Der Geiger Eugene Drucker hat einen beeindruckenden Roman über Schuld und die Liebe zur Musik geschrieben.
Eugene Drucker hat im Laufe seiner Karriere als Musiker eine Vielzahl von Erfolgen gefeiert. Auf der ganzen Welt wird er für seine Kunst geschätzt und hat mit dem von ihm gegründeten »Emerson String Quartet« mittlerweile neun Grammy-Awards gewonnen. Doch von Hochmut keine Spur: Vielmehr legt der 1952 in New York geborene Musiker großen Wert auf die Feststellung, dass er zu jenen Künstlern gehört, die ein Leben lang mit sich und ihrer Kunst kämpfen, um die in ihnen angelegten Möglichkeiten gänzlich auszuschöpfen.
Wo Anderen ihr Talent regelrecht zuzufliegen scheint, hat Drucker jeden seiner Erfolge durch konsequente Arbeit erzwingen müssen. Sein Debütroman aber ist dann doch ein extremer Fall von künstlerischer Hartnäckigkeit. Mehr als dreieinhalb Jahrzehnte hat er an der „Wintersonate“ gearbeitet und alles in allem elf verschiedene Versionen verfasst.
Dass es sich zuweilen also lohnen kann, ein Ziel mit, nun ja, großer Beharrlichkeit zu verfolgen, dafür ist Druckers Roman der beste Beweis. Denn ihm ist ein herausragendes Werk gelungen, das in seiner Eindringlichkeit an Klassiker der Holocaust-Literatur wie Jurek Beckers „Jakob der Lügner“ oder Louis Begleys „Lügen in Zeiten des Krieges“ heranreicht. Drucker verknüpft gekonnt die fiktive Geschichte des jungen deutschen Geigers Burkhard Keller mit Teilen der Biografie seines Vaters. Dieser war Konzertmeister im Orchester des Jüdischen Kulturbunds in Frankfurt und Berlin, bis er 1938 in die USA emigrierte. Und auch im Roman kann Kellers jüdischer Freund Ernst gerade noch rechtzeitig nach England fliehen.
Keller selbst erhält in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs von einem Offizier den Auftrag, vor verwundeten Soldaten zu spielen. Der Kriegsdienstuntaugliche soll ihnen »Würde und den letzten Tagen ihres Lebens irgendwie einen Sinn verleihen«. Doch statt der von ihm geliebten Bach-Kantaten fordert sein Publikum primitive Kampflieder. All das ist dem sensiblen Schöngeist eine Qual.
Er sieht sich selbst nicht als Nazi, denkt oft an Alina, eine Jüdin, die er einmal geliebt hat. Doch als Mitläufer, der er ist, zieht er sich in die innere Immigration zurück und tut ansonsten, wie ihm geheißen. Als er wenig später in ein Vernichtungslager gebracht wird und sich bei dessen skrupellosen Kommandanten vorstellt, wird er Teil eines perfiden Experiments: Er soll den zu Tode verurteilten Lagerinsassen ihren verloren gegangenen Lebensmut durch sein Geigenspiel zurückbringen, bevor sie ermordet werden.
Dem Autor ist daran gelegen, die Psychologie des Mitläufertums zu sezieren. Die Figur des Burkhard Keller mordet zwar nicht, aus Furcht vor dem Tod unterlässt er aber auch jegliche Hilfe, wenn im Vernichtungslager Menschen kaltblütig erschossen werden. Der erzählerische Rahmen kreist also um jene Frage, die sich immer dann stellt, wenn der Staat die Freiheit des Einzelnen zerstört: Ist man bereit, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, um sich nicht schuldig zu machen?
»Es geht mir in meinem Buch um die Menschen, die keine Nazis waren, sich aber dennoch nie gegen das System aufgelehnt haben«, sagt Eugene Drucker bei der Buchvorstellung im Berliner Ensemble. »Der große Block zwischen Tätern und Widerstandskämpfern – das ist mein Thema.«
Er habe sich auch gegenüber seinem verstorbenen Vater, der ihm stets begeistert von seiner Heimatstadt Köln berichtete, zum Schreiben der Wintersonate verpflichtet gefühlt. Dieser hat sich Zeit seines Lebens die Frage gestellt, warum er Deutschland verlassen musste. »Mein Buch gibt keine Antworten, die gibt es auch gar nicht«, sagt Drucker. »Aber es stellt Fragen, auf die wir bis heute keine Antwort haben: Wie konnte ein kultiviertes Volk, das so einzigartige Künstler wie Bach, Mozart und Beethoven hervorgebracht hat, so unfassbar viel Schuld auf sich laden?«
Eugene Drucker: Wintersonate. Osburg Verlag, Berlin 2010, 272 S., 19,95 €