Der Westen hat die Lektion, die ihm durch die Charlie-Hebdo-Morde erteilt wurde, gelernt

Titel der ersten Ausgabe von Charlie Hebdo nach den islamistischem Anschlag

Zehn Jahre nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo hat die Rücksicht  auf den Islam in Europa zugenommen.

Christen und Juden regten sich jahrzehntelang über die Karikaturen in dem französischen Magazin Charlie Hebdo auf. Ihr Gott wurde verspottet, die Verfehlungen von Priestern und Rabbinern hämisch und durch bitterböse Zeichnungen bloßgestellt. Nein, fromme Christen und Juden mochten Charlie Hebdo nicht. Das Blatt widerte sie an. Und trotzdem kam weder ein Christ noch ein Jude in all den Jahrzehnten auf die Idee, die Zeichner und Redakteure von Charlie zu ermorden oder ihre Redaktionsräume in Brand zu setzen. Das war nur der Fall bei den Anhängern der dritten Religion, die von Charlie ebenso behandelt wurde wie das Christentum und das Judentum. Vor Mullahs und Mohammed hatten die Charlies ebenso wenig Respekt wie vor Rabbis, Moses, Priestern und Jesus. Laizismus und Antiklerikalismus gehörten zu den Markenzeichen des linken Magazins. Zwölf Redakteure und Zeichner wurden dafür am 7. Januar von Anhängern des Islamischen Staates brutal ermordet.

Zu den großen Erfolgsgeschichten des Westens gehörte die Zurückdrängung der Religion. Die Zeiten, in denen Kirche und Staat eng verflochten waren, liegen zum Teil Jahrhunderte zurück. Wie auch in Japan, China oder Korea spielte Religion in Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien keine große Rolle mehr, und auch in den USA nimmt die Zahl derjenigen, die Kirchen meiden, zu.

Der Laizismus war eine der Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufschwung, weil er dazu führte, dass immer mehr den Blick auf die Gegenwart und nicht auf das Jenseits richteten. Er war die Grundlage für den Aufbau des modernen Rechtsstaats und der Demokratie, weil nicht mehr antike oder spätantike Schriften wie die Bibel oder der Koran das Leben der Menschen regelten, sondern in Parlamenten beschlossene Gesetze und diese von Juristen, nicht mehr von Männern mit Bärten und merkwürdigen Kopfbedeckungen, ausgelegt wurden.

Wenn der FC St. Pauli heute in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Punk-Band Bad Religion T-Shirts auf den Markt bringt, auf denen das Logo der Band, eine Art Verkehrszeichen mit durchgestrichenem Kreuz, zu sehen ist, sorgt das für Aufregung. Christen fühlen sich verletzt und protestieren. Aber Angst um sein Leben muss bei dem Fußballverein niemand haben. Im Gegenteil: Die Debatte ist kostenlose Werbung und wird den Verkauf der T-Shirts ankurbeln.

Außerhalb des Westens und Teilen Asiens wäre der Verkauf eines T-Shirts mit einem antireligiösen Motiv lebensgefährlich. Im Rahmen des World Values Survey werden seit über 40 Jahren Menschen nach ihren Einstellungen zu Themen wie Gleichberechtigung der Frau, Kindererziehung, Arbeit und auch Religion gefragt: Religion spielt im westlichen wie im „konfuzianischen“ Kulturkreis kaum eine Rolle.

Das ist nicht überall so: In Afrika, Lateinamerika, Indien und der arabischen Welt spielen Religionen und Traditionen eine große Rolle. In Deutschland glauben 55,7 Prozent an einen Gott. So gläubig sind Niederländer (28,6 %), Chinesen (11,5 %) und Ukrainer (41,9 %) nicht. In der Türkei (91,8 %), dem Libanon (85,3 %), Nigeria (83,2 %), Kenia (83,0 %) und Pakistan (89,3 %) sieht das schon ganz anders aus. Und den Gläubigkeitsweltrekord hält mit 98,8 % Bangladesch.

Religion ist ein Gewalttreiber: Hindus greifen in Indien Muslime und Sikhs an, und Christen verüben Anschläge auf Abtreibungskliniken in den USA und verfolgen Homosexuelle und angebliche Hexen in Afrika. Aber keine Religion hat zurzeit so viele radikale und gewaltbereite Anhänger wie der Islam. Und wegen ihres wachsenden Anteils an der Bevölkerung tragen sie dazu bei, dass Europa wieder religiöser wird und mehr Rücksicht auf Religion genommen wird.

Nach den Morden an den Redakteuren und Zeichnern von Charlie Hebdo gingen Hunderttausende weltweit auf die Straße, um für die Pressefreiheit zu demonstrieren. Selbst der Iran und die Hamas distanzierten sich von den Tätern, was wohl eher daran lag, dass der Iran und seine Proxys auch im Visier des Islamischen Staates waren.

Aber der Westen hat die Lektionen, die ihm durch die Morde von Paris und viele andere Anschläge von Islamisten erteilt wurden, gelernt. Spott über den Islam wird vermieden, zu gefährlich sind Witze über Mohammed. Und seit Kritik am Islam als Islamophobie diskreditiert wurde und für viele eine Form von Rassismus ist, nahm die Vorsicht weiter zu. Beim 1. FC St. Pauli kämen sie nie auf die Idee ein Motiv auf ihre T-Shirts zu drucken, das die Gefühle von Muslimen verletzen könnte.

Im Umfeld der berühmt-berüchtigten „Studies“ werden islamische Kleidervorschriften für Frauen als Form des „Empowerments“ und Symbol des Kampfes gegen den verhassten säkularen Westen gesehen. Schon Judith Butler wusste das islamische Textilgefängnis umzudeuten: „Die Burka symbolisiert, dass eine Frau bescheiden ist und ihrer Familie verbunden; aber auch, dass sie nicht von der Massenkultur ausgebeutet wird und stolz auf ihre Familie und Gemeinschaft ist.“

Auf antisemitischen Demonstrationen nach dem 7. Oktober weltweit rufen auch Linke, die sonst die Silhouette einer Moschee nicht von der einer Mokkakanne unterscheiden können, berauscht „Allahu akbar“ und auf einer Demonstration der DKP-Teenies der SDAJ entschuldigte man sich dafür, dass diese während des Ramadans am späten Nachmittag begann, versicherte den Muslimen aber, auf dem Marschweg gäbe es zahlreiche Frittenbuden, um den frommen Hunger zu stillen.

Begeistert laufen viele, die eine Kirche nur besuchen würden, um Kerzen zu klauen, Transparenten hinterher, auf denen die auf den Trümmern des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem erbaute al-Aqsa-Moschee zu sehen ist. Der Islam hat ja irgendwas mit dem globalen Süden zu tun und ist damit natürlich ein viel heißerer Scheiß als Aufklärung, Demokratie und all diese von weißen Kolonialisten erfundenen Menschenrechte.

Islamogauchisme, das Bündnis zwischen autoritären Linken und dem Islamismus, ist in Frankreich erfolgreich, und eine der Säulen des Erfolgs von Jean-Luc Mélenchons Partei La France Insoumise beruht darauf. Mélenchon erreichte bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich mit 21,7 % der Stimmen den dritten Platz hinter Emmanuel Macron und Marine Le Pen.

Auch in Deutschland sind die Stimmen der frommen Muslime begehrt. Politiker von SPD und CDU besuchen gerne Moscheen der Erdogan treu ergebenen DITIB und mühen sich zum Teil sogar um gute Kontakte zu den rechtsradikalen und islamistischen Grauen Wölfen. Die Berliner Linkspartei war strikt gegen das Neutralitätsgesetz des Landes, das unter anderem Lehrerinnen untersagte, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen.

AfD-Politiker besuchten vor zwei Jahren die iranische Botschaft. Der Chef der Thüringer AfD, Björn Höcke, will zwar nicht, dass der Islam sich in Deutschland ausbreitet, hat aber mit seiner autoritären Gedankenwelt kein Problem. In dem Interviewband „Nie zweimal in denselben Fluss“ fordert er von der deutschen Außenpolitik: „Erstens der Ausstieg aus der internationalen »Anti-Islam-Koalition« und die konstruktive Zusammenarbeit mit muslimischen Ländern.“

Auch andere Rechte haben mit dem Islam an sich kein Problem. In der Sezession schwärmt Erik Lehnert davon, dass die islamischen Gesellschaften ebenso wie die Russlands und Chinas, anders als die des Westens, heroische Gesellschaften seien. In der Feindschaft zum Westen sind sich alle einig.

Das Nachsehen haben Migranten aus muslimisch geprägten Ländern, die in den Westen gekommen sind, weil sie mit den islamischen Gesellschaften gebrochen haben und ein Leben wollen, das nicht von Religion geprägt ist. Frauen werden unter Druck gesetzt, sich an islamische Kleidervorschriften zu halten, Islamkritikerinnen wie Mina Ahadi, die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, erhalten Morddrohungen, und immer mehr Kinder werden gedrängt, während des Ramadans zu fasten, auch wenn das keine traditionelle Regel im Islam ist.

Wer der Ansicht ist, es wäre für Kinder besser, wenn sie statt Religionsunterricht ein paar Stunden mehr Geschichte, Informatik oder Mathematik in der Schule hätten, und dass Religionen durch die Aufklärung domestiziert werden müssen, um Teil moderner Gesellschaften sein zu können, hat in Europa immer weniger Freunde. Aber wer braucht schon Freunde?

Der Text erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World.

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