„Der Tag, an dem ich sterben sollte“

#saytheirnames. Foto (Ausschnitt): C.Suthorn Lizenz: CC BY-SA 4.0


Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov – das sind die Namen der Opfer des rassistischen Terroranschlags von Hanau, der sich vor genau vier Jahren ereignet hat. Von unserer Gastautorin Diana Zulfoghari.

#saytheirnames „Erinnern heißt verändern!“ mit diesem Slogan haben die Angehörigen der Opfer den Jahrestag des Terroranschlags von Hanau begangen. Mindestens 5000 Menschen haben sich ihrem Gedenkmarsch angeschlossen. Der Anschlag markiert auch eine Wende in der Berichterstattung über solche Taten – durch den Einsatz der Angehörigen und Hinterbliebenen, die selbstbewusst an die Öffentlichkeit gingen, sind die Opfer, ihre Namen und ihre Gesichter nicht vergessen worden und der rechtsextreme, fanatische Täter hat keine posthume Berühmtheit erlangt. An seinen Namen erinnern sich nur wenige, er soll auch hier nicht genannt werden. Einer der fünf Überlebenden, Said Etris Hashemi, hat nun ein Buch darüber geschrieben:

„Es ist doch nur irgendein normaler Mittwoch. Warum besteht die Welt plötzlich nur aus Getöse, Blei und meinem Herzklopfen? – der will uns töten. Das ist kein Versehen. Wir stecken in einer Sackgasse. Und er kommt. Ruhig tritt er hinter die Säule und beginnt zu schießen. Panische Angst. Keuchen. Dieses Keuchen überall. Er beugt sich über die Theke, hinter der wir auf Knien versuchen, in Sicherheit zu rutschen. Während die Schüsse auf uns niederprasseln. Und dann, von einem Moment auf den anderen ist es still.“

Verstörend. Ich musste das Buch, das schon vor zwei Wochen bei mir ankam, zwischendurch zur Seite legen. Weil es meinen professionellen Rezensions-Habitus sofort untergräbt und mich in ein Wechselbad aus Scham, Wut, Mitgefühl und Fassungslosigkeit gestürzt hat. Einerseits kennt man die Ereignisse jenes Abends, über den Untersuchungsausschuss im Landtag ist oft berichtet worden. Also was soll jetzt in dem Buch Neues stehen? Terror, Amokläufe, Menschen, die in 5 min 29 sek mit 45 Kugeln niedergemäht werden, solche Gräueltaten sind schon vor Hanau passiert. Wir sind bestürzt und sagen: „Es hätte jeden oder jede von uns treffen können.“ Nein! Eben nicht jeden, mich schon, meinen Bruder auch – uns alle, die dunkle Haare und dunkle Augen haben.

Wer blond und blauäugig war, wurde verschont. Keineswegs „blindwütig“, sondern gezielt und geplant. Von einem Täter, der Kontakt zur AfD-Frontfrau Alice Weidel hatte, sie aber nicht radikal genug fand. Der alle Sarrazin-Bücher gelesen hatte und der immer wieder Anzeigen erstattet, Verschwörungsphantasien äußert, durch Stalking und Gewalttaten auffällt, Nazi-Pamphlete veröffentlicht und dennoch problemlos einen Waffenschein bekommt.

Dem gegenüber erleben die späteren Opfer vom Kindergarten an sämtliche Abstufungen von Alltagsrassismus, von Ungleichbehandlung, Willkür bis zur Täter-Opfer-Umkehr. Das schildert Hashemi fast beiläufig, weil es normal ist in der Vorstadt von Hanau, dass man als Kind afghanischer oder türkischer Einwanderer stets verdächtig ist. Beweisen muss, dass man einer von den Guten ist,
kein Krimineller, nein, einer mit deutschem Pass, mit Schulabschluss, abgeschlossener Berufsausbildung – so wie Said Etris‘ jüngerer Bruder Nesar. Der mit 21 Jahren im Kugelhagel stirbt.
Die beiden sind sich nah, fast wie Zwillinge. Sie haben ihr Leben lang ein Zimmer geteilt; als Etris, der Ältere nach zwei Tagen Koma im Uniklinikum Frankfurt erwacht, ist er zum ersten Mal allein. Und
erleidet eine Panikattacke:

„Ich hatte ne Auskunftsperre, kein Besuch, kein Kontakt zur Außenwelt. Freunde die mich besuchen wollten, sind zur Klinik gehabt und sie haben denen gesagt: so jemand liegt hier nicht! Das war das Schlimmste für mich in dieser Zeit, alleine zu sein. Dass es mir vorkommt, als ob die Wände enger werden. Und dann erst als ich das Buchprojekt begonnen habe, war das nochmal so, dass ich bis ins tiefste Detail reingegangen bin, mir ist es viel leichter gefallen, dass alles runterzuschreiben, als darüber zu sprechen.“

Said Etris Hashemi ist jetzt 27 Jahre alt und vertritt die Opfer und die Angehörigen auf vielen Podien, in Talkshows, im Bundestag, er gibt unzählige Interviews, aber man merkt ihm bis heute an, dass er sich an Fakten festhält. Dass er Klassenbester in Mathe war, aber furchtbare Angst hatte, Referate zu halten. Ein schüchterner, introvertierter Typ, der mit seiner plötzlichen Berühmtheit schwer zurechtkommt, am liebsten untertauchen möchte, als die Weltpresse in Hanau aufläuft. Dann kommt Corona, Lockdown und keiner redet mehr von Hanau, von Rassismus, keiner fordert Aufklärung, denn der Täter hat sich am Ende selbst erschossen. Er wird sich nie vor einem Gericht verantworten müssen. Da lässt Etris sich von seiner großen Schwester überzeugen, der Initiative 19. Februar beizutreten, sich zu engagieren. Denn es waren die Angehörigen, die mit dem Generalbundesanwalt gesprochen haben, die einen Untersuchungsausschuss gefordert und bekommen haben und die für eine Erneuerung des Opferentschädigungsgesetzes gestritten haben. Eine Erfolgsgeschichte, was mutige Angehörige erreichen können?

Das hatte ich gehofft, dass es eine Geschichte von Empowerment ist und wie aus einem introvertierten jungen Mann ein furchtloser Redner wird, der den hessischen Ministerpräsidenten Bouffier mit dem Rechtsextremismus der Polizei konfrontiert… aber so einfach kann es nicht sein, wenn ein schwer traumatisierter Mensch wie Etris Hashemi versucht, sich durch das Aufschreiben
selbst zu therapieren.

Was er (und seine Co-Autorin, eine Musikjournalistin) geschickt macht, ist die sehr detailgetreue Schilderung der Sitzungen im Untersuchungsausschuss als Gerüst zu nehmen und daran entlang einen inneren Dialog mit dem toten Bruder zu führen, die politischen Forderungen der Hinterbliebenen mit Rückblenden in die eigene Kindheit, die Familiengeschichte in Afghanistan zu verbinden. Manchmal gelingt es ihm nicht, die Gefühle für seine Freunde, die tiefe Verbundenheit zu seinem jüngeren Bruder in Worte zu fassen, dann wird’s etwas Ghetto-Klischee oder sehr faktenlastiger Fachvortrag, aber unversehens trifft es einen mitten ins Herz. Mich jedenfalls.

Wenn der Bürgermeister sein Beileid aussprechen will und Etris‘ Vater ihn bittet, sich vom Arbeitgeber bestätigen zu lassen, dass er in 40 Jahren nie krank war und keinen Cent Sozialhilfe in Anspruch genommen hat. Und bitte die Nachbarn fragen, die können bestätigen, wie gut die Familie Hashemi integriert ist.
Und es ist empörend, man möchte sich stellvertretend für den Autor und die anderen Hinterbliebenen aufregen! Sie können nicht einfach wegziehen, sondern müssen weiter auf den Tatort gucken, jeden Tag dort vorbeigehen. Wie die Mutter eines anderen Opfers belästigt wird – vom Vater des Täters! Der ist ein bekennender Rechtsextremist, terrorisiert die Nachbarschaft indem er in Warnweste und mit Schäferhund Patrouillengänge macht und nun hofft man ja, dass die Polizei einen Platzverweis erteilt, eine Gefährder-Ansprache macht, ihm untersagt, die Angehörigen der Opfer weiter zu belästigen.. aber nein, die Gefährder-Ansprache bekommt der Überlebende Etris Hashemi und seine Freunde. Die Polizei sorgt sich, dass die migrantischen jungen Männer Rache oder Selbstjustiz üben und dem Alt-Nazi etwas antun könnten.

Dass die Polizei in der Tatnacht den Schwerstverletzten erstmal nach seinem Ausweis fragt, einen anderen Überlebenden zu Fuß 3 km zur nächsten Polizeistation schicken, damit er dort aussagt – das sind nur bittere Randbemerkungen. Dass die Angehörigen der Getöteten kein bisschen freundlich oder sensibel behandelt worden sind, sondern als höchst verdächtig eingestuft. Das ist schwer zu ertragen.

Aber es gibt einen Untersuchungsbericht, die Fehler der Polizei, dass zum Beispiel der Notruf gar nicht erreichbar war an dem Abend, dass 13 Beamte zu einer rechtsextremen Chatgruppe gehörten, dass der Notausgang der Bar verschlossen war, so dass Hashemi und seine Freunde nicht fliehen konnten – das alles ist schriftlich festgehalten.

Und es hat keine Konsequenzen. Niemand muss dafür die Verantwortung tragen. Niemand hat seinen Hut genommen, die Polizei lernt nicht aus ihren Fehlern, sondern macht weiter wie bislang. Dass die Nachfahren von Einwanderern, die Deutschen zweiter Klasse, kein Vertrauen in sie und die Behörden haben, gar nicht erst erwarten, dass der Staat sie vor solchen Taten schützt. Das stellt auch
Hashemi in seinem Buch nicht infrage sondern nimmt es als normal hin.

Um sich in die Perspektive der Opfer zu versetzen empfiehlt sich das Buch von Said Etris Hashemi „der Tag, an dem ich sterben sollte“
Hoffmann & Campe/Hamburg 2024 222 Seiten (23 €)

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