Der Westen ist nicht normal

Anti-Israel-Demo in Bochum am 18. Oktober (Foto: Roland W. Waniek)


Erst nach den Beifallskundgebungen für die Massenmorde der Hamas gelangte das Thema „misslungene Integration“ in den Fokus der Politik. Jetzt wird nach Ursachen gesucht. Ist der Gewaltkult eine Reaktion auf Ausgrenzung und Rassismus? Liegt es am Islam? An der Macho-Kultur? Und warum grenzt sich die große Mehrheit der Muslime nicht entschieden ab? Erklärungen für Letzteres liefert der kanadischer Anthropologe Joseph Henrich… Von unserem Gastautor Michael Miersch.

Nach dem 7. Oktober und den Hamas-Jubelfeiern auf europäischen Straßen endeten viele meiner Gespräche mit Freundinnen und Freunden mit einer offenen Frage: Wie kann man an Menschen herankommen, die zu Massenmord, Folter und Vergewaltigung applaudieren? Wie könnte man sie einnehmen für Humanität, Freiheit, Toleranz? Wie verhindern, dass die Milieus, in denen Demokratiefeindlichkeit, Verachtung der Gesetze und Antisemitismus normal sind, immer weiterwachsen? In den Schulen solle das geschehen, sagen viele. Man muss in die arabisch-türkischen Kieze gehen und versuchen, mit jungen Leuten zu reden, meinten einige. Ethnische Quoten für Wohnviertel schlug einer vor, damit nicht noch mehr Monokulturen entstehen. Konsens war: Wir brauchen mehr Durchmischung. 

All das ist sicherlich richtig. Aber sicher auch schwer zu verwirklichen. Ziemlich viel steht dem entgegen: Ein rigider islamischer Glaube, eine frauenverachtende Macho-Kultur und bestimmt auch frustrierende Alltagserfahrungen mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Ob man an fanatische Antisemiten und Gewalt-Bewunderer überhaupt herankommt, ist äußerst fraglich. Von Ausstiegsprogrammen, wie es sie für Neonazis gibt, war bisher wenig zu hören. Geschweige denn von Erfolgen auf diesem Gebiet.

Wie kommt es aber, dass es unter den circa 5,5 Millionen Muslimen in Deutschland so wenige Initiativen gibt, die sich den extremistischen Rändern ihrer Kultur entgegenstellen? Heldenhafte Einzelne, die das tun, sind seit Jahrzehnten bekannt, werden immer wieder von Journalisten interviewt und von Politikern zu Tagungen eigeladen. Diese Menschen brauchen Polizeischutz, was von der Öffentlichkeit schulterzuckend hingenommen wird. Eine muslimische Massenbewegung, die den Terrorsympathisanten Paroli bietet, ist nicht in Sicht. 

Warum ist das so? Warum – so darf man vermuten – werden Glaubensbrüder, mit denen man nichts zu tun hat und deren Fanatismus man ablehnt, dennoch als „welche von uns“ betrachtet? Echte Integration sähe anders aus. 

Der kanadische Anthropologe Joseph Henrich stellt die Frage andersherum. Wie kommen die Europäer und ihre Abkömmlinge in Amerika und Australien eigentlich auf die Idee, dass ihre Kultur besonders attraktiv sei und jede und jeden zur Teilnahme verlockt? Er wirbt um Verständnis dafür, dass vielen Menschen aus anderen Kulturkreisen die westlichen Vorstellungen von Moral, Ehre und Gewissen seltsam unverständlich und unattraktiv erscheinen. In seinem Buch „Die seltsamsten Menschen der Welt“, das 2022 auf Deutsch erschienen ist, erklärt er warum. Die Seltsamen, das sind laut Henrich die Europäer. Normal im Sinne der Mehrheit der Weltbevölkerung sind die anderen. Normal ist, sich als Teil einer Sippe zu fühlen, dieser zu gehorchen und Nicht-Verwandten zu misstrauen. Normal ist, es nicht sonderlich schlimm zu finden, Fremden Schaden zuzufügen, aber unerträglich vor den eigenen Leuten das Gesicht zu verlieren. Normal ist, dass nicht die eigene Leistung den Menschen ausmacht, sondern der Status seiner Verwandtschaft. Normal ist das „Wir“ der Blutsbande, nicht das „Ich“ eines individualistischen Menschenbildes. 

Eine Ausnahme von dieser weltweiten Normalität entwickelte sich vor ein paar Hundert Jahren auf dem Zipfel Asiens, der Europa genannt wird. Zu den unnormalen sozialen Phänomenen, die dort aufkamen, gehören Individualismus, allgemeingültige Rechte und freiwillige Zusammenschlüsse mit Nicht-Verwandten. Was in der deutschen Ausgabe als „seltsam“ bezeichnet wird, heißt in der englischen „weird“ – gleichzeitig ein Akronym für western, educated, industrialized, rich, democratic. 

Daran, dass es auf diesem kleinen Fleck der Erde so kam, sind laut Henrich die Kirchen schuld. Ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. übten Papst und Priesterschaft immer mehr Druck aus, um die alten Stammes- und Clanstrukturen zu schwächen, damit alle Menschen fromme Schäfchen der Kirche würden. Es war ein langer Kampf um Loyalität, der die kulturellen Grundlagen schuf, dass Jahrhunderte später viele (längst nicht alle) Menschen im Westen sich staatlichen Gesetzen stärker verpflichtet fühlten als ihrem kriminellen Cousin, der gerade Geld brauchte. 

Es begann mit dem Verbot der Verwandtenehe und führte über viele weitere Schritte unter anderem dazu, dass die Söhne nicht mehr automatisch beim Vater in die Lehre gingen, sondern bei fremden Lehrherren, die zuweilen nicht einmal im selben Ort wohnten. Noch viel später kam der Protestantismus, der eine direkte Beziehung zwischen Gott und dem Einzelnen postulierte. So ging es weiter bis zur Aufklärung und deren Folgen. Um es kurz zu machen, diese exzeptionelle Entwicklung führte, so Henrich, zu einigen psychologischen Dispositionen, die westliche Menschen heute fälschlicherweise für normal halten. Es gehören dazu unter vielen anderem:

 

  • Geringe Ehrfurcht vor Traditionen und Älteren
  • Geduld, Selbstbeherrschung, Selbstregulierung 
  • Selbstbezogenheit, Selbstwertgefühl
  • Schuldgefühl vor dem eigenen Gewissen, statt Scham vor der Sippe
  • Unpersönliche Prosozialität
  • Fairness in der Zusammenarbeit mit Fremden
  • Vertrauen in unpersönliche Institutionen
  • Moralischer Universalismus

Normal ist das nicht. Und bei weitem auch nicht in allen westlichen Menschen verwurzelt. Bei manchen Adligen zum Beispiel spielt Verwandtschaft bis heute eine stärkere Rolle als moralische Normen. Henrichs durch viel Empirie belegte Theorie zeigt keinesfalls starren „Rassemerkmale“ westlich geprägter Menschen, sondern lediglich eine historische Tendenz, die sich nach und nach dem Denken und Gefühlsleben einprägte – mal mehr und mal weniger.  Sein anthropologisches Erklärmodell könnte jedoch helfen, das Dilemma besser zu verstehen, in dem wir stecken. Warum das ethnisch-kulturelle Wirgefühl bei vielen friedliebenden und gesetzestreuen Muslimen trotz allem so stark ist. Westler überschätzen die Anziehungskraft ihres Wertekanons. 

Jeder weiß, dieser Wertekanon schützte nicht vor schrecklichen Rückfällen in die Barbarei. Die Kulturelle Prägung durch Christentum und Aufklärung hat die europäischen Völkermorde, Angriffskriege und kolonialen Eroberungen des 19. Und 20. Jahrhunderts nicht verhindert. Die Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, hatten mit ethnischen Bindungen meist nichts zu tun. Ideologie rechtfertigte das erbarmungslose Wirgefühl, welches mit bestem Gewissen den Tod der „Anderen“ rechtfertigte. Es gibt also nicht den geringsten Grund für Europäer, sich für etwas Besseres zu halten. Das Böse benötigt keine Stammesloyalität, ihm genügt auch ein „Wir-gegen-die-Anderen“, das von Theoretikern konstruiert wurde. Dennoch ist Henrichs Blick auf die Macht der familiären und ethnischen Bande hilfreich, um die auffallende Passivität der muslimischen Mehrheit zu verstehen.  

Bei den Staatsverbrechen westlicher Nationen gab es immer auch die anderen, die das Unrecht anprangerten und dagegen aufstanden. Meistens waren es nur wenige. Aber manchmal zogen solche Minderheiten die Mehrheit auf ihre Seite. Das Ende des Vietnamkriegs war so ein Moment. Diese Fähigkeit zur Kritik an den „eigenen“ Leuten, ist vielleicht das Wertvollste, was der Weste je hervorgebracht hat. Sie entspringt keinem europäisches Gen, sondern kann von jeder und jedem erlernt werden. 

Was könnte man tun, um das Gefängnis des Sippengeistes zu öffnen? Zunächst einmal damit aufhören so zu tun, als seien alle kulturellen Traditionen gleichwertig. Ein pseudotolerantes Nebeneinander von universellen Menschenrechten und Scharia ist nichts weiter als der Sieg – oder zumindest ein Territorialgewinn – der Scharia. Eine Hoffnung bestünde darin, schon den kleinen Kindern offensiv, selbstbewusst und durch gutes Beispiel zu zeigen, dass Freiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltfreiheit, Lachen und Lebensfreude viel besser sind als Unterwerfung unter patriarchale Autoritäten. Das bedeutet allerding – jetzt müsst ihr ganz tapfer sein liebe Konservative – von dem Dogma abzurücken, dass die Familie stets das Beste sei für ein Kind. Kindern ein Fenster zu Freiheit und Humanismus zu öffnen, kann auch bedeuten, sie von ihrer Familie zu entfremden. Dazu muss man bereit sein. Integration bedeutet nicht Toleranz für die Intoleranten, sondern das Gegenteil. In Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ kommt die geistige Freiheit durch das Lachen in die düstere Klosterwelt. Man sollte alle Kinder ermutigen, über „starke Männer“ und bigotte Autoritäten zu lachen. 

Joseph Henrich
Die seltsamsten Menschen der Welt
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
918 Seiten

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Aimee
Aimee
1 Jahr zuvor

„…Die Seltsamen, das sind laut Henrich die Europäer….“

Was mir fehlt, ist anzuerkennen, dass u.a. bei den Beifallskundgebungen auch Menschen waren, die in der 3 bzw. 4 Generation in Europa leben, also europäische Muslime bzw. Deutsche muslimischen Glaubens.
Henrichs Kulturfrage bezieht sich auf europäische Christen, damit würde ich als deutsche Jüdin also zu dieser Gruppe nicht zählen wie übrigens alle Juden.
Ich kenne Drusen aus Syrien, die erst seit 2015 hier sind und eben die „europäischen Werte“ verinnerlicht haben, genau dies war auch einer der Gründe in Syrien zu ersticken.

„…Sie entspringt keinem europäisches Gen, sondern kann von jeder und jedem erlernt werden….“,
…nur einer der Gründe, warum dies offensichtlich nicht funktioniert, ist u.a. die Toleranz gegenüber islamischen Verbänden, die eben Integration, Toleranz, Freiheit, etc. verhindern. Doch die bekommen Jahr für Jahr von der Politik Welpenschutz!

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