Was die Ausstellung für zeitgenössische Kunst bisher zeigt: wie einsam es um Juden steht in Deutschland. Und in der Weltweite der Kunst. Monatelang hatten Repräsentanten des Judentums das Gespräch gesucht, sie wurden abgewimmelt. Eingelassen dagegen, und das mit Kusshand, die antisemitische Hetzkampagne BDS. Erst jetzt, wo die Documenta am seidenen Faden und das BDS-Bild abgehängt ist, wird der Dialog gesucht, genauer: er wird eingefordert. Juden wird ein Platz gewiesen am Tisch, an dem BDS in Mannschaftsstärke sitzt. Ein Nachtischbericht
„Antisemitismus in der Kunst“ war der Talk betitelt, den die Documenta – und zwar nicht etwa deren Kuratoren, sondern deren Gesellschafter zusammen mit der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank – angesetzt hat. Die live gestreamte Diskussion am Mittwochabend sollte den Skandal bedenken, den ein 96 qm großes Banner auf dem zentralen Platz der renommierten Kunstausstellung ausgelöst hatte: Auf dem Bild, nach drei Tagen abgehängt, waren nicht nur zwei antisemitisch gemalte Figuren ausgestellt, sondern ein geschlossen antisemitisches Weltbild (hier eine Bildbetrachtung). Kurz darauf wurde öffentlich, dass auch die Judenmörder von PFLP und der Japanischen Roten Armee abgefeiert werden, pure Killerkommandos. Erstmals, dass hiesige BDS-Versteher erschrocken zusammenfuhren.
Die „Initiative Weltoffenheit“ beispielsweise, in ihr haben sich führende Kulturfunktionäre der Republik mit dem Ziel versammelt, die Israel-Boykott-Bewegung auf ihre Bühnen zu holen, die weniger vom Publikum als vom Staat finanziert werden. Auch diese Clique gibt sich jetzt, wo die Documenta als erste von ihnen allen ihr Ziel erreicht, ein wenig ernüchtert, man erkennt es am hilflos-hölzernen Ton, den sie – sonst ausgesprochen schwülstig unterwegs – jetzt anschlägt: „Antisemitismus darf keinen Platz haben auf der documenta.“ Nein, darf nicht. Und jetzt?
Ist es ein BDS-Aktivist, der als erster das Wort ergreift beim Talk der Documenta: Ade Darmarwan, Sprecher von Ruangrupa, dem verantwortlichen Kuratoren-Kollektiv, vor wenigen Monaten erst hat er den „Letter against Apartheid“ unterzeichnet, einen Aufruf im internationalen BDS-Milieu, der exemplarisch deutlich macht, worum es BDS geht: nicht darum, die Politik einer israelischen Regierung zu kritisieren, sondern darum, Israel das Recht abzusprechen, überhaupt zu existieren. Beginn und Ursache allen Übels, das „Siedler-Kolonialismus“ und „Apartheid“ hervorgebracht habe, heißt es in dem Aufruf, sei die – auf Beschluss der Vereinten Nationen erfolgte – Staatsgründung 1948 gewesen. Seitdem gelte: „Israel ist die kolonisierende Macht. Palästina ist kolonisiert. Das ist kein Konflikt: das ist Apartheid.“
Es ist das Weltbild der Postkolonialen, so denkt Ade Darmarwan, jetzt steht er da und sagt: „Wir sind hier um zu lernen, wir sind hier, um zuzuhören im Lumbung-Geist, wir sind hier.“ Auch Adam Szymczyk ist da, Solo-Kurator der vorherigen Documenta, auch er hält die Existenz Israels für „Apartheid“, auch er hat neulich denselben miesen Aufruf unterschrieben, jetzt erzählt er, es gehe um „Nuancen“ und um „Subtexte“, um „gegenseitiges Vertrauen“ und „multi-direktionales Erinnern“ und all das.
Dies also die Rahmung des Talks, in dem BDS wie ein Gastgeber auftritt und in das nun zwei Deutsch-Israelis geraten:
Doron Kiesel, der Professor für Pädagogik in Erfurt verantwortet die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dass er überhaupt zugesagt hat, macht denn doch staunen: Monatelang hatte der Zentralrat, die politische Repräsentanz der Juden in Deutschland, auf einen Dialog gedrängt und umsichtiges Agieren angemahnt, jetzt haben sich schlimmste Befürchtungen bewahrheitet, worüber reden?
Der zweite Deutsch-Israeli: Meron Mendel, Direktor der Anne Frank-Bildungsstätte in Frankfurt, er hat die Documenta monatelang gegen die vielen Vorwürfe verteidigt, gibt aber inzwischen zu erkennen, dass die Warnungen vor BDS so gegenstandslos nicht waren: „Seit Januar“, sagt er – im Januar wurden die Vorwürfe auf diesem Blog laut – „sind wir nicht in der Lage, in einen Dialog zu kommen.“ Vor ein paar Tagen hat die Documenta Mendel damit beauftragt, alle längst öffentlich ausgestellten Kunstwerke auf deren möglichen Antisemitismus hin zu „prüfen“ und „hinsichtlich des antisemitischen Gehalts zu beurteilen“.
Eine aberwitzige Situation. Eben noch steht Darmawan, der alle Israelis für koloniale Eroberer hält und für Profiteure der Apartheid, die er schneiden wolle, vorne am Mikro und erklärt, „wir sind hier“, setzt sich dann aber wieder hin und verweigert den Dialog – während es Mendel ist, der boykottierte Israeli, der seit Tagen die kuratorische Arbeit leistet, für die Darmawan bezahlt wird, womit Mendel jene Verantwortung wahrnimmt, die alle anderen – nicht nur das Kuratoren-Kollektiv, „auch die Leitung der Documenta“, das betont er – wie eine heiße Kartoffel im Kreis herum reichen. „Outsourcen“ hat der Bundespräsident dieses eigenartige Gesellschaftsspiel in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung genannt.
In der Mitte dieses Settings: Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, sie hat 3,5 Mio € in die Documenta hineingegeben, also legt Völckers Wert darauf, nicht verantwortlich zu sein, wenn sie nun antisemitische Hetze finanziert, vor der seit Monaten gewarnt worden ist. Ihr Move beim Live-Talk geht so, zunächst wendet sie sich direkt an Meron Mendel und dankt mit pastoralen Worten: „Ich glaube, Sie sind in der Lage, von den im Modus der Anschuldigungen vielleicht in einen Heilungsprozess hineinzuführen (so der Satz im Original; thw). Das ist, was wir brauchen.“ Dann erzählt sie von sich und was sie braucht:
„Wenn ich eine Institution fördere, ein Museum, ein Festival was immer, dann gehe ich davon aus, und dass ist die Vertrauensbasis und auch die Abmachung und die Verpflichtung, dass die Leitung dieser Institution die Verantwortung übernimmt, dass in ihrem oder seinem Haus keine menschenunwürdigen Dinge passieren. Davon muss ich ausgehen, wir fördern viertausend Projekte, sie können sich vorstellen, dass ich nicht überall rumfahren kann und gucken, was da hängt und wer da was tanzt, es ist einfach schlichtweg unmöglich. Und das ist eine so feine und so kostbare Angelegenheit, diese Autonomie der Kultur-Institutionen, der Kulturveranstaltungen, die Staatsferne trotz öffentlicher Förderung zu einem enormen Prozentsatz in diesem Lande, dass, wenn das in Gefahr gerät, und da kommt das Gespräch von Hinter-die-Kulissen-gucken, worüber wir reden müssen, was bedeutet das eigentlich, was ist ein Wächter, wie hätte man aufpassen müssen, geht das eigentlich in der Praxis, man kann natürlich sagen, klar, da muss jetzt immer einer durchlaufen und so machen (streckt ihren Daumen, erst die Waagerecht, dann zack nach unten) oder so machen (zack nach oben). Das wird nicht gehen, ich will sagen, ein Aufsichtsrat kann das nicht …“
Und so geht das dann doch. Erst lobt sie Mendel dafür, dass er die Verantwortung übernimmt, von der sie selber nichts wissen will, dann denunziert sie ihn in aller Herrlichkeit als Zensor. Erst „Heilungsprozess“, Daumen hoch, dann Kunstpolizei, Daumen runter. Und Mendel? Macht seine Erfahrung mit einem Kulturbetrieb, der neulich erst Carps Ruhrtriennale hervorgebracht hat, er berichtet:
„In den letzten Tagen hatte ich mehrere Gespräche hinter den Kulissen mit vielen Leuten, die aus der Kunstwelt kommen. Ein Begriff, der immer wieder an mich herangetragen wurde, ist der Begriff des ‚Silent Boycott‘. Israelische Kuratoren, die schon 20, 30 Jahre in Europa unterwegs sind, sagen: Diese Art des Boykotts wird gerade immer stärker. Was meinen sie mit Silent Boycott? Es wird nichts proklamiert, es steht nirgendwo, ‚wir haben keine Israelis eingeladen‘, es wird einfach so gemacht und niemand geht auf die Barrikaden, niemand hat einen Beweis, dass es mit Absicht (geschehen sei), aber wenn eine israelische Kuratorin, die schon 20 Jahre in Europa ist und sagt, ich habe 1 x 2 x 3 x 4 x genau diese Erfahrung gemacht, dann weiß ich, es ist kein Zufall.“
Ähnlich, nur zeitlich etwas versetzt Doron Kiesel, der sich seit Jahren mit NS-Filmen befasst, „um besser zu verstehen, wie sukzessive das Bewusstsein der Bevölkerung vorbereitet wurde“, Kiesel sagt:
„Das Interessante an den frühen NS-Filmen zwischen 1933 und 1938 ist: Sie sehen dort kaum antijüdische Attacken, sie sehen, dass Juden nicht mehr vorkommen.“
Damit hat er der Documenta 2022 ihre eigene Erfahrungsdimension erschlossen, die auf der Ausstellung selber – deren Nazi-Kontinuitäten sind erst jetzt wirklich öffentlich geworden, die wenigen jüdischen Künstler, die überlebt hatten, wurden 1955 planvoll ignoriert – längst hätte präsent sein müssen, sie ist es nicht. Wie Hito Steyerl über die Documenta schrieb: „Kontext ist König, außer der deutsche“.
Umso wichtiger daher der Dialog? Die Begegnung, der Austausch, das „Lumbung“? Gerade nach so einem Skandal wie dem mit dem Banner von Taring Padi, das hauswandhoch im Zentrum der Documenta hing? Doron Kiesel:
„Ich teile die Perspektive dieses Dialogs nicht. Ich glaube nicht, dass ein Dialog hier noch notwendig ist. Ich sage das aus einer tiefen Erschütterung und Trauer heraus.“
Und versucht zu erklären, was die Documenta derzeit tatsächlich zeige: Abermals sei der Zentralrat, die Repräsentanz der Juden in Deutschland, in eine „Wächterfunktion“ genötigt worden, „die wir längst aufgeben wollten, weil wir der Meinung waren, die bundesrepublikanische Gesellschaft ist reif genug, solche Aufgaben und Reflexionsprozesse über ihre eigene Entwicklung (selber) zu vollziehen“. Erneut sei klar geworden, dass dem nicht so ist, weil „in den sogenannt aufgeklärten Kontexten und Kreisen die Relevanz des Themas ‚Antisemitismus‘ vielleicht theoretisch einmal angedacht worden ist, aber in ihrer Breite und Tiefe keinerlei Resonanz zeigt.“
Kiesel spricht von einer „tiefen Vertrauenserschütterung“, erschüttert sei das Vertrauen in die Fähigkeit dieser Gesellschaft und ihrer verantwortlichen Kreise, Antisemitismus auch nur zu erkennen. Und das vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der eigenen Erfahrung … Dass die Documenta jetzt eigens Meron Mendel anheuern muss, um Antisemitismus in jener Kunst zu erkennen, die sie selber auswählt und ausstellt – was könnte deutlicher machen, dass alle Kuratoren und Aufsichtsräte, alle Beiräte und Foren und sonstwie Beteiligten es offensichtlich nicht können.
Oder nicht können wollen.
In diesem Kulturbetrieb zwischen Kleinstadt-Schick und Bundeskultur-Allüre, zwischen Kassels Geselle und Völckers Hortensia, zwischen hessischem Wald und globalem Jetset, in diesem staatlich durchfinanzierten Betrieb wird der eigentliche silent boycott organisiert. Hier wird Antisemitismus ähnlich weggesehen wie keine Israelis auf der Documenta mehr zu sehen sind wie keine Juden in NS-Filmen der 30er zu sehen waren.
Diesen Zusammenhang versucht Kiesel klar zu machen: „dass es nicht um uns Juden geht, es geht um das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft“. Und dies in einem Moment ihrer Geschichte, in der sich eines entscheidend verändert, es leben kaum mehr Täter und kaum mehr Opfer unter uns. Vergangenheit ist nicht mehr das, was erzählt werden könnte und sich narrativ bewegt, Vergangenheit wird unausweichlich festgestellt in Bildern. Und just in diesem Moment, in dem die bundesdeutsche Gesellschaft ihr Bild von sich selber entwerfen muss, hängt ein Riesenbild auf der Documenta, der Ausstellung für zeitgenössische Kunst, „über das sich Eichmann und Goebbels gefreut hätten.“
Pause.
„Und es bleibt folgenlos.“
Nein, keine Rücktrittsforderungen, während ein paar Straßen weiter Propagandafilme laufen, die den Terrormord an Juden lobpreisen, versucht es Kiesel mit einem Appell:
„Wir halten einmal inne. Gehen Sie in sich, wir alle, die sich hier angesprochen fühlen, und unterbrechen eine Dialog-Situation, die im Moment zu nichts führt. Wenn Sie es nicht selber machen, Frau Dorn, dann macht es niemand. Oder Frau Roth oder die anderen Organe, die hier sitzen. Wenn Sie nicht verantwortlich damit umgehen, was Ihnen in dieser liberalen Demokratie übertragen wurde, dann haben wir alle verloren. Es ist ein Kraftakt, der nicht alleine uns Juden als Wächter aufgegeben sein soll.“
+ + +
PS | Nikita Dhawan saß ebenfalls auf dem Podium, das sei hier nicht unterschlagen, die Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden bemühte sich beflissen, deutlich zu machen, dass der Postkolonialismus, den sie lehre, sehr wohl im hiesigen Kontext und der europäischen Geistestradition ein-, darum aber keineswegs notwendig an BDS angebunden sei. In der Tat scheint sich Dhawan von allem Aktivisten-Gehabe fern zu halten, das Land, aus dem sie selber stammt, Indien, stellte sie als einen verlässlichen Bündnispartner Israels vor.
Und sie eröffnete, ähnlich wie Kiesel mit seinem Hinweis auf die NS-Filme der 30er, eine historische Dimension: 19. Jh in Hessen-Kassel, Landgraf Friedrich II hob Tausende Soldaten aus, die er in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hinein vermietete, mit dem Ertrag finanzierte er den Bau des Fridericianums, heute Hauptgebäude der Documenta … Deutlich, dass es die Eindeutigkeiten, wie sie im Postkolonialismus plakatiert werden – siehe Darmawan und Szymczyk mit ihrem Apartheidsgefasel, siehe ebenso das Banner von Taring Padi – weder gibt noch jemals gab. Was auf dem Podium einen schönen Moment versehentlicher Klarheit gewann, als sich Dhawan direkt an Doron Kiesel wandte und den Satz sprach:
„Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.“
Damit, meinte Dhawan, hätte sie Adorno zitiert, der Kafka zitiert habe, was nicht ganz stimmt, der Satz stammt von Max Brod, der berichtet hat, Kafka habe ihn ihm gegenüber formuliert oder hätte es jedenfalls … Es ist nicht leicht, Hoffnung zu verorten.
PPS | Wem zu allem weiterhin nichts einfällt: der Kunst. Kein Künstler, der mitdiskutiert hätte. Keine Reaktion von Documenta-Künstlern auf das Abhängen des Großbildes, keine Solidarisierungen mit wem und was auch immer, keinerlei künstlerische Reaktion auf das fette Schwarze Quadrat, das plötzlich über der Documenta im Herrgottswinkel hing, keine Reaktion auf das Verschleiern von Kunst, das in der Kunst – weit hinter Christo + Jeanne-Claude zurück – auf eine interessante Geschichte verweisen kann …
Zu BDS fällt Künstlern, die sich nicht zu BDS halten, nichts ein. Ist das beruhigend?
Danke für den Bericht.
Ansonsten: Was für ein ebenso wirres wie widerliches Gelaber da seit Monaten geboten wird (von gut dotierten Profis) ist ziemlich erschütternd, passt aber zum belanglosen und banalen Propagandakunsthandwerk. Kauft die eigentlich jemand? Oder existiert die nur durch das Abgreifen öffentlicher Mittel von Staaten, die man ansonsten hasst und verachtet?
Doch, den Künstlern fällt schon etwas ein, nur sind es zu wenige.
Mein Beitrag zur Documenta:
https://www.achgut.com/artikel/documenta_das_elend_des_kunstbetriebs
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