Was kostet mehr Mut – sich von Regeln zu befreien oder welche zu setzen? Warum ist Adolf der Beste? Und was soll überhaupt der Scheiß mit den Schildern? Überlegungen im Siff einer Punk-Toilette.
„Was haben sich diese Autonomen nur dabei gedacht?“, frage ich mich, während es unter mir in die kackverschmierten Keramikschüssel plätschert. Wie hypnotisiert krallt sich mein Blick an den signalroten Schalter, der sich vor meinen Augen als farbgewordene Provokation aus den Eding- und Aufkleber-Fresken der Toilettenwand schält.
In großen Buchstaben lese ich:
„NOTSCHALTER –
Wer den Schalter nur aus Spaß drückt, bekommt sofort Veranstaltungsverbot!
Mit so etwas macht man keine Scherze.“
„Fuck“, zische ich, und Verzweiflung tropft aus meiner Stimme in die Schüssel. „Das ist echt nicht witzig.“ Meine Blase ist viel zu voll, als dass ich die Chance hätte, nicht darüber nachzudenken. Es läuft und läuft, und der kleine Junge in meinem Hinterkopf hat genug Zeit, sich die Fäustchen auf dem Teppichboden meines geistigen Kinderzimmers wund zu trommeln. Was erwarten die denn? Der Schalter strahlt so höhnisch hell wie ein riesiger Bauklotzturm an der Kante eines Küchentischs. Und mit jedem Bier, das ich heute Abend zum Klo trage, steigert sich seine Leuchtkraft ins Unermessliche, ein Roter Riese, betrunken und großkotzig, auf dem Weg zur verdammten Supernova.
Ich atme durch, zähle stumm bis drei.
Kosmische Katastrophen – mit so etwas macht man keine Scherze.
Zeitreisen können an den ungewöhnlichsten Orten beginnen. Diese hier startet auf dem Klo des Autonomen Zentrums in Mülheim an der Ruhr, eigentlich ein nostalgischer Trip zur Konzertstätte meiner Jugendjahre. Baracken-Flair, Backsteinschuppen mit Bühne, Flaschenbier am Tresen plus Kicker, tropfende Decke und Sperrmüll-Sofas. In den Jahren zwischen 15 und 17 lag ich hier öfter in irgendwelchen Ecken als Zuhause im Bett. Bekloppte Punk-Attitüde. Jetzt bin ich zurück – mal wieder zu einem Konzert – zurück zu den Kriegstrommeln meiner Pubertät.
Ich knöpfe die Jeans zu und stelle mit Bestürzen fest, dass die Reise in die Jugend gerade eine Abzweigung zur Trotzphase meiner Kindertage nimmt. Ich beobachte, wie meine Fingerspitzen zärtlich über den zerkratzten Kunststoffschalter streichen. Nur ein kleiner unschuldiger Stupser …
Auf einem zweiten roten Schild lese ich:
„Bitte nur benutzen, wenn:
a) du bedrängt oder bedroht wirst.
b) Medizinische Hilfe benötigt wird.“
Ich gehe in mich und bewerte die Situation, murre, ziehe den Finger widerwillig zurück und höre prompt, wie der kleine Junge aus infantiler Wut sein Kinderzimmer zerlegt.
Die Schalter in jeder Kabine wären gar nicht mal das Problem, die Masse macht es. Schockierend, wie prächtig der deutsche Schilder-Fetisch auf autonomen Nährboden gedeiht. Am Eingang zu den Toiletten las ich den ausgedruckten und laminierten Hinweis:
„Wir haben keine Lust auf Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie und Mackertum!!! Wenn du dich belästigt fühlst, melde dich bitte an der Theke oder an der Kasse! Du bist nicht allein!“
Fünf Ausrufezeichen, einmal sogar drei in Folge. Was soll ich zu einem derart ungezügelten Wahnwitz sagen?
Interpunktion – mit so etwas macht man keine Scherze.
Außerdem sollte der Grundgedanke doch ausreichen: Arschlöcher werden vor die Tür gesetzt. Punkt. Warum muss man trotzdem seine Haltung jedem plakativ und ungefragt in die Fresse klatschen? Und dabei maßlos übertreiben: Vor eineinhalb Jahren wurde im AJZ Bielefeld (Arbeiterjugendzentrum) ein Konzert abgebrochen, weil sich der Drummer schweißgebadet das T-Shirt vom Oberkörper riss. Zack – Brust blank, Stecker gezogen. Und das nicht, weil das Auge kotzen wollte. Die Begründung der Veranstalter lautete lapidar: Einige der weiblichen Konzertbesucher hätten sich durch den freigelegten Sexismus belästigt fühlen können.
Ja. Das ist Punk.
Ich ziehe eine Schachtel Kippen aus der Hosentasche und stecke mir eine im Klo an. Wie ein Geschwür frisst sich seit Beginn des Abends der Drang in meine Eingeweide, diesen ganzen verfickten Regeln hier meinen blanken Arsch zu zeigen. Aufs Veranstaltungsverbot geschissen.
Im Netz wird das AZ als „selbstverwaltetes Jugendkulturzentrum“ beschrieben. O-Ton: „Die Idee dabei ist, dass Jugendliche und junge Erwachsene ohne Zwang, Druck oder Leitung durch gesellschaftliche Institutionen, die Möglichkeit haben, sich kulturell und künstlerisch zu betätigen und zu bilden.“
Ohne Zwang, Druck oder Leitung blase ich den Qualm zur zerfurchten Betondecke. Back to Puberty – Testosteron und Rebellion! Meine Zeitreise ist nahezu perfekt. Aus dem Augenwinkel registriere ich das hämische Grinsen des verdammten Notschalters, kläffe: „Aufs Maul, oder was?“
Was mit mir gerade geschieht, nennt man in der Psychologie Reaktanz. Dinge, die vorher kaum wahrgenommen wurden, bekommen mit ihrem Verbot einen unwiderstehlichen Reiz.
Wie oft schon hat die Geschichte bewiesen, dass starre Regelkonstrukte nicht funktionieren? Während ich rauchend im Klo stehe, wird mir bewusst, dass Adolf gar nicht der einzig Ewiggestrige auf diesem Konzert ist. Im Gegenteil sogar. Ich konnte es kaum fassen, als ich vorhin sah, wie er liebenswert entrückt zwischen den Punks und Autonomen hindurch schlurfte. Adolf Abartig. Ein Szene-Unikat, an dem die vergangenen 15 Jahre ohne äußerliche Auswirkungen vorübergezogen sind. Einzig der kleine Affe in seinem Arm hatte sich verändert – ist mittlerweile orange.
Die von Schlössern und Flaschenöffnern am Hals gehaltenen Eisenketten klimperten, als ich ihn auf das Tier ansprach. Adolf blieb stehen, blickte mich aus seinem aufgedunsenen Indianergesicht mit dem Clockwork-Orange-Kajal um dem linken Auge an und lächelte. Dann drückte er das Tier, dessen orangefarbene Arme schlaff über der linken Hand baumelten, an sein Band-T-Shirt, zog sich mit den langen, spitzen Fingernägeln der anderen Hand eine Strähne glatt und erzählte: Den ersten Stoffprimaten, Wilma Schmidt, den ich noch kannte, hatte man ihm vor zehn Jahren geklaut. Dann folgte Anarchix, und das jetzige Stofftier heißt Agent Orange. Adolf sprach den Namen allerdings nicht wie das amerikanische Entlaubungsmittel aus sondern in gutem Deutsch mit hartem „g“. Besonders die Oran-g-e. A-g-ent Oran-g-e. Wegen der Farbe, betonte er mehrmals.
Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob er dieses Stofftier seit Jahrzehnten aus Selbstironie im Arm hält, oder er ein verdrängtes Kindheitstrauma mit sich herumschleppt, ich hatte das Gefühl, ihn unterscheidet etwas Grundlegendes vom großen Rest der Szene: Adolf nimmt sich nicht so ernst, steht – mehr als offensichtlich – zu seinem kleinen Kind im Hinterkopf.
Die meisten Leute hier propagieren Freiheit und bauen sich dabei Natozäune aus Regeln und irrsinnigem Anstand. Das Problem der Szene: „pc“ ist einfach nicht witzig. Diese Autonomen versuchen mit der spießigen Verbissenheit eines deutschen Bürokratenhengsts, Ethik zu leben. Korrektheit lässt keinen Spielraum für Selbstironie. Und wer nicht über sich lachen kann, kann nicht die Welt verbessern.
Was viele nicht zu begreifen scheinen: Diese Verbissenheit führt in ein Leben, das sie eigentlich so inbrünstig verurteilen. Im Prinzip kommt es zu keinen Veränderungen, selbst wenn nicht alles beim Alten bleibt. Mut ist anders, das wird mir heute Abend bewusst. Die gelebte Zeit wiederholt sich ständig und lässt jeden Morgen wie ein aufgewärmtes Gestern schmecken.
Ich ziehe an meiner Kippe und schaue mir noch einmal das abgeranzte Klo an. Vor 15 Jahre lugte hier ein roter Chuck unter der Toiletten-Tür nach draußen und schrie um Hilfe. Als sich einer meiner Kumpel über die Wand zog und nach unten schaute, hatte sich der kleine Schlange embryonal in die Kotzlache ums Klo gerollt. „Alles in Ordnung bei dir?“, rief er in meine Richtung. Meine Hand schnellte aus der fäkalen Hölle nach oben und wedelte beschwichtigend in der Luft. „Wie sieht das denn aus?“, krochen meine Worte unter dem Toiletten-Rohr hervor. „ Ich mach das schon, du Pisser. Ich bin hier nur noch nicht fertig.“
Damals hätte dieser Schalter sicher nicht überlebt. Doch die Zeiten ändern sich. Feige? Keine Ahnung. Kopfschüttelnd verlasse ich die Toiletten. Ein Notschalter auf dem AZ-Klo, denke ich. Das ist wie Ficken mit Rausziehen. Einmal die Kontrolle verlieren bedeutet sofortiges Veranstaltungsverbot.
Und mit so etwas macht man nun wirklich keine Scherze.
[…] Der Notschalter […]