Die Zahl der Angriffe auf Feuerwehrleute und Rettungssanitäter steigt seit Jahren. Wie man sich bei Angriffen rettet, haben die Retter nie gelernt. Ein Essener versucht, ihnen das beizubringen.
Eine Tür ist immer gefährlich. Weder Feuerwehrleute noch Rettungssanitäter wissen, was sich hinter ihr verbirgt. Wenn alles gut läuft, wartet dort ein Mensch auf Hilfe, will versorgt und ins Krankenhaus gebracht werden. Wenn es schlecht läuft, steht dort jemand mit einem Baseballschläger und hat sich schon für den Angriff bereit gemacht. „Sanitäter und Feuerwehrleute haben schon alles erlebt“, sagt Peter Kuschmierz. „20 aggressiver Männer, bereit zum Angriff und Drogenhändler, die nicht wollen, dass ein kollabierter Süchtiger versorgt wird und es Zeugen ihrer Geschäfte gibt.“ Auch Familien, die den Tod eines Angehörigen beklagen können voller Wut auf die Retter sein, wenn sie glauben, sie seien zu spät gekommen. „Ich weiß von Fällen, in denen Sanitäter die Leiche einer Frau medizinisch versorgt haben, um heil aus der Wohnung zu kommen.“ Die Mitteilung ihres Todes hätte die Angehörigen unberechenbar gemacht.
Kuschmierz, studierter Soziologe, Besitzer einer Wing Tsun-Schule und erfahrener Kampfsportler, der es in Karate bis zur Teilnahme an einer Europameisterschaft brachte, bereitet Rettungskräfte, Feuerwehrleute, Ärzte aus den Notaufnahmen von Krankenhäusern, Mitarbeiter der Arbeitsagentur und von Ausländern auf etwas vor, für das sie nie ausgebildet wurden: Von Menschen angegriffen zu werden.
Und die Zahl dieser Angriffe steigt. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes gab es 2011 116 Verletzte durch Angriffe auf Rettungskräfte. 2019 waren es schon 356. Die Zahl der Gewaltopfer bei den Feuerwehrleuten stieg im selben Zeitraum sogar von 115 auf 431. Attacken auf Rettungskräfte sind Großstadtkriminalität, nach Angaben das LKA steigt ihre Anzahl „proportional zu der Größe beziehungsweise Einwohnerzahl der Stadt.“ Das Land hat das Problem erkannt, eine Meldepflicht für solche Angriffe eingeführt und setzt auf Prävention und Fortbildung der Betroffenen. Und das ist Kuschmierz Job. Seitdem er 2017 für die Stadt Bochum Mitarbeiter schult, bekommt er immer mehr Anfragen. „Ich hatte wohl das richtige Angebot zur richtigen Zeit“, sagt Kuschmierz, der etwas von einem freundlichen Bär hat, dem man ansieht, dass man ihn nicht allzu sehr ärgern sollte.
Die Aggression gegen die Retter, sagt Kuschmierz, habe seit 2015 zugenommen. Viele der Flüchtlinge die damals kamen hätten Gewalterfahrungen hinter sich. Und bei vielen von ihnen hätten die drei zentralen Begriffe aller gewalttätigen Subkulturen, einen besonders hohen Stellenwert: „Ehre, Loyalität und Respekt – um diese drei Worte dreht sich in gewalttätigen Subkulturen, ob in Deutschland oder Arabien, alles. Und meine erste Aufgabe ist es, meinen Schülern ihre Bedeutung beizubringen.“ Das Problem: Diese Werte spielen in der Mittelschicht, aus der die meisten Pfleger, Notärzte und Feuerwehrleute kommen, keine große Rolle. Und dass man bei Streitigkeiten zur Gewalt greift, ist ihnen auch unbekannt. Zwei Welten treffen aufeinander, wenn Rettungskräfte auf oft große Cliquen gewaltbereiter, junger Männer treffen, von denen viele einen Migrationshintergrund haben.
„Die meisten von denen haben in ihrem Leben nichts erreicht, haben keinen Job, keine Ausbildung und wissen dass auf sie keine gute Zukunft wartet. Das Einzige, was sie noch haben, ist das, was sie als ihre Ehre begreifen und sie streben nach Anerkennung der anderen.“ Und die kann man bekommen, wenn man jemanden angreift, der eine Uniform trägt – auch wenn es die weiße Kluft der Rettungssanitäter ist.
Das Erste, was Kuschmierz seinen Schülern beibringt ist, keine Angst zu zeigen: „Angst ist ein gutes Gefühl, es warnt uns. Aber wenn man von einem Dutzend aggressiver, junger Männer umgeben ist, darf man es nicht zeigen. Alles, was auf Schwäche hindeutet wird ausgenutzt.“ Wichtig sei der Eigenschutz. „Man sollte niemanden in seine Deadzone lassen“, sagt Kuschmierz. Und die Deadzone, die „Todeszone“, in der ein Schlag gefährlich oder gar tödlich sein kann, liegt eine Armlänge um einen herum. Der Rat von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, nach den Ausschreitungen auf der Domplatte zu Silvester 2015, Fremde eine Armlänge auf Abstand zu halten, er war nicht falsch. „Viele Täter beherrschen genau einen Schlag und den üben sie seit Jahren immer wieder aus, weil sie mit dem erfolgreich waren. Es ist wichtig eine Distanz zu wahren, dass sie diesen Schlag nicht ausüben können.“
Wenn man den Abstand gewahrt hat, sagt Kuschmierz, sollte man reden. „Ehre, Loyalität, Respekt – diese Werte kann man ansprechen und oft hat man damit auch Erfolg. Sätze wie „Ich habe eine Familie, sie doch sicher auch. Warum wollen sie jemanden angreifen, der wie sie eine Familie hat? Sie sind doch sicher ein Mann, dem seine Ehre wichtig ist.“ können Wirkung zeigen.
Kuschmierz bildet keine Rettungskräfte zu Kampsportlern aus, dafür sind seine Seminare zu kurz. Aber er lässt sich von seinen Schülern schlagen und zieht dazu einen Schutzanzug an. „Viele wissen gar nicht, wie viel Kraft sie haben. Wenn ihnen das klar wird, ist das nicht verkehrt.“
Der Essener hilft Rettungskräften, Gefahrensituationen besser durchzustehen. Aber es weiß, dass das nicht die Lösung ist: „Die Polizei muss durchgreifen können, auch in Situationen wie wir sie in Stuttgart und Frankfurt erlebt haben.“ Das sei in ganz Europa möglich, aber in Deutschland ein Problem: „Die Polizei hat die Politik nicht hinter sich. Die kann die Probleme, auch im Rahmen des geltenden Rechts, lösen. Aber das kann sie nur, wenn sie weiß, dass die Gesellschaft und die Politik hinter ihr steht.“
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag