Der Zauber der 2. und 6. Klasse

(Foto: Sebastian Bartoschek)

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Erich Fried hat das geschrieben. Oder auch nicht. Sicherlich kann man im Internet viel dazu finden, und Quellen sind eine wichtige Sache. Nur hier geht es um etwas anderes. Es geht darum, was diesem Satz auch innewohnt, nämlich, dass der Zauber mitunter zu verfliegen droht, wenn es nicht mehr der Anfang ist. Dagegen schreibe ich hier an. Mit Blick auf meine beiden wunderbaren Söhne, und vielleicht ist das ja auch was, für andere Eltern. Oder andere Menschen mit Gefühlen.

2. und 6. Klasse. Jasper auf der Grundschule, Linus auf dem Gymnasium. Keine Schultüten, keine Familienfeier, keine Gottesdienste. Aufstehen, Frühstücken, Fertigmachen, Tornisternehmen, Los. Das Alltägliche leben. Den nächsten Schritt gehen. Wir Erwachsene halten das für normal, für farblos. Nach dem Urlaub wieder am Schreibtisch sitzen, und den Kollegen vom Urlaub erzählen. Normal. Und auch für euch ist es irgendwie normal, in die nächste Klasse zu gehen, und doch auch nicht. Es ist emotionaler, und mit mehr Unsicherheit, und mit mehr Freude belegt. Und für mich als Papa mit viel Stolz, Freude – und Wehmut.

Ihr freut euch auf eure Freunde. Du, Linus, freust dich auf neue Fächer, auf Politik, Geschichte und Chemie. Nach der ersten Woche sagst du mir dann, dass eine gute Freundin und du zu der Erkenntnis gekommen seid, dass Politik als Fach eigentlich cool ist, aber die Lehrer halt manchmal das Problem sind. Ich weiss gar nicht, wieviel Weisheit in diesen Wörtern steckt. Ja, Politik ist hoch spannend, aber die Vermittlung… Ich finde, das kann man auch über Chemie sagen, meine Chemielehrer waren eine Vollkatastrophe, aber das sage ich nicht, weil ich weiss, wieviel Gewicht mein Wort bei dir hat. Du übernimmst es. Manchmal machst du dich zwar über mich lustig. Zum Beispiel als wir jetzt am Wochenende auf der GamesCom waren. Ich. hasse. es. im. Stau. zu. stehen. Und ja, irgendwann habe ich genörgelt, geflucht, und einfach nur noch „Ich will, dass wir jetzt da sind,“ wiederholt. Immer und immer wieder. Und du fragtest mich, wie ich dann als Kind gewesen bin, als ich mit meiner Mutter nach Polen gefahren bin. „Schlimm,“ sagte ich sofort. Abends hast du dann deiner Mama stolz und immer so laut, dass ich es hören musste erklärt, dass du dich wie der Erwachsene gefühlt hast, und ich mich wie ein Kleinkind verhalten habe. Du hast gelacht, und ich habe in diesem Lachen und in deiner Betonung deinen Stolz gehört.

Auf der GamesCom selbst habe ich mich von dir verzaubern lassen, und du hast auch für mich die GamesCom verzaubert. Das machen Kinder. Sie verzaubern die Welt, bestreuen sie mit anarchischem Feenstaub. Jeder Stand wurde ein Abenteuer, jede Fotomöglichkeit eine neue Welt. Monster, Assassinen, Cosplayer, Nerds in 80er-Jahre-EMP-Shirt-in-pseudolustig. Mit dir war alles ein Erlebnis. Deine Augen waren so groß wie lange nicht mehr, dein Lächeln, dein Lachen. Ich hätte eigentlich nur dich anschauen können. Manchmal schaue ich dich dann auch zu lange an, und du fragst „Was ist?“ und meist sage ich dann „Nix“, manchmal aber auch „Ach, ich lieb dich einfach.“ Man kann seinem Kind nicht zu oft sagen, dass man es liebt. Oder ihm zu oft vorlesen. Oder zuviel Zuhören. Ausser wenn einem dann der Kopf zu platzen droht.

Du bist so groß. Denke ich immer, und wenn ich Fotos sehe, die 4 bis 6 Jahre alt sind, denke ich mir das noch mehr. Und diese Fotos laufen bei mir als Bildschirmhintergrund durch. Als Erinnerung, aber auch als Mahnung, wie schnell eben die Momente vorbei sind. 11 Jahre, oder wie ich sagte: „Hier auf der Messe bist du 12, wenn einer fragt. Aber sobald wir raus sind, bist du wieder 11.“ Verantwortungsvoller Umgang mit der USK, kann ich. Das Schöne: du sagst selbst, dass dir die USB 16- Dinge mitunter schon zu gruselig aussehen, und, von allen Fotos, die wir da mit irgendwelchen Dingen, Personen und Monstern gemacht haben, hast du immer wieder das Foto gefeiert, auf dem du mit einem Dino bist, so einem aus dem Kinderprogramm, kein böser Dino. Wenn ich dich dann auf Fotos sehe, sehe ich erst, wie klein du doch noch bist. Gerade wenn du dann sagst: „Ich bin schon so grooooß wie du, Papa.“ Ja, äh, ich bin auch nicht gerade ein Riese. Körperlich.

Du, Jasper, bist noch deutlich kleiner als ich. Und wir kuscheln so unfassbar viel. Wir haben da einiges nachzuholen, ich habe einiges nachzuholen. Aber du auch. Vielleicht ist es auch kein Nachholen. Egal. In jedem Fall genießen wir es beide. Als ich ein paar Tage dienstlich in Frankfurt – das deutsche Frankfurt – war, hast du mich bei meiner Rückkehr gar nicht los gelassen. Ich merke, dass ich im Moment nicht mehr so gerne einfach wegfahre, und woanders übernachten. Ich bin lieber bei dir, bei euch. Ich glaube, dass ist gut so. Man sollte gerne bei seiner Familie sein. Ich bin es.

Du bist der Anarchist hier in der Familie. Nicht die nihilistisch-depressive Variante, mit so einer französischen Mütze, und einer Zigarette. Sondern mit Holzschwert, im Zweifel nackt, oder mit einem Jacket, das ich dir unbedingt kaufen sollte, damit du auch eines hast, so wie ich, mit irgendwas, was laute Geräusche macht und einem unbändigen Lachen. Manchmal auch mit Schreien. Gerade wenn du zu lange auf deinen Bruder triffst. Obwohl, manchmal spielt ihr beide auch einfach schön miteinander, stundenlang, am besten, wenn ich eigentlich ins Bett müsstet. Wenn wir Serien gucken, dann kuschelst du dich an mich, und im Polenurlaub wolltest du immer neben mir sitzen, und mit mir in einem Zimmer schlafen. Ich liebe auch dich so sehr. Das habe ich immer. Auch als wir mehr Streit hatten, und das habe ich dir dann auch immer gesagt, dass ich wirklich nicht gut finde, was du da gerade getan hast, aber das nichts daran ändert, dass ich dich liebe.

Wir streiten uns weniger, und du erzählst mir jetzt viel mehr. Keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Ich habe viele Ideen, aber auf jeden Fall ist es jetzt so, und ich genieße es jeden Tag. Jeden Moment. Egal, wie kitschig es klingt.

Du bist jetzt in der zweiten Klasse. Und du machtest dir Sorgen: „Mama, ich weiss gar nicht, wie das jetzt ist, wenn wir in der zweiten Klasse sind. Ich weiss gar nicht, ob ich den Raum finde. Soll ich dann zuerst zum Raum der ersten Klasse gehen?“ Die zweite Klasse ist eine neue Klasse, den alten Raum zu nutzen passte da für dich nicht. Eigentlich eine logische Überlegung. Logik ist wirklich deins, und alles, was Wissen ist, saugst du in dich auf, und manchmal sprudelt es dann doch nihilistisch, aber freudig, heraus: „Wusstest du, Papa, dass wir jetzt wieder in einem Massensterben sind, und ganz viele Tiere sterben, und viele sagen, dass vielleicht auch alle Menschen aussterben werden, wegen des Klimawandels.“ Es war 7.30 Uhr, ich lag am Wochenende noch im Bett, und fragte mich halb noch dösend, wie ich das pädagogisch auffangen kann: „Ja.“ Ein guter Einstieg. „Aber, äh, vielleicht kann man da ja noch was dagegen machen, also wir so, wenn wir irgendwas anders machen. Hast du eine Idee?“ Selbstentdeckender Umweltschutz – so mein Ansatz. „Nein, da kann man nichts machen. Das wird so passieren.“ Du grinst, nimmst eine Lego-Figur und gehst gut gelaunt aus dem Zimmer. Fatalismus kann auch gut gelaunt sein.

Manchmal bist du aber auch schüchtern. Du hast mir das mal erklärt, dass alle immer glauben, dass du nicht schüchtern bist, aber eben doch schüchtern bist, wenn du jemand Neues triffst. Beim Arzt zum Beispiel sprichst du nicht, oder wenn, dann nur Ein-Wort-Antworten, und das nur nach Blick zu mir, so dass ich immer befürchte, dass man beim Kinderarzt nun in guter Absicht das Jugendamt bei uns vorbei schickt. Ich würde es verstehen, und ich finde diesen Mechanismus auch gut, und trotzdem, äh, wünsche ich mir das nicht.

2. und 6. Klasse. Wir können tun, was wir wollen. Wir werden älter, und ihr auch. Wenn ich all die Bilder auf meinem Bildschirmhintergrund sehe, kommt mir immer wieder in den Kopf, wie oft ich „Nein“ gesagt habe, wenn ihr etwas von mir wolltet, oder „Jetzt nicht“. Ich sage das immer noch, weil das Leben nunmal so ist, wie es ist, und wir nicht in einer Hippie-Aussteiger-Kommune irgendwo in Portugal leben, die dann irgendwann einen komplett verlotterten Bauernhof in Brandenburg übernimmt, um auf einmal die Vorzüge völkischen Lebens zu entdecken. Nein, das ist nicht meins.

Aber, ich habe mir vorgenommen, bewusster „Nein“ zu sagen, und mich zu fragen, ob ich wirklich „Nein“ sagen will. Es geht so schnell, und ihr werdet nicht mehr mich fragen, ob ich etwas mit euch machen will. Dann werde ich fragen, und werde euer „Nein“ hinnehmen, und es wird mir trotzdem schwer fallen, dass ihr dann eben keine Zeit für mich habt. Ich habe Angst vor diesem Moment, so sehr ich weiss, dass er zu einem selbstbestimmten Leben dazu gehört. Das Einzige, was ich machen kann, ist jetzt öfter „Ja“ zu sagen. Ohne die Erwartung, dass ihr das später auch tut, sondern einfach, um euer Lachen und euren Spaß zu sehen – und jedes Mal wieder einen neuen Anfang voller Zauber zu erleben.

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