„Der Schmerz über ein unvollendetes Leben…“

Aslı Erdoğan Foto (Ausschnitt): Carole Parodi Lizenz: CC BY-SA 4.0


Aslı Erdoğans literarische Spurensuche. Von unserem Gastautor Roland Kaufhold.

„Gut, fangen wir an. Sofort. Wir wollen über das Leben reden, da haben wir nicht viel Zeit.“ Dies ist der literarische Ton, in dem die 1967 in Istanbul geborene türkische Schriftstellerin und Publizistin Aslı Erdoğan dem Leser entgegen tritt. Seit 2017 ist sie ganz offiziell eine Exilantin: Mit Unterstützung des bundesdeutschen PEN vermochte sie, in die Bundesrepublik zu gelangen. Zuvor wurde sie mehrfach, so 2016, wegen ihrer Texte und ihres Engagements für die Menschenrechte mit dem Terrorparagrafen bedroht. Und dann doch frei gesprochen. Das heißt in der Türkei nicht viel, wie die Vita ihres Freundes, des vor einem Jahr verstorbenen deutsch-türkischen Autors und der aufrichtigen Erinnerung an den türkischen Völkermord an den Armeniern verpflichteten Menschenrechtlers Doğan Akhanlı gezeigt hat. Aslı Erdoğan wurde vom Despoten, der den gleichen Nachnamen wie sie selbst trägt, gezwungen – wie viele ihrer Kollegen – ihre Heimatstadt Istanbul zu verlassen und nun in Deutschland Schutz zu suchen. Mit dem kürzlich erschienenen lyrischen Werk Requiem für eine verlorene Stadt legt sie eine literarische, lyrische Erinnerung unter anderem an ihren Istanbuler Stadtteil Galata vor.

Galata mit seinen schmalen Gassen ist die Welt, in der Aslı Erdoğan aufgewachsen ist. Nicht vieles erinnert heute noch an die quirlige Vergangenheit dieses geschichtenreichen Stadtteils bemerkt der Kölner Schriftsteller und Journalist Gerrit Wustmann in seinem gehaltvollen Nachwort: „Über Nacht wurden marode Gebäude abgerissen und edle Apartmentkomplexe hochgezogen.“ In ihrem meisterhaften, innerlichen literarischen Werk ruft die Dichterin diese lebendige Vergangenheit aus dem Exil wieder in Erinnerung. 2005 erschien ihr Buch erstmals in der Türkei. Für die vorliegende deutschsprachige Version fügte Aslı Erdoğan weitere kleine literarische Stücke hinzu.

Aslı Erdoğans literarisches Ich schweift in die Welt ihrer Kindheit, die heute für die Autorin überlagert ist von der brutalen Ungerechtigkeit, der amoralischen Übergriffe. Sie schreibt in einer Sprache, wie sie in der Literatur nur selten anzutreffen ist. Dichte, fantasiereiche, schmerzhafte Bilder entfalten auf jeder Seite ihres faszinierenden Werkes ihre Kraft, führen uns in die Welt der Liebe, aber auch der Gewalt.

In Der Schrei erinnert sie sich ihrer Mutter. Manchmal sah sie ihr lange ins Gesicht, bis ihr Blick „leer wie ein ausgetrocknetes Flussbett“ wurde. Dann der Gedanke an die Abtreibung, vor der die Mutter im letzten Augenblick zurückgeschreckt war. Aslı muss an die Angst denken, aber auch an das Wunder des Lebens: „Mir war als läse ich aus den Sträuchern und Kieseln entlang des Flusses“. Dort fand sie ihre eigene Geschichte, aber auch den „Schrei ihres blutenden, aufgerissenen Leibes.“

Die Geschichte ihres Lebens, zersplittert in viele Seiten, die vergessen sind, wenn die Seite umgeblättert wurde. Das „Wunder des Blutes“ bestehe darin, ihre literarischen Worte „ins Leben zu schicken und meiner Zerfetztheit einen neuen Leib zu versprechen.“ Gelegentlich streife sie „nachts auf dem Friedhof der Worte umher“ und „rufe den Toten verzweifelt zu: „Wacht auf! Wacht auf!““

„Meine Herberge, mein Gefängnis“

Sie schreibt über Galata, den Stadtteil ihrer Kindheit, mit seinen krummen, verwinkelten Gassen, dem Schlamm, den Pfützen. Eine untergegangene und doch bei der Wiedererinnerung eruptiv wieder auftauchende Traumwelt. In diesen Gassen „wohnte ich einst. Es war der Ort, wo ich Unterschlupf fand, Atem schöpfte. Meine Herberge, mein Gefängnis.“ Immer wieder musste ich bei diesen Schilderungen über Galata an Doğan Akhanlı denken, den untergegangenen, verstorbenen Freund und Menschenrechtler, wie er in seinen Werken an die Welt seiner Mutter in erinnerte. Einer Mutter, die regelmäßig ihre Kinder um sich versammelte und ihnen vorlas.

Aslı Erdoğan schreibt über die Gassen voller vergangener Geschichten, Höfe, Nischen, wo einst sogar Galeerensträflinge lebten, und über eine Straße, „in der in jedem Jahrhundert einmal bei Vollmond das Gespenst einer ermordeten Frau erscheint.“

Hier haben sich alle Schicksale getroffen, vereint, dort erbarmte er sich „allein und aufrecht, aller Lügen des Lebens und des Todes.“

Dann ein Stück aus dem Jahr 2003: Abschiedsbriefe. In „mitternächtlicher Verlassenheit“ sitzt die Autorin „vor den weißen Blättern“. Sie hört in den stillen Stunden des Erinnerns, „wie die Türen des Lebens, eine nach der anderen, weit aufgestoßen und zugleich wieder zugeschlagen werden.“ Die Welt halte wartend den Atem an, Entsetzen nistet sich ein, „fürchterliches Schweigen“, eine Stille, die doch „der Pulsschlag der Toten“ sei. Die Wörter, die sie in den Raum wirft, sind ein Klagelied. Die Buchstaben „packen meine Finger, formen das Licht und den Schatten.“

1990, als die Diktatur, die Gewalt in der Türkei für die 23-jährige Aslı Erdoğan auf einen Höhepunkt zueilt, verfasst sie dennoch Literatur, auch wenn die Wirklichkeit „nun einmal das Letzte“ wäre, „was ich ertragen würde.“ Wieder bin ich bei Doğan, der in jenen Jahren die Haft, die Folter überlebte und 1992 nach Deutschland floh, um sich dort, nach vielen Jahren verzweifelten Kämpfens und vorsichtigen tastenden Schreibens als Schriftsteller zu entdecken.

Das Leben war schwierig, die Träume ähnlich in ihrer Unwirklichkeit: „Der Tod ist so laut. Ich habe sein einsames Gelächter gehört“, schreibt Aslı.  Sie und ihr Freund schneiden sich die Haare ab, sie legt sie „in einen hölzernen Sarg, als würde ich Tote aufeinanderhäufen.“ Sie werde als Halbmond wiedergeboren, der den Sonnenuntergang nicht sehen könne, und sie werde „jeden Morgen in meinem eigenen Blut ertrinken“.

Aslı Erdoğan schreibt über das Exil, das Innere und das Äußere – welches sie selbst erleben musste nach dem Militärputsch 2016. Sie verteidigte sich auch selbst im Prozess, verteidigte ihren Status als Schriftstellerin, die nur über Worte verfüge, aber nicht über Waffen.

In Die Stunde der Abwesenheit berichtet sie von ihrem eigenen wilden, ungezügeltem Wusch, Geschichten zu erzählen, eine nach der anderen, „eine haarsträubender als die andere“, um ab und zu doch wieder Luft atmen zu können. Sie steige die „Treppe des Schweigens noch eine Stufe hinauf“, um danach doch um so tiefer fallen zu können. „Tausende von Tode“ habe sie schon durchstanden. Ein „abgehacktes Leben“ vermische sich mit dem Scheppern des Geschirrs und „dem Stimmengewirr der Gäste, ein unvollendeter Schrei“. Stunden um Stunden, Tage um Tage ereignen sich die Geschichten, die sie erzählen muss. Und doch vermag sie ihren Blick „nicht vom Tischtuch abwenden, das einem Leichentuch gleicht.“ Die Protagonistin will sich selbst loswerden und doch ganz sie selbst sein. Es hilft nicht, das widersprüchliche Leben geht erbarmungslos weiter, ihre Wünsche schneiden Wörter aus ihr heraus, „bis nur noch ein knochenfarbiger Widerschein von mir übrig ist, eine Narbe. Die Sätze fliehen aus dem Dunkel des Vergessens, alle angeschossen, durchlöchert.“

Die große Erzählerin Asli Erdogan blieb auch in der Fremde, in Deutschland, trotz aller Nichtzugehörigkeit eine Schriftstellerin, viele ihrer Werke sind ins Deutsche übersetzt worden. Und doch weiß Aslı Erdoğan in ihrer wunderschönen, nun auch auf deutsch zugänglichen Sprache: „Das eigentliche Wunder des Wortes ist, dass es nicht gesagt werden kann.“
Ein großartiges literarisches Werk!

Asli Erdogan: Requiem für eine verlorene Stadt. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Mit einem Nachwort von Gerrit Wustmann. Penguin Verlag, 128 S., gebunden, 22 Euro

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