorfschullehrer.
Als Early Adopter der reformpädagogischen Denkschule nach Freinet macht er sich damit nicht nur Freunde. Aber was ist angeblich so gefährlich an der Freinet-Methode und wieso war sie zeitgeschichtlich als antiautoritäre Pädagogik ein wichtiger Counterpart zum erstarkenden Faschismus in Europa?
Célestin Freinet (1896-1966) und seine Ehefrau Élise Freinet (1898-1983) entwickelten in Frankreich ein innovatives pädagogisches Konzept, das die Schullandschaft nachhaltig veränderte. Im Zentrum ihrer Pädagogik stand eine Umgestaltung vor allem durch die Einrichtung von Arbeitsateliers. Den Schülern wollten sie ermöglichen, nach selbst gestellten Vorhaben und Plänen zu arbeiten, was die Eigeninitiative und Kreativität förderte.
Kurz Luft anhalten! Freies Arbeiten steht in keinem Widerspruch zu allgemeinen Regeln und universellen Prinzipien. Unterrichten heißt Lernen. Atmen, atmen, tief Luft und weiter geht’s. Ich spreche mich hiermit nicht vollends gegen den hochgeschätzten Frontalunterricht aus, sondern beschreibe lediglich eine neue Kindorientierung in Pädagogik und Gesellschaft.
Ohne entwicklungspsychologische Erkenntnisse der damaligen Zeit mitzudenken, wird es sonst schwer nachzuvollziehen, warum der heutige Kindbegriff wissenschaftlich erarbeitet werden musste. 1896, im selben Geburtsjahr Freinets, sind ebenso Lew Semjonowitsch Wygotski und Jean Piaget geboren worden, deren Studien zur kognitiven Entwicklung von Kindern maßgeblich Einfluss darauf nahmen, wie wir Kinder besser verstehen und auch fördern können.
Gleichzeitig zur naturwissenschaftlichen Betrachtung entdeckt wenige Jahre zuvor ein italienischer Kunsthistoriker Kinderzeichnungen in den architektonischen Bögen von Bologna. Corrado Ricci arbeitet 1887 in seinem Buch „Kunst von Kindern“ die eigene Qualität ihrer Kritzeleien heraus und verleiht ihnen eine noch nicht da gewesene Relevanz im Fachdiskurs. Antonio bestärkt beispielsweise die Tochter des Bürgermeisters, ihrer Begabung im Zeichnen besonders nachzugehen. Er ermutigt jedes Kind aus seiner Klasse, den Beruf zu ergreifen, den es ergreifen will, über den Tellerrand des eigenen Dorfes hinaus.
Auch die Freinets legten großen Wert auf die Förderung von Kinderrechten und der Mitbestimmung für Kinder. Sie glaubten, dass Kinder aktiv in den Lernprozess einbezogen werden sollten und ihre Meinungen und Ideen respektiert werden müssen. Oh, wie gefährlich: freier Ausdruck, Emanzipation, Mündigkeit, Eigenverantwortung, Selbstbestimmung … mir wird schon ganz schwindelig bei so viel Freiheit.
Antonio wagt es, die Schulstube in ein Atelier zu verwandeln. Als Verfechter einer laizistischen Schule nimmt er das Kreuz von der Wand, verpasst mit seiner antiklerikalen Haltung dem katholischen Pfarrer erst mal Hausverbot und stellt eine Druckerpresse im Klassenraum auf. Statt vorgefertigtes Wissen aus Lehrbüchern auswendig zu lernen, sollen die Kinder ihre eigenen Themen finden und sie sich gemeinschaftlich in sogenannten Kooperativen erarbeiten.
Das geht auf „Tatonnement expérimental“ als Grundbegriff der Theorie Freinets zurück, Lernen mit allen Sinnen und vor allem mit Sinn. Das Lebenspotenzial als Lebenskraft versteht Freinet von Geburt an als sozial gegeben (Potentiel de vie), das in vitalen Lebensprozessen reift (Puissance de vie) und eine Gesamtdynamik individueller Lebenskreisläufe entfaltet (Elan vital).
„Les classes Freinet se ressemblent toutes dans leur fondement, dans leur allure générale et dans leur esprit. […] Elles sont comme de beaux jardins qui puisent dans un sol riche la même sève mais où s’épanouissent selon leur nature et leur fonction les légumes utiles, les arbres généreux et les fleurs de poésie et de beauté, aussi nécessaires parfois que les nourritures fondamentales.“*
(S. 42, LES TECHNIQUES FREINET DE L’ÉCOLE MODERNE von CÉLESTIN FREINET, 1964, 4.ed)
Freinets anthropologischer Ansatz der Weltaneignung motiviert Antonio dazu, seine Schüler selbst Worte dafür finden zu lassen, wie sie die Welt sehen. Dafür lässt er eigene Hefte produzieren wie Folgendes: Das Meer, wie Kinder es sehen, die es noch nie gesehen haben. Tja, und so entsteht das ganze Schlamassel, weil Antonio die Kinder fragt „Wollt ihr das Meer mal sehen?“, ohne die Rechnung mit Eltern, Bürgermeister und Kirche abzugleichen.
Der Lehrer merkt schnell, dass er gute, aber recht spontane Einfälle vorher konsolidieren sollte, um die Gelingensbedingungen abzuklopfen und Kinderherzen nicht zu enttäuschen. Noch bevor die ersten Segel gesetzt sind, schon Schiffbruch zu erleiden, wäre zu diesem Zeitpunkt fatal. Die hohe Kunst im Change-Management an Schulen ist die Sache mit dem leidenschaftlichen Feuer für die eigenen hohen Ideale, dass man sich nicht dabei verbrennt; nicht, dass ich da aus Erfahrung spräche.
Plötzlich ist der Dorfschullehrer verschwunden und taucht anders, als kurz vor der Reise zum Meer erwartet, wieder auf. Das rote Hemd von seinem Blut imprägniert wird zum Symbol jener Diktatur, die in Spanien unzählige Familien in Ungerechtigkeit und Unwissenheit über ihre Ahnen gestürzt hat. Die Hefte der Kinder, kostbar gefüllt mit ihren Träumen, Wünschen und Hoffnungen, werden mitten auf dem Dorfplatz verbrannt. Das war das letzte Mal, dass sie ihren Lehrer Antonio lebend gesehen haben.
Allein in dem kleinen Dorf La Pedraja wurden 135 Leichenreste gefunden. Bis heute wurden in Spanien 12.000 Menschen exhumiert, die Dunkelziffer bleibt ungeklärt. Um das Vermächtnis dieses einzigartigen Lehrers zu wahren, wurde 2015 der Verein „Escuela Benaiges“ gegründet. In Spanien kam der Film am 10. November 2023 in die Kinos und wurde vielfach für den Goya nominiert.
Das titelgebende Meer fungiert als vielschichtiges Symbol: als Sehnsuchtsziel für die Kinder, die es in ihrem maritimen Vaterland noch nie gesehen haben, als Metapher für Freiheit und neue Horizonte sowie als Symbol für den Zyklus von Leben und Tod.
Und noch was: Wer den Film und meine Rezension zum Anlass nimmt, sich auf der Seite der Guten zu wähnen, weil ihr Erscheinen in selbst gestrickten Stulpen auf einer Demo gegen Rechts sie per se nobilitiere, ist ganz und gar nicht noblen Gemüts. Wer, wie in Essen am 2. Februar geschehen, auch noch „rechts vor links“ in der Verkehrsführung bräsig walten lässt, versteht rein gar nichts von Faschismus. Kontext matters – hier eine kleine Erinnerungsstütze für die postkolonialen Stuss-Schwadlappen und die Lauch-Bourgeoisie, die sich als solche niemals bezeichnen würde: 1894, zwei Jahre vor Freinets Geburt, begann in Frankreich die Dreyfus-Affäre.
*eigene Übersetzung des Zitats:
„Die Freinet-Klassen ähneln sich alle in ihrer Grundlage, in ihrem allgemeinen Erscheinungsbild und in ihrem Geist. […] Sie sind wie schöne Gärten, die aus einem reichen Boden denselben Saft schöpfen, in denen aber je nach ihrer Natur und Funktion das nützliche Gemüse, die großzügigen Bäume und die Blumen der Poesie und der Schönheit gedeihen, die manchmal ebenso notwendig sind wie die Grundnahrungsmittel.“