Der Raumkampf richtet sich heute gegen Juden

Antisemitische Demonstration 2014 in Dortmund.

Nicht nur in Deutschland erleben wir die Wiederauflage eines rechtsradikalen Konzepts der 90er Jahre: den Raumkampf. Doch diesmal sind Juden und Israelis das Ziel, und die Täter können sich der Unterstützung und des Verständnisses weiterer Teile des Kultur-, Medien- und Wissenschaftsmilieus sicher sein.

In den 90er Jahren waren Nazigruppen vor allem in Ostdeutschland beim Raumkampf zum Teil äußerst erfolgreich. Es ging ihnen darum, „national befreite Zonen“ zu schaffen, die von Migranten und Linken gemieden werden und in denen auch die bürgerliche, deutsche Mehrheit aus Angst, unangenehm aufzufallen, den Mund hält. Im Westen war die Umsetzung einer solchen Politik schwieriger. Zwar war es für Nazigegner und Journalisten noch vor ein paar Jahren nicht ungefährlich, sich in Dortmund-Dorstfeld aufzuhalten, aber aufgrund des Zahlenverhältnisses mied die Dortmunder Naziszene den offenen Konflikt mit den Migranten, denn es war klar, dass sie jede körperliche Auseinandersetzung verlieren würden.

Zurecht sorgten und sorgen die „national befreiten Zonen“ für Empörung, Protest und zum Teil staatliche Gegenmaßnahmen. Der größte Teil der Gesellschaft war und ist sich einig darin, solche Zonen nicht zu dulden. In Dortmund sorgte eine Mischung aus harten Polizeimaßnahmen, robusten Aktionen von Nazigegnern und zivilgesellschaftlichem Engagement dafür, dass der größte Teil der Naziszene mittlerweile Dorstfeld verlassen hat. Sie zog weiter in den Osten, nach Chemnitz.

Seit Jahren erleben wir in der Bundesrepublik eine Neuauflage des Raumkampfes. Diesmal geht es nicht um „national befreite Zonen“, sondern darum, Juden und Israelis aus Institutionen wie Theatern, Museen, Sportplätzen und Hochschulen sowie ganzen Stadtteilen und Städten zu vertreiben oder sie zumindest dazu zu bringen, sicherzustellen, dass sie als Juden nicht mehr erkennbar sind. Eine Kippa auf dem Kopf oder einen Davidstern an einer Kette um den Hals zu tragen, ist längst so gefährlich geworden, dass sich dies aus guten Gründen nur noch wenige Juden trauen. Auch in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, ist riskant.

Juden ziehen sich vermehrt aus der Öffentlichkeit zurück, seit dem 7. Oktober, dem Überfall der Hamas auf Israel. Als im Herbst vergangenen Jahres eine kleine Zahl von Bürgern in Bochum sich mit Israel solidarisierte und gegen Antisemitismus auf die Straße ging, nahmen kaum Juden an der Kundgebung vor dem Rathaus teil. Sie hatten Angst, auf die Straße zu gehen. Die Angriffe auf Juden, die sich als solche zu erkennen geben, sei es auf den Straßen oder an den Hochschulen, gehören mittlerweile zum Alltag. Die Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg berichtet von einem „stillen Boykott israelischer Filme“. Der Kulturbetrieb folgt immer öfter antisemitischen Aktivisten.  Aus Angst vor antisemitischen Ausschreitungen sagt ein Berliner Gymnasium seine Abiturfeier ab. Im Sport sieht es nicht besser aus: Brüssel will sein Stadion nicht für Spiele der israelischen Fußballnationalmannschaft im Rahmen der „Nations League“ zur Verfügung stellen. Philipp Peymann Engel, der Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen und früher einmal ein Autor dieses Blogs, sagt im Interview mit der Welt auf die Frage, ob Juden darüber nachdächten, Deutschland zu verlassen: „Ich höre diese Überlegungen zumindest bei jüngeren Familien immer häufiger. Insbesondere Berlin ist gekippt. In mehreren Städten des Ruhrgebiets sieht es nicht anders aus. Und diejenigen, die über Wegzug nachdenken, machen das mit blutenden Herzen. Denn Deutschland ist ihre Heimat. Sie sind jüdische Deutsche.“ Und er sagt, welche Gruppen die Juden am meisten bedrohen: „Ja, der Rechtsextremismus ist ein großes Problem. Beim Alltagsjudenhass aber muss man, ohne zu generalisieren, feststellen: Es sind Islamisten, säkulare Muslime und Linksextreme, die uns massiv bedrohen, die uns das Leben zur Hölle machen.“

Das alles ruft kaum mehr Empörung hervor. Schon Jahre vor dem Oktober 2023 hatte die BDS-Kampagne, deren Ziel die Vernichtung Israels ist und die von der Hamas unterstützt wird, erfolgreich Juden aus dem Wissenschafts- und Kulturbetrieb herausgedrängt. Doch weil die Täter dieses Mal, anders als bei den „national befreiten Zonen“, keine Neonazis waren, sondern anerkannte Künstler oder Intellektuelle, gelang es ihnen schnell, Sympathisanten zu gewinnen, als der Druck, zum Beispiel durch die BDS-Resolutionen von Stadträten, Landesparlamenten und schließlich des Bundestages, größer wurde. Dabei ging es in all den demokratisch gefassten Beschlüssen nur darum, antisemitische Aktivisten zukünftig nicht mehr mit Steuergeldern zu unterstützen.

Unter dem Banner der Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sprangen Intellektuelle und Künstler den antisemitischen Brandstiftern bei und es störte sie nicht, dass sie sich damit zu Mittätern machten. Lässt die Leitung der Freien Universität Berlin ein von Antisemiten besetztes Gebäude räumen, an dessen Wänden sie Hetzparolen hinterlassen hatten, können die Besetzer, nicht die Hochschulleitung oder die jüdischen Studenten, die durch solche Aktionen aus der Uni gedrängt werden, mit der Solidarität der akademischen Szene rechnen. Über 1000 Hochschullehrer unterzeichneten einen offenen Brief, in dem es hieß: „Angesichts der angekündigten Bombardierung Rafahs und der Verschärfung der humanitären Krise in Gaza sollte die Dringlichkeit des Anliegens der Protestierenden auch für jene nachvollziehbar sein, die nicht alle konkreten Forderungen teilen oder die gewählte Aktionsform für nicht geeignet halten.“ Über den Überfall der Hamas, die Geiseln und die Situation jüdischer Studenten verloren die Akademiker kein Wort.

Den Weg frei für eine kaum noch verhohlene Sympathie mit antisemitischen Aktivisten machte Ende 2020 die Initiative GG-Weltoffenheit. In einer Erklärung, die von einem großen Teil der wichtigsten Manager mit Steuergeldern finanzierten Kulturinstitute unterschrieben wurde, stellte man sich gegen den Beschluss des Bundestages, Anhänger der BDS-Kampagne keine Steuergelder mehr zukommen zu lassen. Antisemiten nicht mehr finanzieren zu wollen, erschien den Unterzeichnern als ein empörender Angriff auf die Kunstfreiheit.

Es wäre in den 90er Jahren undenkbar gewesen, dass Hochschullehrer und Intellektuelle sich hinter Neonazis stellen, als diese dabei waren, Migranten und Linke aus ganzen Landstrichen und Stadtteilen zu vertreiben. Niemand hat damals ernsthaft versucht, die Parole „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ mit dem Hinweis zu relativieren, dass ja viele Deutsche längst einen Migrationshintergrund hätten und es gar nicht ganz klar wäre, dass es sich um eine rassistische Losung handelt. Bei „From the River to the Sea, Palestine Will Be Free“ sieht das ganz anders aus. Gerichte zweifeln mittlerweile daran, dass der palästinensische Kampfruf eindeutig der Hamas zugeordnet und damit verboten werden sollte. Und überhaupt, könnte es nicht auch die Forderung von Veganern sein, eine ganze Region frei von Fleischprodukten zu halten? Neu ist so ein Versagen nicht. Auch Dortmunder Richter stellten vor Jahren einmal in einem Urteil fest, dass Nazis, die uniformiert durch die Stadt marschierten, ja gar keine Uniformen trugen, sondern eher Sporttrikots. Dass sie dabei nicht „Heya BVB“ sondern SA-Parolen brüllten, irritierte die Juristen nicht.

Auch hat niemand aufgeregt auf die Kunstfreiheit verwiesen, als Rechtsrockkonzerte untersagt und der Verkauf verschiedener Stücke der Band Störkraft verboten wurde. Hätte man ihre Lieder nicht auch antikolonialistisch „lesen“ können?

Geht es gegen die Juden, werden von einem großen Teil des Kultur- und Wissenschaftsmilieus nicht nur Einschränkungen abgelehnt, sondern auch Kritik gerne als rechtsradikal oder rassistisch abgetan. Antisemitismus gibt es für diese Szene nur, wenn jüdische Künstler Aufträge verlieren, weil sie den BDS unterstützen und sich für die Vernichtung Israels einsetzen. Positionen, die der allergrößte Teil der Juden in Deutschland ablehnt. Ganz davon abgesehen, dass dieser kleine Personenkreis keine Probleme hat, weil er jüdisch ist, sondern weil er Antisemiten unterstützt.

Der 1991 verstorbene Michael Kühnen, der bekannteste Neonazi seiner Zeit, wird sich im Grab umdrehen, dass er nicht auf die Idee kam, seinen Antisemitismus in ein hippes, antikolonialistisches Gewand zu kleiden. Schwul wie der an Aids gestorbene Kühnen war, könnte er heute sogar die Queer-Karte ziehen. Hätte er noch ein wenig Kunst gemacht, für die sich niemand interessiert und die entsprechenden Sprachcodes benutzt, stünden heute seine Chancen gut, zum IT-Boy der Antisemiten zu werden, die sich „Israelkritiker“ nennen.

Wenn Politiker, Polizei, Justiz und die nicht antisemitischen Teile der Linken heute die richtigen Schlüsse ziehen, besteht trotz allem die Aussicht, dem neuen Antisemitismus Herr zu werden. Natürlich ist es wichtig, die Zentren der antisemitischen Szene auszumachen und ihnen kein öffentliches Geld mehr zukommen zu lassen. Wenn das rechtlich mit einer politischen Begründung schwierig ist, verkauft man das einfach als Sparmaßnahme.

Unis sollten ihre Möglichkeiten, Hausverbote auszusprechen und Studenten zu exmatrikulieren, nutzen und, wenn möglich, ausbauen.

Die Polizei in anderen Städten kann von ihren Kollegen in Dortmund lernen: Dort bekamen die Beamten alles von ausgesuchten Neonazis auf den Tisch, egal ob es sich um motivierte Delikte handelte oder nicht. Sie kannten ihre „Pappenheimer“ und hielten den Ermittlungsdruck hoch. Und irgendwann wurde so aus Bewährungsstrafen Haftstrafen. Bei Ausländern können auch, beim österreichischen Rechtsradikalen Martin Sellner hat man das immerhin versucht, verschiedene Maßnahmen des Ausländerrechts angewandt werden. Niemand muss in einem repressiven, kolonialistischen und mit dem zionistischen Imperialisten verbündeten Land leben. Man kann es auch ganz schnell verlassen. Der Staat ist da gerne hilfsbereit.

Der Mehrzahl der Bürger, die weder Islamisten noch linksradikale Antisemiten sind, sollte zudem klar gemacht werden, dass sie, wenn die Juden erst einmal verjagt worden sind, schnell das nächste Ziel des Raumkampfes werden können. Wer sich dessen bewusst wird, ist vielleicht etwas solidarischer mit den Juden. Die Politikwissenschaftlerin Katharina von Schnurbein verglich die Juden in einer Rede einmal mit den Kanarienvögeln. Die wurden früher im Bergbau eingesetzt. Hörten sie auf zu singen, wussten die Kumpels, dass die Luft vergiftet war. Die Angriffe auf die Juden heute sind die erste, große, sichtbare Attacke auf die offene, demokratische und aufgeklärte westliche Gesellschaft. Sie sind ein immer deutlich sichtbares Alarmzeichen und es zeigt an, dass die Zeit zu handeln gekommen ist: Konsequent und mit aller Härte, welche der Rechtsstaat ermöglicht.

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[…] hätte aus ihm werden können? Kulturpolitik, die Juden gerade dann nicht aus den Augen verliert, wenn sie aus der Öffentlichkeit gedrängt werden, erkennt Gefahren, bevor sie entstehen, anstatt sie nachträglich zu […]

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