Der viktorianische Vibrator – Technikgeschichte zwischen Lachen und Entsetzen

Die Spiegel-Online Redakteur Frank Patalong hat mit seinem Buch „Der viktorianische Vibrator“ einen Blick zurück in die Zeit geworfen, in der unsere moderne Welt gerade im Entstehen war.

Ruhrbarone: In Deinem Buch erzählst Du die unbekannte Seite der Technikgeschichte. Das ist mal charmant und witzig, dann wieder tragisch. Was hat Dich an diesen Geschichten fasziniert? 

Frank Patalong: Wie die meisten von uns bin ich mit Technik sozialisiert worden und habe ein fast romantisches Verhältnis zu ihr. Ich denke immer noch an die Zeit zurück, als meine Magisterarbeit mehrmals in den Untiefen meines 8088PCs verschwand. Damals hab ich die Kisten dafür verflucht, heute denke ich gerne an die Zeit zurück, in der ich an diesem Rechner gesessen habe. Wir verbinden mit Technik nostalgische Gefühle. Das geht aber natürlich nicht allen so: Meine Frau kann so etwas überhaupt nicht verstehen.

Ruhrbarone: Aber die Faszination an Technik hat ja nicht nur eine nostalgische Seite.

Patalong: Nein, die Menschen verbinden mit allen Technologien auch Heils- und Fortschrittserwartungen. Und natürlich prägen die Geräte auch den Blick auf die Welt. Ich habe viele alte Fachzeitschriften und Bücher gelesen und festgestellt: An der Art wie wir auf Technik reagieren, hat sich wenig geändert. Der Fachmann für Dampffahrzeuge hat im frühen 19. Jahrhundert ähnlich begeistert geschrieben wie heute der Redakteur einer Zeitschrift für Auto-Tuning. Nach den sieben Jahren, die ich an dem Buch gearbeitet habe, bin ich mir sicher: Es hat 1780 genau so viele Nerds gegeben wie heute.

Ruhrbarone: Du zeigst auch auf, dass fast alle neuen Technologien nicht über sogenannte „sinnvolle Anwendungen“ groß wurden.

Patalong:  Es ging immer erst über Unterhaltung.  Im Vordergrund der meisten Technologien stand am Anfang die Spaßanwendungen, dann erst kam der Nutzen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Elektrizität: Sie war seit der Antike bekannt. Lange wusste man gar nichts damit anzufangen. Das änderte sich dann im 17. Jahrhundert: Mit Elektrisiermaschinen lud man Kindern und Frauen auf, um sich von ihnen küssen zu lassen. Dann gab es einen kleinen Schlag und alle hatten ihren Spaß. Den konnte sich aber  nur eine kleine Oberschicht leisten, denn die entsprechenden Maschinen waren sündhaft teuer.

Ruhrbarone: Teuer waren auch die ersten Telefonanschlüsse und da ging es nicht um Ferngespräche.

Patalong: Das Militär und die Polizei nutzten Telefone sehr früh zur Kommunikation. Im Privatleben sah das anders aus: Da wurden die Telefone lange Zeit erst einmal zur Musikübertragung verwendet. In London kostete so eine Telefon mit einem Musikdienst, der einem Konzertübertragungen ins Haus lieferte, so viel wie das Jahresgehalt eine Butlers – auf die heutigen Preise umgerechnet 40.000 Euro. Damals entstanden die Vorläufer von iTunes und Napster. Zum telefonieren lohnte sich ein Telefon kaum: Es gab ja nur sehr wenige Menschen, die einen Anschluss hatten. Wen sollte man anrufen? Das Telefon brauchte ja ohnehin sehr lange, um sich durchzusetzen. In vielen Angestellten- und Arbeiterhaushalten gehörte es in Deutschland erst seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zur üblichen Ausstattung. Da war das Telefon schon eine 100 Jahre alte Technik.

Ruhrbarone: Anders beim Auto…

Patalong: Das Auto hatte immer beides: Einen Nutz- und einen Spaßwert. Autos wurden schon im frühen 19. Jahrhundert im Nahverkehr und zum Transport von Lasten eingesetzt, aber es gab auch immer vermögende Fans, die sich ein Auto zum Spaß leisteten. Lange bevor es den Benzinmotor gab, gab es eine Automobilindustrie mit Serienfahrzeugen. Allerdings wurden die mit Dampf angetrieben. Das Auto war schon längst erfunden, bevor Carl Benz 1885 das erste Benzinauto baute.

Ruhrbarone: Auch die ersten Vibratoren wurden nicht mit Strom betrieben.

Patalong:  Die ersten Vibratoren waren mechanisch. Später gab es dann Modelle, die von einer Dampfmaschine angetrieben wurden. Sie standen bei Frauenärzten, die mit den Vibratoren „Hysterie“ behandelten. Es waren  Apparaturen mit drehbaren Wellen.   Zwei Heizer feuerten in einem Nebenraum den Kessel an. Frauen wurde keine Sexualität zugestanden. Hysterie war eine Umschreibung für mangelnde sexuelle Befriedigung. Sex wurde so wegrationalisiert . Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass damals alle an dieses Konstrukt glaubten. Die Frauen wussten es natürlich besser, aber sie hat keiner gefragt.

Ruhrbarone: Einen großen Raum nimmt in dem Buch der aus heutiger Sicht sorglose Umgang mit der Radioaktivität und Röntgenstrahlen ein.

Patalong: An den kann ich mich, Jahrgang 1963, noch erinnern: In Dinslaken gab es damals ein Schuhgeschäft, in dem man seine Füße röntgen lassen konnte. Ganz Schuhketten boten das bis in die 70er Jahre an. Es gab Tage, da haben wir als Kinder zehn bis 15 Mal unsere Füße in diese Kisten gehalten und uns unsere Knochen angeschaut. Die Strahlendosen waren extrem. Es gibt zu diesem Thema bis heute keine klinische Studie über die Folgen. Nur in den USA hat man sich mit den Auswirkungen auf die für Schuhverkäuferinnen beschäftigt, aber niemand hat jemals eine umfassende Schadensmessung gemacht. Bis in die 70er war man extrem naiv im Umgang mit Radioaktivität.

Ruhrbarone: Dabei waren die Gefahren seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt.

Patalong: Beim Röntgen wusste man schon 1904 dass es gefährlich ist. Damals gab es schon Tote in den Laboren. Man machte trotzdem mit großer Todesverachtung weiter.

Das spielte auch ein tief verwurzelter Glaube an die Existenz einer Lebensenergie eine wichtige Rolle: Man glaubte erst, dass die Elektrizität diese Lebensenergie sei, das  Motiv sehen wir ja bei Frankenstein, und übertrug diesem Glauben dann später auf die Röntgenstrahlung und die Radioaktivität. Es gab bis in die 30 Jahre millionenfach verkaufte Geräte für hausgemachtes Mineralwasser, dem Radongas zugeführt wurde. Das war noch nicht ganz so schlimm, weil Radon eine geringe Halbwertszeit hat. Viel gefährlicher waren Lebensmittel, vor allem Kakao und Schokolade und Kosmetika, die  mit Radium versetzt wurden.

Ruhrbarone: Über welche unserer Technologien werden die Menschen in 100 Jahren den Kopf schütteln?

Patalong: Aus unserer Perspektive kann man das nicht sagen, aber eins ist sicher: Wir begehen heute auch Irrtümer über die man später lachen und sich gruseln wird.

Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik. Lübbe, Köln 2012, 9,99 Euro

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Helmut Junge
Helmut Junge
12 Jahre zuvor

Damals wurden die Füße von kleinen Kindern, denen man eine qualifizierte Auskunft darüber nicht zutraute, ob Schuhe drücken, oder zu groß sind, mit Röntgenstrahlen „durchleuchtet“, wie die Leute das nannten. Bei mit wurde das auch und oft gemacht. Aber nicht in Dinslaken, sondern in Hamborn.
Überhaupt sind viele giftige Substanzen früher einfach noch nicht giftig gewesen.
In Frankreich soll das sogar alles noch schlimmer gewesen sein, wie mir vor sehr langer Zeit mal ein Chemiker erzählt hat. Er will bei einem Unfall, bei dem Benzol verschüttet wurde, gesehen haben, wie ein Arbeiter das mit brennender Kippe im Mund weggewischt hat. Ist nix passiert.
Und wenn was passiert ist, mal ehrlich: Hat es uns geschadet?
Aber Energie haben sie schon verschwendet, damals. Dampfgetriebener Vibrator, da kann ich nur den Kopf schütteln.
Mußte ich mal sagen.

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